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»Wenn alles schwanzgemacht ist, was bin dann ich als Frau im Verhältnis zu diesem Schwanz?«

Marlene Stark und Anna Gien haben einen der ungewöhnlichsten Romane des Frühjahrs geschrieben. Im Ringen um Macht und Anerkennung setzt ihre Erzählerin »M« erst den eigenen Körper und dann die Körper ihrer Bekannten aufs Spiel, denn alle Lechzen nach Erlösung und Befriedigung. Ein Gespräch über ihren Roman »M«, den »erotisierten Zoo« der Kunstszene, die »Totalzerfickung aller stabilen Lebensmodelle« und die Frage nach dem Schwanz.

Frauen haben in Ihrem Roman keinen Namen, sie heißt einfach nur M. oder J. oder N. Männer haben hingegen Namen. Was ist die Idee dahinter?

MS: Jeder Name einer Frau macht ein Arsenal an Geschichten und Assoziationen auf. Das wollten wir vermeiden. Auch den Gedanken, dass hinter M. mehrere Identitäten stecken könnten, mochten wir.

AG: Es ist auch ein Unterschied, ob ein Männer- oder ein Frauenname fällt. Wenn ein Frauenname fällt, dann ist die Art und Weise, wie sich die Lesenden zu der Figur verhält, schon durchtränkt von zahlreichen bildlichen Vorstellungen, die meist auch von Männern stammen, weil unsere gesamte Kultur vom männlichen Blick geprägt ist.

MS: Deshalb wollten wir auch keinen Namen auf den Titel setzen. Denn ein Name hätte sofort die Deutung aufgemacht, dass das ein Buch über eine Frau ist als ein Buch, das von einer Frau handelt. Denn während Männer die Welt beobachten, werden Frauen in dieser Welt immer nur beobachtet. Einen eigenen Blick gesteht man ihnen nicht zu.

Zugleich eröffnen Sie Ihr Buch mit einer Liste von über 200 Frauennamen. Ist das ein literarisches Spiel?

AG: Wir versuchen damit, dieses Assoziationskino sichtbar zu machen, indem wir beispielsweise auch Frauennamenpaare wie Hillary und Monica aufgreifen. Andererseits steckt dahinter der Wunsch, diesen Frauen, die sich ja alle mit ihrem Frausein und Gesehen-werden auseinandersetzen müssen, dieses Buch zu widmen.

Frau Stark, werden Sie aufgrund der Nähe von M. und Marlene oft gefragt, ob das nicht Sie sind?

MS: Ja und Nein. Ich fand es schon immer interessant, wie viel der Leser interpretieren und sehen möchte. Wir müssten der Figur ja eine Identität geben und dieses Spiel mit M mag ich besonders gern, weil es dem Leser und dem, was er von der Geschichte und der Figur erwartet, einen Spiegel vorhält. Muss das autobiografisch sein? Was muss wirklich passiert sein? Ab wann interessiert mich das? Warum interessiert mich das? Nur weil es wirklich passiert? Es passiert natürlich jeden Tag. M ist natürlich autobiografisch und da. Ob das mir passiert oder Anna oder irgendeiner anderen Frau ist vollkommen egal. Nicht egal ist, dass alle eine Notwendigkeit sehen, dafür eine reale Person zu brauchen, um die Ereignisse einordnen zu können. Das wollten wir zeigen.

AG: Das ist auch eine Frage von Verfügbarkeit, also inwiefern die Figur verfügbar ist, weil die Autorin als autobiografische Referenz verfügbar ist und man auf sie zugreifen kann.

Bekommen Sie seit der Veröffentlichung des Romans mehr doppeldeutige Angebote? Autor:in und Erzähler:in werden ja gern verwechselt.

MS: Nein, tatsächlich habe ich auch mehr damit gerechnet, als es jetzt eintritt. Ich dachte vor allem, dass Leute wissen wollen, wer hinter den anderen Figuren steckt. Aber das kam bislang nicht. Es will offenbar doch nicht jeder genau wissen.

