Geschichte, Gesellschaft, Politik, Sachbuch

Die Bedeutung des Zerfalls

Es ist ein hochgelobtes Buch. Der Verfasser ein überragender Historiker. Überzeugt hat es beim ersten Lesen dennoch nicht, weil der Ton, in dem hier die Argumente vorgetragen werden, zu überschlagen scheint. Dennoch lohnt sich ein zweiter Blick auf dieses wichtige Buch. 

Timothy Snyder ist ein überragender Historiker. Seine Studien zur Ost- und mitteleuropäischen Geschichte und zum Holocaust gehören zu den viel und heißt diskutierten Werken der Geschichtsschreibung. Bloodlands oder Black Earth beschreiben und analysieren die menschenverachtenden Gräueltaten der sich wechselseitig brutalisierenden autoritären Regime in jenem geographischen Raum zwischen Ostpolen, der Ukraine, Weißrussland, dem Baltikum und Westrussland. Eines treibt ihn um: Damit Geschichte sich nicht wiederholt, müssen wir von ihr und aus ihr lernen.

Für Snyder ist die Zivilisation eine dünne Firniss, sie ist ständig bedroht. Die Wahl von Donald Trump vor einem Jahr nimmt er in ihrer Gefährdung für die Demokratie ernst. Einer wie Timothy Snyder kann nicht einfach zum Alltag übergehen und Donald Trump einen schlechten Präsidenten im Weißen Haus sein lassen. Nicht mit dem Wissen, dass die Geschichte der modernen Demokratie eine des Verfalls und des Untergangs ist. Deshalb wurde er, der sich nie zu Politiken der USA geäußert hat, zu einem intellektuellen Aktivisten.

Kurz nach der US-Präsidentschaftswahl am 8. November 2016 veröffentlichte Snyder einen Artikel, in dem er den politischen Aufstieg von Donald Trump mit dem von Adolf Hitler vergleicht. Beide nutzten neue Medien virtuos, beiden war die Emotionalisierung des Politischen wichtiger als Fakten, Werte oder Überzeugungen. In den 1930er Jahren konnten die Deutschen nicht verhindern, dass eine Gesellschaft ihre Rechte verliert. Daraus gelte es Schlüsse zu ziehen. Dass Trumps ehemaliger Chefideologe Steve Bannon genau diese Zeit als Referenz ansieht und von den »aufregenden Dreißigern« spricht, treibt den intellektuellen Angstschweiß auf Snyders Stirn.

Eines weiß er aus europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts: Gesellschaften können zerfallen, Demokratien untergehen, moralische Werte zusammenbrechen und ganz gewöhnliche Menschen plötzlich mit einer Schusswaffe in der Hand an Todesgruben stehen können. Snyders Appell: »Es wäre für uns Heutige ganz gut, wenn wir verstehen würden, warum das so war.«

Das ist der historische Rahmen, in den er die Wahl Donald Trumps bettet. Snyder reiht den US-Präsidenten ein in die Riege der Staatszerstörer, Autokraten, Diktatoren wie Lenin, Benito Mussolini und Adolf Hitler. Nie nennt er sie direkt, die Anspielungen sind aber offensichtlich. Historisch sind für ihn die Parallelen klar. Auch Faschismus und Kommunismus waren Reaktionen auf die Globalisierung: auf die tatsächlichen und vermeintlichen Ungleichheiten, die sie schuf, und auf die offenkundige Hilflosigkeit der Demokratien, etwas dagegen zu tun. Die Unfähigkeit der Demokratien, sich als gerechte Gestalter der Globalisierung zu präsentieren, ist in den letzten Jahren offenkundig geworden. Natürlich haben Hunderte von Millionen Menschen von einer vernetzten Weltwirtschaft profitiert, der Aufstieg Indiens oder Chinas zeugen davon. Etliche Menschen in den entwickelten Ökonomien Nordamerikas und West- und Mitteleuropas empfinden die Globalisierung aber als zutiefst ungerecht. Nicht ganz zu Unrecht. Wirtschaftliche Abstiege haben viele Regionen in den letzten Jahrhunderten erlebt, neu aber ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass die Steuerungsfähigkeit, das Sicherheitsversprechen des Staates, wie es die Menschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert als Normalität erlebt haben, verlorengegangen ist. Wen wundert’s, dass sich Trump als derjenige positioniert, der den Menschen verloren gegangene Jobs zurückbringen möchte und damit Würde und Sicherheit? Markige Versprechen, von denen Trump vermutlich kein einziges erfüllen wird, erfüllen kann.

Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. Aus dem Englischen von Martin Richter. Verlag C.H.Beck 2011. 523 Seiten. 29,95 Euro. Hier bestellen

Die Menschen in den USA sind heute nicht klüger als die Europäer, die im 20. Jahrhundert erleben mussten, wie die Demokratie dem Faschismus oder dem Kommunismus wich. Sie haben aber den Vorteil, dass sie aus den Erfahrung lernen können. Diese Erfahrungen sind die 20 Lektionen, die Snyder seinen Leserinnen und Lesern näherbringen möchte. Die Lektionen sind in Kurzform dem Buch als Postkarte beigelegt. Darunter finden sich die Aufforderungen, keinen vorauseilenden Gehorsam zu leisten, Institutionen zu verteidigen und sich vor einem Einparteienstaat zu hüten. Snyder fordert uns auf, Verantwortung für das Antlitz der Welt zu übernehmen oder an unsere Berufsehre zu denken. Hätten sich, so der Autor, Juristen im Dritten Reich an die Norm gehalten, dass es ohne Prozess keine Hinrichtung gibt, hätten Ärzte die Regel akzeptiert, dass ohne Zustimmung des Patienten keine Behandlung möglich ist, hätten Unternehmer das Verbot der Sklaverei beachtet, hätten sich Bürokraten geweigert, den Papierkram in Sachen Mord zu erledigen, dann hätte sich das NS-Regime viel schwerer damit getan, die Gräueltaten zu begehen, mit denen sie sich in unsere Erinnerung gebrannt haben. Um Widerstand zu leisten, genügt es manchmal, so weiterzuarbeiten wie zuvor.

Eine weitere Aufforderung: Zeichen zu setzen. Als Winston Churchill, so erzählt es Snyder, im Mai 1940 Premierminister wurde, stand Großbritannien alleine da. Die Briten waren in den Krieg eingetreten, um Polen zu unterstützen, doch diese Sache schien verloren. Sie hatten die Schlacht um Dunkerque verloren, sie verfügten über keine wichtigen europäischen Verbündeten mehr. Churchill tat, was andere nicht getan hätten. Statt vorauseilend Zugeständnisse zu machen, wie etwa sein Vorgänger Neville Chamberlain zwei Jahre zuvor mit dem Münchner Abkommen, zwang er Hitler dazu, seine Pläne zu ändern. Vielleicht ist die Aufforderung, keine vorauseilende Zugeständnisse zu machen, die wichtigste Lektion des Buches. Schade, dass sie nicht gesondert aufgeführt wird.

Noch eine: An die Wahrheit zu glauben. Während des Wahlkampfs 2016, so kam eine Studie zum Ergebnis, waren 78 Prozent der Tatsachenbehauptungen von Donald Trump falsch. Snyder schreibt, dass dieser Anteil so hoch war, dass die korrekten Aussagen wie unbeabsichtigte Versehen auf dem Weg hin zur totalen Fiktion wirkten. »Wer die Welt, so wie sie ist, kleinredet, hat schon damit begonnen, eine fiktionale Gegenwelt zu erschaffen.« Und: »Nach der Wahrheit ist vor dem Faschismus.«

Ebenso: Physische Politik zu praktizieren, d.h. sich engagieren, nicht nur im Netz, sondern auf der Straße, in Parteien. Raus aus dem eigenen Zuhause, aus dem intellektuellen Sicherheitsraum, im Diskurs und in der Diskussion mit denjenigen, die anders sind als man selbst, die nicht in allem gleicher Meinung sind, die bislang nicht unsere Freunde waren. Zu einem öffentlichen Leben gehört aber auch ein Privatleben. Nur in der Selbstbestimmung zu entscheiden, wann man gesehen werden möchte und wann nicht, ist man frei. Physische Politik und das Engagement für einen guten Zweck macht demokratische Politik plausibler und attraktiver.

