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»Mit Trump hätte Hunter sicherlich seinen Spaß«

Große amerikanische Autoren wie Tom Wolfe oder James Salter lobten den meisterhafter Stil und die abgründige Komik in der Prosa von Hunter S. Thompson. Mit seinem Buch über die Hells Angels und dem Roman »Angst und Schrecken in Las Vegas« wurde Thompson zur Kultfigur. In der Edition Tiamat ist eine Auswahl seiner grenzenlosen Korrespondenz mit Persönlichkeiten wie Tom Wolfe, Kurt Vonnegut und zahlreichen seiner Redakteure und Lektoren erschienen. Ein Fan-Interview mit dem begeisterten Hunter S. Thompson-Leser Marvin Kleinemeier über den engagierten Reporter und dessen Gonzo-Briefe.

Marvin, für Deine Fotografenkarriere hast Du Dich für den Künstlernamen Bob Sala entschieden, ein Fotograf aus Hunter S. Thompsons Roman »The Rum Diary«. Wann ist Dir Thompson, dieser Revolutionär des Reportagejournalismus, das erste Mal begegnet?

Zuerst sicher während der Schulzeit, als man mit einer VHS-Kassette, auf der man »Fear and Loathing in Las Vegas« und »From Dusk Till Dawn« aufgenommen hatte, einiges an Eindruck bei seinen Kumpels schinden konnte. Der autobiografische Hintergrund des Films war mir zu der Zeit noch nicht bewusst. Erst während meines Studiums habe ich mich sehr intensiv mit Hunter beschäftigt, was auch an einem sehr interessanten Professor lag, den ich damals im Bereich Amerikanische Kulturwissenschaften hatte. Er war es auch, der mir irgendwann die Gonzo-Briefe ans Herz legte.

Thompson wurde zu seiner Zeit von allen gelesen, die sich mit der rauen Wirklichkeit und dem Underground befasst haben. Kurt Vonnegut bezeichnete ihn als »das literarisch Pendant zum Kubismus«, Tom Wolfe hielt ihn für »brillant und unfassbar«, William S. Burroughs meinte, sein Schreiben sei »direkt verbunden mit dem Feuer der Hölle«. Was fasziniert Dich am meisten an Thompsons Literatur?

In erster Linie verkörperten seine Werke all das, was ich in meinem Leben nie finden würde. Die Coolness und Unmittelbarkeit seiner Figuren, die absurden Episoden. Es war so weit weg von mir und meiner bürgerlichen Herkunft, dass ich einfach darin versinken musste. Über die Jahre ist Hunter mir dann immer mehr ans Herz gewachsen. In den Briefen – gerade den frühen aus dem Band The Proud Highway (so der amerikanische Originaltitel der Ausgabe) – erkennt man auch die Zweifel und seine anfänglichen Existenzängste, die man aus den wilden Anekdoten über ihn niemals herausfiltern könnte.

In der Edition Tiamat ist vor zwei Jahren eine Auswahl der über 20.000 Gonzo-Briefe erschienen, die Thompson Zeit seines Lebens geschrieben haben soll. Bevor wir über die Briefe reden, eine grundsätzliche Frage. Was ist das überhaupt, »Gonzo-Journalismus«? In der Gebrauchsanweisung zur Lektüre der Tiamat-Auswahl heißt es, »Körper & Geist sollten mittels Drogen und Musik auf extreme Weise stimuliert werden«. Journalismus also als Rausch?

Dieser Überbegriff ist für mich so fiktiv wie sein Inhalt und wenn ich ganz ehrlich bin, gibt es niemanden, der sich »Gonzo-Journalist« nennen sollte außer Hunter selbst. »Gonzo, ist das was ich tue«, soll er mal gesagt haben. Alles was nach ihm kam und in ähnliche Richtungen geschrieben wurde, sind nur Spielarten des New Journalism. Vielleicht lässt es sich so beschreiben: Wenn der klassische Journalismus die (angestrebt) objektive Berichterstattung über ein Thema oder ein Ereignis ist, der New Journalism den Autor und seine Subjektive Perspektive involviert, dann ist Gonzo Journalismus das Extrem dieser Entwicklung: Die Berichterstattung als vollkommen subjektive Wahrnehmung bei gleichzeitiger Einflussnahme auf das Geschehen und die Glorifizierung der eigenen Perspektive. Klingt ein bisschen nach Trump, wenn ich den Satz so lese. Mit dem hätte Hunter sicherlich zur Zeit seinen Spaß. Ein Grund mehr, warum man seine Stimme vermissen sollte.