Ihre Protagonistin ist Teil des Kunstproletariats, sie jobbt als DJane, macht kleinere Ausstellungen und hat ihr ganz eigenes Kunstprojekt am laufen. Ihr Blick auf die Kunstszene ist mindestens sarkastisch, wenn nicht sogar radikal verachtend. Was hat dieser Blick mit Ihnen als Autorinnen zu tun? Ist das nicht doch auch ein wenig Ihre Abrechnung mit der Kunstszene?

MS: Gegenfrage: Wann waren Sie das letzte Mal auf einer guten Ausstellung?

AG: Abrechnung ist ein schwieriger Begriff, weil es ein Begehren nach Rache impliziert. Das hat uns definitiv nicht motiviert. Was man aus dem Buch eher herauslesen kann ist eine gewisse Frustration und Enttäuschung, die gespeist ist von den Erfahrungen, die wir in der Szene gemacht haben. Ich habe mich eher gefragt, was es bedeutet, dass die Kunst heute auf eine gewisse Art und Weise tot ist.

Inwiefern ist sie das?

AG: In der Kunst gibt es so viel Diskurstheater, Sehnsucht nach dem Spektakel und Narzissmus wie überall sonst. Nichts unterscheidet sie mehr von den gesellschaftlichen Mechanismen. Die ganze Produktionssphäre ist so sehr durchdrungen von der Frage nach dem Geld und dem Hype um die eigene Person, die Kunst kann die ihr zugeschriebene Funktion der kritischen Stimme, die aus der Gesellschaft über die Gesellschaft spricht oder sichtbar macht, was alles schief läuft, nicht wahrnehmen. Sie kann nicht einmal mehr einfach nur Schönheit produzieren. Insofern ist der Roman vielleicht eher eine konzeptuelle als persönliche Abrechnung.

MS: Es bietet sich an, in dem Kontext eine gewisse strukturelle Macht zu kritisieren, die hier noch viel dichter auftritt als sonst. Jede Problematik, die wir im Buch verhandeln, ist in der Kunst besonders stark ausgeprägt, von der Frage nach einer Frauenquote bis hin zu toxischer Männlichkeit. Kunst ist nicht mehr das, was ich mir darunter vorgestellt habe.

Was haben Sie sich denn vorgestellt?

AG: Man darf nicht vergessen, dass Kunst ein krasses Versprechen ist – der Schönheit, der Bewegung, des Echten. Dazu kam für mich die Sehnsucht nach dem Glamourösen darin. Ich hatte verrauchte Salons mit lauter schönen Leuten im Kopf, die in dicken Büchern blättern und das Echte verhandeln. Aber all das wird überhaupt nicht eingelöst.

MS: Mir ging es gar nicht um das Schöne, aber auch um das Echte. Wenn etwas Reales verhandelt wird, kann das meines Erachtens aber keine Masse bedienen, weil es eine gewisse Tiefe erreichen muss. Aber das passt nicht zu unserer kapitalistischen Zeit. Am Ende kippen die Leute um und machen schöne Sachen, die man sich über das Sofa hängen kann.

AG: Noch fataler ist, das Kunst widerständig sein soll und will, ein antagonistischer Ort. Wenn dieser Ort aber nur noch eine Spiegelung des Drumherums ist und all dessen, was auch nicht funktioniert, dann ist das eine ultimative Enttäuschung.

Ist die Berliner Kunstszene, in der der Roman angesiedelt ist, hier besonders enttäuschend?

MS: Während es früher hieß, jeder macht etwas mit Medien, macht heute jeder etwas mit Kunst. Auch die Kunsthochschulen haben sich verändert. Die sind jetzt alle so posh und schick, und die Leute dort würden wahrscheinlich eigentlich Architektur studieren, aber Kunst ist eben gerade mehr en vogue.

Kraftklub hat dieser kreativen Pseudowelt seinen Song »Ich will nicht nach Berlin« gewidmet.