Schließlich: Auf gefährliche Wörter zu achten. Der »wohl intelligenteste Nationalsozialist«, wie Snyder den Staatsrechtler Carl Schmitt bezeichnet, erklärte in glasklarer Sprache den Wesenskern faschistischen Regierens. Die Idee der »Ausnahme« war die Voraussetzung dafür, alle Regeln zu zerstören. Seine Gegner schaltet man besten dadurch aus, indem man die allgemeine Überzeugung herstellt, der gegenwärtige Moment sei eine Ausnahme. Anschließend verwandelt man den Ausnahmezustand in einen dauerhaften Notstand. Bürger tauschen dann reale Freiheit für falsche Sicherheit ein. Dies ist eine Form des Terrormanagements. Auch Putin hat so seinen Aufstieg zur Macht gemanagt, indem durch die Behauptung von realem, falschem und fragwürdigem Terrorismus er zwei wichtige Institutionen, das Privatfernsehen und die gewählten Regionalgouverneure, ausgeschaltet hat. Ja, das Leben ist gefährlich. Es bedeutet Intelligenz und Erfahrung, Terrormanagement sofort zu erkennen, und es bedeutet Mut, ihm zu widerstehen, »und zwar vom Augenblick des Anschlags an, also genau dann, wenn es am schwierigsten erscheint«. Dies führt Snyder zu seiner letzten Lektion: So mutig sein wie möglich.

Timothy Snyder: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand. Aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn. C.H. Beck 2017. 127 Seiten, 10,- Euro. Hier bestellen

Was Snyder schreibt, ist klug, durchdacht, von einem profunden Wissen über das Zeitalter der Extreme gesättigt. Der Ton allerdings ist zu hysterisch, zu alarmistisch, zu schrill. Auch ich halte Donald Trump für einen gefährlichen Mann. Einer, der eine komplexe Demokratie mit der einfachen Logik eines Unternehmens unterminiert. Eine turbokapitalistische Logik des Heuerns und Feuerns, eine Logik der Ausbeutung und des schnellen Gewinns, die in sozialdarwinistischer Manier eine Gesellschaft auseinandertreibt statt zusammenzuführen. Der die Komplexität der Welt nicht erfasst, sondern simplizistische Lösungen für reale Probleme anbietet. Nach mehr als einem Jahr muss man auch konstatieren, dass Donald Trump als US-Präsident heillos überfordert ist. Keines seiner Versprechen hat er bisher realisiert. Den relativen Abstieg der USA, der seit langem prognostiziert wurde, hat er in einen rasanten realen Abstieg forciert. Trump hat die Werte und das Wesen der Vereinigten Staaten in kürzester Zeit verspielt. Die USA geben unter Trump keine Orientierung mehr, sie schrecken ab. Menschen, Ideen, Handel. Das ist die Gefahr, die von Trump ausgeht. Das ist die wahre Tragödie.

Zum Schluss: Zwei Annahmen bestimmen, so Snyder, aktuell den Diskurs über das Politische. Zum einen die Politik der Unausweichlichkeit, die mit einer Politik der Alternativlosigkeit gleichzusetzen ist. Eine Politik, die wir auch in Deutschland in den letzten Jahren oft gehört haben. Unausweichlichkeit und Alternativlosigkeit verengen die Art und Weise, wie wir im 21. Jahrhundert über Politik denken und reden. Sie verkürzen die politische Debatte ein und erzeugen ein Parteiensystem, in dem eine politische Partei den Status quo verteidigte, während die andere zu allem nur Nein sagte. Ein System von These und Antithese, der die Synthese verloren gegangen ist. Sie wird nicht mehr gesucht, nicht einmal mehr vermisst.

Zum anderen herrscht, so Snyder, eine Politik der Ewigkeit. Sie ist getrieben von der Sehnsucht nach vergangenen Augenblicken, die nie wirklich passierten. Wann genau war das Amerika, das Trump wieder groß machen möchte? Welches Amerika ist es, das er groß machen möchte? Festzuhalten ist, dass die Politik der Unausweichlichkeit in eine Politik der Ewigkeit übergeht, »von einer naiven und mangelhaften Form von demokratischer Republik zu einer konfusen und zynischen Form von faschistischer Oligarchie«. Beide Positionen aber, so der Autor, die Unausweichlichkeit wie die Ewigkeit, sind antihistorisch. Das Einzige, das zwischen ihnen steht, ist die Geschichte selbst. Und diese Geschichte ist zu machen, eigenhändig, eigenständig. Die Tyrannei ist nicht unausweichlich!