© Bob Sala | http://rum-diary.net
© Bob Sala | http://rum-diary.net

Thompson selbst soll seinen Gonzo-Stil als »professionellen Amoklauf« bezeichnet haben, was mich ein wenig an Truman Capote erinnert. »Erhörte Gebete« etwa war ein bewusster Amoklauf durch die High Society, in den in »Die Hunde bellen« versammelten Texten teilt Capote ebenfalls mächtig aus. Ist Hunter S. Thompson so etwas wie der Truman Capote des einfachen und zuweilen rauen Amerikas von unten?

Capote und Hunter zu vergleichen, darauf wäre ich nicht gekommen, um ehrlich zu sein. Capote gehört ebenfalls zu meinen liebsten Autoren. Ziehen wir vielleicht einen weiteren Vergleich heran: Capote ist eine gut platzierte und klatschende Backpfeife, die durch die Flure des Four Seasons hallt, allerdings nur Capotes eigenes Spiegelbild trifft. Hunter hingegen ist ein dumpfer Schlag in die Magengrube, der unter dem Jubel der umstehenden Besucher einer verrauchten Kneipe irgendeinen von den Beinen holt, der es mit hoher Wahrscheinlichkeit verdient hat. Hunter ist mit seinem Engagement um einiges politischer als Capote. Hunter’s »Die Hunde Bellen« ist daher vielleicht eher »Fear and Loathing at the Campaign Trail«, wo er ein paar Monate Teil des offiziellen Presseteams der Wahlkampftour des Demokraten George McGovern war.

Gemeinsam mit Tom Wolfe arbeitete Thompson in einer geradezu manischen Selbstüberzeugung daran, die Kultur seiner Zeit in eine neue Form des Journalismus überzuführen. In diesem Kontext wird immer wieder von »New Journalism« gesprochen. Was wollten die beiden erreichen?

Die klassischen Journalisten sollten endlich eingestehen, dass es so etwas wie objektive Berichterstattung nicht geben kann. Vielleicht war es ein Ruck in Richtung eines ehrlicheren Journalismus. Literarische Elemente in Reportagen zu verwenden war allerdings keine Erfindung von Wolfe oder Thompson. New Journalism war wahrscheinlich auch ein Marketing-Coup. Die jungen Wilden in den 1960er Jahren wollten sich vielleicht noch stärker absetzen von ihren Vorgängern. Hunter selbst zählte sich allerdings später nicht wirklich zu den New Journalists, sondern beanspruchte seine Sonderstellung mit der selbsterschaffenen Gonzo-Nische.

Gibt es so etwas wie Gonzo-Journalismus auch noch heute? Wenn ja, wen würdest Du dazuzählen?

Wie erwähnt, Gonzo war für mich nur Hunter. Aber es gibt viele Schreiber, die mich persönlich mit ihren Reportagen aus ähnlichen Gründen begeistern konnten in den letzten Jahren. Marc Fischer, David Foster Wallace, John Jeremiah Sullivan – da ist die Liste ziemlich lang.

© Bob Sala | http://rum-diary.net
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Als Thompson an seinem Klassiker »Fear and Loathing in Las Vegas« arbeitete, hat er Wolfe einen ersten Entwurf geschickt mit dem Kommentar, dass es ihm am liebsten wäre, man würde einfach sein Notizbuch drucken, so wie es ist. Nun bekommen wir mit dem Band »Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten« seine Briefe aus den Jahren 1958 bis 1976. Liest sich das so, wie es Thompson in seinem Kommentar an Wolfe beabsichtigt hatte? Sprechen die Briefe für sich?

Die gesammelten Briefe von Hunter sind so etwas wie meine persönliche Lebensfibel geworden. Im Grunde würden sie auch für sich sprechen, allerdings wurden sie von den amerikanischen Herausgebern mit wertvollen Kommentaren versehen, die den dicken Band zu einer kleinen Biografie machen. Die Briefe sind nicht einfach dahingetippte Nachrichten an seine Bekannten oder irgendwelche Prominente. Es sind Kurzgeschichten, kleine Reportagen, Kolumnen, Tagebucheinträge, alles was man aus ihnen herausziehen möchte. Hunter hat schon früh angefangen, seine Briefe zu sammeln und Kopien und Durchschläge von ihnen in einem extra Köfferchen zu sammeln, in dem er auch seine Clippings, Notizbücher und Manuskriptseiten mit sich herumschleppte. Er spürte, dass er irgendwann so eine bedeutende Figur werden könnte, und sammelte seine Korrespondenz schon bevor er 20 Jahre alt wurde. Dieses Bewusstsein Hunters spürt man bei vielen Briefen. Sie sind viel zu gut und mühevoll geschrieben, als dass sie nur für den Empfänger bestimmt sein könnten. Schon in seinen Anfangszeiten als Journalist in Lateinamerika hat er einige der Briefe als Serien an Magazine verkauft, die sie wie Reportagen abdruckten.

