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Die Herkunft der Angst

Afroamerikaner leben in ständiger Furcht vor staatlicher Gewalt. Eine der Mitbegründerinnen von #BlackLivesMatter erzählt nun ihre »Geschichte vom Überleben«.

Neun Jahre ist Patrisse Khan-Cullors alt, als ihre kindliche Naivität ein Ende findet. Da erlebt sie am helllichten Tag, wie ihre Brüder Paul und Monte, beide keine 14 Jahre alt, brutal von der Polizei gefilzt werden, weil sie sich in der Gasse vor ihrem Haus mit anderen Jugendlichen unterhalten. Das hat sie als Gang verdächtig gemacht. Die so genannten gang injunctions, bei denen Jugendlichen alle möglichen Aktivitäten verboten wurden, gaben der amerikanischen Polizei in den neunziger Jahren einen Persilschein, schwarze und mexikanische Kids wegen ganz normaler Verhaltensweisen festzunehmen. Als gangspezifische Vergehen wurde Schule schwänzen ebenso behandelt wie das Tragen gleicher T-Shirts.

Van Nuys, das Einwandererviertel von Los Angeles, in dem Khan-Cullors aufwächst, ist in den neunziger Jahren der »Ground Zero im Drogenkrieg und im Krieg gegen die Gangs«. Es reichte, schwarz oder mexikanischer Hautfarbe zu sein, um als gefährliches Gangmitglied abgestempelt zu werden, erinnert sich die 34-Jährige, die 2013 mit anderen Aktivistinnen die Bewegung #BlackLivesMatter (dt. schwarze Leben zählen) ins Leben gerufen hat.

Der Zusammenschluss schwarzer (und vorrangig queerer) Aktivisten bildete sich nach dem Freispruch des weißen Rassisten George Zimmermann, der im Februar 2012 den afroamerikanischen Teenager Trayvon Martin erschossen hatte. Eine der Mitbegründerinnen, Alicia Garza, adressierte die anschließende Lethargie der schwarzen Community auf Facebook: »stop saying that we are not surprised. that’s a damn shame in itself. I continue to be surprised at how little Black lives matter« Khan-Cullors kommentierte den Eintrag mit #BlackLivesMatter und die Bewegung war geboren.

In ihrer »Geschichte vom Überleben« erzählt Khan-Cullors, wie sie zur Ikone der schwarzen Community werden konnte. Das legendäre Hashtag fällt dabei erst im letzten Drittel des Buches. Denn es ist natürlich nicht ein Facebook-Eintrag, der sie dazu bringt, eine von queeren Aktivisten getragene Bewegung gegen den strukturellen Rassismus in den USA ins Leben zu rufen, sondern die von Kindesbeinen an verinnerlichte Erfahrung von Polizeigewalt, Racial Profiling und Diskriminierung. Diese beginnt mit dem Erlebnis der eigenen Ohnmacht gegenüber der Polizeigewalt, die ihre Brüder erleiden, und zieht sich bis zum jüngsten Mord am 23-jährigen Stephen Clark aus Sacramento, der vor wenigen Tagen von der Polizei mit 20 Schüssen getötet wurde, weil die Beamten davon ausgingen, er sei bewaffnet. Die vermeintliche Waffe erwies sich im Nachhinein als ein Handy.

Black lives matter
Patrisse Khan-Cullors: #BlackLivesMatter. Eine Geschichte vom Überleben. Aus dem amerikanischen Englischen von Henriette Zeltner. Kiepenheuer & Witsch 2018. 275 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen

Der Fall zeigt einmal mehr, dass selbst die abwegigste Annahme einer Bedrohung durch Afroamerikaner ausreicht, schwarzes Leben ungestraft (!) mit Füßen zu treten. Dies sei das »Echo der Sklaverei«, schreibt Literaturnobelpreisträgerin Toni Morisson in Die Herkunft der Anderen (2018). Ta-Nehisi Coates lässt in seinem gerade erschienenen Essayband We were eight years in Power diesen Weg von der Sklaverei zur »verbrechensbefleckten Schwärze des Negers« auf eindrucksvolle Weise nachvollziehen. Während er sich in seinen Artikeln auf Statistiken stützt, liefert Khan-Cullors die persönliche Geschichte dazu. Konsequenterweise trägt ihr Buch im Original den treffenderen Titel When They Call you a Terrorist (dt. Wenn sie dich Terrorist nennen). Denn genau das passiert in den USA. Schwarzen wird eine grundsätzliche Neigung zur Kriminalität unterstellt, was wiederum als Rechtfertigung herangezogen wird, mit brutaler Gewalt gegen sie vorzugehen.