AG: Es ist ja auch interessant, wo es überhaupt Kunstszenen gibt. Es gibt zwar überall Leute, die Kunst machen, aber das wird ja erst dann zu einer Szene, wenn die Orte, wo diese Leute Kunst machen, zu sozialen und ökonomischen Hubs werden. An Berlin ist im Vergleich zu New York interessant, dass es das Versprechen der Freiheit noch gibt. Wenn man nach Berlin zieht, um Kunst zu machen, dann gibt es die Erwartung, dass es den Raum dafür gibt, sich mehr Menschen beteiligen können und es mehr kollektive Sachen gibt. Wenn man in New York Kunst machen will, ist vollkommen klar, dass es nur um Geld geht und man ohne Geld nicht weit kommt. Diese strukturellen Problematiken gibt es aber inzwischen auch hier in Berlin. Es ist inzwischen nur noch für mehr oder weniger reiche privilegierte weiße Menschen möglich, professionell Kunst zu machen. Berlin ist von den New Yorker Verhältnissen nicht mehr weit weg.

Welche Rolle spielt Nord-Neukölln als Handlungsort des Geschehens?

AG: Gerade das Echtheitsversprechen greift noch in Neukölln, auch wenn das gerade zu Ende geht. Vor zehn Jahren war Neukölln aber definitiv noch wild. Inzwischen ist der Bezirk eher ein Sehnsuchtsort, in dem eine bestimmte junge und wohlsituierte Generation die Illusion einer Wildheit und Echtheit lebt, während um sie herum alles durchgentrifiziert wird. Nicht umsonst bin ich aus Neukölln geflohen.

MS: Wahrscheinlich ist es ganz einfach: was an vielen anderen Orten schon vorher passiert ist, passiert jetzt in Neukölln. Und wir sind die Generation, die das mitmacht. Ich bin vor zehn Jahren nach Neukölln gezogen, weil es billig war. Damals gab es dort nichts. Jetzt gibt es vegane Cafés und Co-Working-Spaces und alles geht den Bach runter.

Musik spielt eine große Rolle. Im Grunde kann man dem Roman eine Playlist entnehmen. Eine Playlist wofür eigentlich, Frau Stark?

MS: Musik ist eine Möglichkeit Dinge und Situationen anders beschreiben zu können. Ich sehe es als Erweiterung, etwas, was im Buch über Sprache und Lesen hinauswächst. Der Leser hört vielleicht den einen oder anderen Track und fühlt Situationen anders und neu nach und verlässt den Algorithmus der Spotify Cloud.

Wie schreibt man denn überhaupt gemeinsam einen Roman?

MS: Mir ist es suspekt, dass Kollaborationen in allen anderen Sparten vollkommen normal sind, während in der Literaturwelt so ein Alleinschöpferdasein gepflegt wird. Wir hatten einfach einen guten Draht zueinander. Zudem war die Zusammenarbeit unter Frauen spannend für uns, vor allem, weil wir beide sehr unterschiedlich sind. Bei GoogleDocs haben wir uns dann gegenseitig beim Schreiben zugeschaut und live kommentiert.

AG: Es ist natürlich herausfordernd, die Deutungshoheit über den Text abzugeben und zu sehen, wie die andere rigoros Passagen löscht oder umformuliert. Am Anfang waren wir da noch zurückhaltender, gegen Ende nicht mehr. Wir hatten zum Teil schwerwiegende Auseinandersetzungen.

MS: Das stimmt. Aber am Ende durfte nur das stehen bleiben, was wir gemeinsam tragen konnten. Wenn wir beispielsweise zwei unterschiedliche Positionen hatten, haben wir die Geschichte noch einmal ganz neu entwickelt. Jetzt schreiben wir wieder alleine und ich merke, dass mir der direkte Austausch manchmal fehlt. Ich glaube, zu zweit kommt man schneller voran, weil man viel näher an einer anderen Realität dran und deshalb früher gezwungen ist, die eigenen Gedanken stärker zu hinterfragen.

AG: Ich glaube, es gibt ein Für und Wider. Es gibt natürlich die produktive Einsamkeit beim Schreiben, die bei Kollaborationen nicht so wirken kann. Wenngleich es diese Momente auch gab. Wir haben ja nicht permanent zu zweit über dem Text gesessen, sondern manchmal hat Marlene etwas geschrieben und ich habe es mir hinterher angeschaut, dann habe ich wieder etwas geschrieben und so weiter. So konnte man auch durch den anderen aufgefangen werden. Neben den Auseinandersetzungen gab es auch viele Momente tatsächlicher Zuwendung. Denn es ist schon ein ziemlicher Kraftakt, sich den Text eben nicht anzueignen, sondern den anderen in seinem Sprachempfinden und in seiner Sprachverwendung ernst zunehmen und zu akzeptieren, dass der andere eben anders denkt und schreibt.