Von den geschätzten 20.000 »Gonzo-Briefen« sind etwa 150 für die Ausgabe in der Edition Tiamat ausgewählt worden. Da sind Briefe an Autoren wie William Faulkner, Allen Ginsberg oder Anthony Burgess, an Politiker wie Lyndon Johnson oder Jimmy Carter und an Kollegen und Freunde wie Bill Cardoso und eben Tom Wolfe. Das klingt nach einer wild-willkürlichen Mischung. Oder täuscht das?

Hier gerate ich ein wenig in die Bredouille. Die Auswahl, die der Verlag für die deutsche Ausgabe vorgenommen hat, erschließt sich mir nicht wirklich. Es wird auch kein Vorwort vorangestellt, das die deutsche Auswahl aus den amerikanischen Bänden erklären würde. Stattdessen wurde das lange Vorwort der amerikanischen Ausgabe abgedruckt, das den Auswahlprozess für die englischen Bände verdeutlicht. Da die englische Ausgabe jedoch auf zwei Bände verteilt wurde und in der deutschen Ausgabe gerade mal knapp 200 Briefe im Vergleich zu 800 genommen wurden, wäre eine kurze Notiz vom deutschen Verlag schon wünschenswert gewesen. Vermutlich war es eine Mischung aus möglichst markanten Hunter-Geschichten und der Prominenz des Empfängers.

Auf der anderen Seite muss ich eine riesige Lanze für den Verlag brechen. Dass überhaupt ein dicker Band mit Hunters Briefen veröffentlicht wurde, ist vermutlich einem spleenigen und unbelehrbaren Verleger zu verdanken; also genau die Kategorie Verleger, die wir für ihre vertieften Nischenkenntnisse schätzen sollten. Ich habe gleich vier Ausgaben gekauft, eine für mich und drei, um sie zu verschenken. Damit mache ich (unglücklicherweise!) wahrscheinlich 20 Prozent der deutschen Käufer aus. Der Verlag hat in den letzten Jahren einige meiner Lieblingsbücher herausgebracht, darunter auch der Schatz »Psychotische Reaktionen und heiße Luft« von Lester Bangs.

© Bob Sala | http://rum-diary.net
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Die folgende Frage kann man nicht beantworten, ich stelle sie dennoch: Kann man sagen, worum es in den Briefen im Wesentlichen geht beziehungsweise worum es Thompson beim Schreiben der Briefe ging? Ist das ständige Selbstreflektion und Selbstinszenierung oder eine kreative Art des Beschreibens der amerikanischen Gegenkultur?

Man kann das auf keinen Fall pauschalisieren. Der Mann ist im Laufe des Bandes auch einfach mal knapp zwanzig Jahre älter geworden. Es gibt die frühen Briefe, die sich eher wie ein Tagebuch lesen. Die Zeit in Lateinamerika, in der auch die ersten Entwürfe zu »The Rum Diary« entstanden sind, ist schon angefüllt mit seiner unfassbaren Energie. Man sitzt nachts mit ihm und seiner Schreibmaschine an Deck eines kleinen Frachters auf dem Magdalena River Richtung Bogotá. Über ihm Millionen von Moskitos und um in herum die spanisch sprechende Crew, die ihn beobachtet, während er seine Briefe in die Dunkelheit hämmert. Im Laufe der Zeit und mit steigender Bekanntheit werden die Briefe mehr und mehr zur Selbstinszenierung. Dabei kommt es jedoch immer auf den Empfänger an. Man durchlebt diese krasse Phase der amerikanischen Geschichte aus den Augen eines unverbesserlichen Proleten und gleichzeitig sanften Romantikers.

»Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten« heißt es auf dem Cover der Tiamat-Ausgabe. Außerhalb des Gesetzes stehend, ist das auch das Bild von Hunter S. Thompson, das in diesem Band entsteht?

Wieder so eine Floskel, um dieses Überbild von Hunter zu festigen. Aber es ist tatsächlich so, dass Hunter relativ unbekümmert Gesetze übertrat, dehnte und neu auslegte. Das wird in der amerikanischen Ausgabe aber viel deutlicher, weil sie viel mehr von den kleinen Eskapaden beinhaltet.