Kritiker hielten der #BlackLivesMatter-Bewegung vor, dass nicht nur schwarzes, sondern jedes Leben zähle. Linke Intellektuelle wie die US-amerikanische Philosophin Judith Butler verteidigten die Bewegung. Natürlich würden alle Leben zählen, aber »wenn wir zu schnell ins allgemeine #AllLivesMatter übergehen, übersehen wir die Tatsache, dass Schwarze immer noch nicht zu dem gehören, was wir unter all lives verstehen«, erklärte Butler in der New York Times.

Khan-Cullors hat seit ihrer frühen Kindheit die Erfahrung gemacht, dass schwarzes Leben weniger zählt. Sowohl ihr leiblicher als auch ihr Stiefvater bekamen die harte Hand des Staates zu spüren. Sie saßen wiederholt im Gefängnis, oft wegen Bagatelldelikten. Am stärksten prägt sich ihr die Behandlung ihres zweitältesten Bruders Monte ein, der an einer psychischen Erkrankung leidet. Zwar kam bei seinen Anfällen nie auch nur eine Person zu Schaden, dennoch wurde er immer wieder festgenommen und zu Gefängnisstrafen verurteilt. In Haft erfährt er brutale Misshandlungen, Psychoterror, Nahrungs- und Schlafentzug durch die Vollzugsbeamten. Khan-Cullors spricht sogar von Foltermethoden, die vorsätzlich vorgenommen wurden, um dem Einzelnen »bewusst und systematisch seine Identität und Menschenwürde zu nehmen.«

Polizeigewalt und staatliche Willkür prägen das Bewusstsein der schwarzen Community in den USA. Khan-Cullors beschreibt, wie aus der gefühlten Wahrnehmung von Einzelnen eine Bewegung entstehen konnte, die sich gegen den strukturellen Rassismus in den USA wendet. Wie aus Freundschaften Netzwerke wurden. Und wie die Morde an Michael Brown, Trayvon Martin oder Eric Garner, an Sandra Bland, Tanisha Anderson, Miriam Carey oder Shelly Hilliard (#SayHerName) dazu beitrugen, dass ihre Generation das Schweigen über die Gewalt bricht, der sie täglich ausgesetzt ist. »Wir sind eine Generation, die zum Handeln aufgerufen ist«, schreibt sie am Ende in ihrem Buch. Der offen zutage tretende Rassismus unter Präsident Donald Trump macht deutlich, dass dies erst der Anfang eines langen Kampfes sein kann.

6 Kommentare

  1. […] mehr Gewalt, eine Gewaltspirale, aus der niemand herauskommt. Befürchten Sie dies, wenn Sie auf Bewegungen wie #blacklivesmatter und andere Bürgerrechtsbewegungen weltweit schauen?Ich denke, dass Gewalt in all ihren vielen […]

  2. […] Aber nicht der religiöse Puritanismus der Gründungsväter, sondern die Bevölkerungszusammensetzung macht New Bern spannend für heutige Betrachter:innen. In der Kleinstadt an der Ostküste leben etwa 55 Prozent Weiße und 35 Prozent Schwarze, auf die übrigen zehn Prozent verteilen sich Latinos und asiatischstämmige Menschen. Der Schweizer Fotograf Michael von Graffenried, ein direkter Nachfahre eines der Gründer der Stadt, hat zwischen 2006 und 2021 das Leben in der Stadt mit seiner Kamera beobachtet. Der Bildband »Our Town« zeichnet ein Bild von Amerika zwischen Irak-Krieg und Black Lives Matter. […]

  3. […] Aufmerksamkeit beschert. Da weiten sie den Blick und lenken ihn von der historische Schau zu den Black Lives Matter-Protesten, in denen sich die Polizeigewalt gegen Frauen, LGBTIQ, Schwarze, Latinos, First Nations, Arme, […]

  4. […] Liberg oder der Fotografinnen Amber Pinkerton und Nadine Ijewere, die Stereotype hinterfragen, die Wirklichkeit von Black Lives spiegeln und mit dem gewöhnlichen Blick brechen, um ein neues Sehen zu ermöglichen. Ijeweres […]

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