Braucht es für diese Sammlung Thompson-Vorerfahrung oder ist sie vielleicht sogar der perfekte Einstieg in das Werk des Erfinders der Gonzo-Kultur?

Wer nur von »Fear and Loathing« kommt und krasse Hunter-Stories erwartet, sollte lieber die Finger von dieser Auswahl lassen. Die Briefe zeigen ihn oft ohne die Fassade, die sich in der Öffentlichkeit irgendwann verselbständigt hat. Natürlich gibt es auch klassisches Raoul-Duke-Zeug, aber dafür sollte man den Band nicht kaufen.

© Bob Sala | http://rum-diary.net
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Kann die Auswahl der Gonzo-Briefe die literarische Lücke schließen, die das Fehlen der Briefe auf dem deutschen Buchmarkt in unser USA-Bild gerissen hat?

Wenn man des Englischen nicht mächtig ist, sollte man definitiv zu diesem Band greifen. Mittlerweile ist er auch in einer günstigen Taschenbuchausgabe erschienen. Die beiden englischen Bände sollte man allein schon wegen des geschichtlichen Hintergrunds im Schrank haben.

Auf dem Buchcover wird Hunter S. Thompson mit einem seiner bekanntesten Sätze zitiert. »Es war ein brutales Leben und ich habe es gelebt«, heißt es da. Viele andere geniale Sätze Thompsons sind auf den unzähligen Seiten, die er hinterlassen hat, versteckt. Welcher ist Dein persönlicher Favorit?

Da gibt es zu viele. Ich bin auch kein Zitate-Mensch. Jedoch kommt mir in letzter Zeit häufig ein Satz aus »The Rum Diary« in den Kopf: »I felt a tremendous distance between myself and everything real.«

Wer oder was ist Hunter S. Thompson für Dich?

Eine Figur in der Literaturgeschichte, die mein Leben ein bisschen interessanter gemacht hat. Und in kreativer Hinsicht hat er einen nicht geringen Anteil am Verlauf der letzten drei Jahre meines Lebens. Das Pseudonym, das ich für meine Fotografie verwende, habe ich einer Figur aus »The Rum Diary« entlehnt. Bob Sala ist im Roman eine Nebenfigur, die ich in Teilen benutzt habe, um mir ein künstlerisches Alter Ego zu erschaffen. Ein Alter Ego, das ich Dinge tun lassen konnte, die ich mich selbst vielleicht nicht getraut hätte zu tun. Und in schwierigen Zeiten, die drastische Entscheidungen erforderten, griff ich immer wieder zu »The Proud Highway«, den frühen Briefen Hunters. Sein Mut und sein unbedingter Drang, seine Kunst über alles zu stellen, beantworteten mir alle Fragen und beseitigten alle Zweifel, die ich an meinem Weg hatte.

Marvin, vielen Dank für das Gespräch.

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© Bob Sala | http://rum-diary.net

Marvin Kleinemeier ist freier Fotograf, Journalist und enthusiastischer Vielleser. Er hat mit www.wilde-leser.de eine der einflussreichsten deutschsprachigen Seiten zur Literatur des chilenischen Schriftstellers Roberto Bolaño ins Leben gerufen. Seit drei Jahren ist er unter dem Pseudonym Bob Sala als Fotograf aktiv und bloggt über seine Aktivitäten auf rum-diary.net. Dabei geht es wie hier manchmal auch um Hunter S. Thompson. Die hier abgebildeten Fotos sind einem Beitrag über diesen Roadtrip entnommen.

COV_THOMPSON_Gonzo-Briefe

Hunter S. Thompson: Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten

Aus dem Englischen von Wolfgang Farkas

Edition Tiamat 2015 | Critica Diabolis 222

607 Seiten. 28,- Euro

Hier bestellen

Die Taschenbuchausgabe ist im August 2016 bei Heyne erschienen und kostet 14,99 Euro. Bei IDW Publishing ist Hunters bekanntestes Werk als Comic erschienen.

2 Kommentare

  1. […] nachgesagt, dass er in der Tradition von Ernest Hemingway geschrieben hätte, dabei ist es eher Hunter S. Thompsons Gonzo-Journalismus, dem er nahesteht. Für die amerikanische Ausgabe des Rolling Stone begleitete er im Jahr 2000 […]

  2. […] und Turner Ross neue Dokumentation ist so nah an der Wirklichkeit wie eine Erzählung von Hunter S. Thompson. Nichts davon ist echt. Die Bar Roaring 20s hat längst nicht dicht gemacht. Sie steht auch nicht […]

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