MS: Im Laufe der Zeit sind wir aber synergetischer geworden und am Schluss mussten wir viel weniger diskutieren. Und das, obwohl wir beide eine vollkommen andere Sprache haben, wenn wir alleine schreiben. M. ist auf jeden Fall ein Charakter zwischen uns.

Gibt es ein Beispiel, wo Sie gemeinsam eine neue Lösung finden mussten?

MS: Ja, das sechste Kapitel, das jetzt eines der zentralsten Kapitel ist. „Einschub“, so heißt es, ist so eine Art Wendepunkt in der Geschichte.

Es handelt davon, wie M. einen erfolgreichen Galeristen namens Richard mit einem Strap-On-Dildo in den Arsch fickt.

AG: Genau. Das war aber nie unser Plan. Eigentlich sollte es um eine Ausstellungseröffnung gehen. Ich habe dann eine erste Fassung geschrieben, von der ich total überzeugt war, aber Marlene fand die total schrecklich. Da haben wir uns ziemlich heftig gestritten. Ich habe dann alles umgeworfen und noch einmal von vorne angefangen. Parallel dazu hatte Marlene auch etwas geschrieben, aber das passte alles nicht zusammen. Und dann kam der Gedanke, dass wir diese Szene schreiben. Und ich glaube, man merkt ihr auch an, dass sie aus einem Konflikt heraus entstanden ist.

Selbstinszenierung oder Ironie? Diese Frage stellt sich auch im Roman | Foto: Anna Gien
Selbstinszenierung oder Ironie? Diese Frage stellt sich auch im Roman | Foto: Anna Gien

Ist Ihnen Ihre Protagonistin M. eigentlich sympathisch?

MS: Ich finde es spannend, wie unterschiedlich man sie lesen kann. Das hätte ich niemals gedacht. Dass man ihr unterstellt, dass sie etwas böse meinen könnte, nur weil sie eine gewisse raue Schale hat, das verstehe ich nicht. Ich finde, sie ist passend zu unserem Zeitgeist, weil sie sich um wenige Dinge schert. Eine Anti-Heldin, wie sie von einigen charakterisiert wird, kann ich in ihr nicht entdecken.

AG: Ich empfinde schon eine ziemliche Hassliebe zu ihr. Ich liebe sie in den Momenten, in denen sie sich Hals über Kopf in die nächste Katastrophe stürzt. Am Anfang des Romans hingegen ist sie mir ziemlich unsympathisch, weil sie da so über den Dingen steht und unnahbar wirkt.

Ich finde sie als Figur schwer zu greifen, weil sie mir zu versnobt in dem Sinne ist, als dass sie so sehr das bewusste Gegenprogramm zu all dem Hipstertum in der Kunstszene darstellen will, dass sie schon selbst wieder zu einer Art Meta-Hipster wird.

AG: Darüber haben wir viel gesprochen und tatsächlich ist das so eine Art Kommentar auf die Zustände im Kunstzirkus. Denn natürlich will sie am Ende nur, dass alle zu ihrer Ausstellung kommen und sie endlich den Erfolg feiern kann, den sie sucht. Und dennoch gibt es Momente passiven Widerstands, wo sie sich gegen diese künstliche Welt auflehnt.

MS: Ich finde, dass sie in allem, was sie macht, passiv aggressiv ist. Selbst in der Szene, wo sie sich den Schwanz umschnallt. Da schlüpft sie zwar vollkommen in eine männliche Rolle, aber als das ganze künstliche Sperma aus diesem Teil rausläuft, fällt sie zurück in ein typisch weibliches Verhalten. Mit der Attitüde „Oh nein, mir ist etwas passiert“ rennt sie beschämt aufs Klo. Ein Mann würde das nie und nimmer machen, der würde sich an seinem Dauererguss erfreuen.

Trotz oder vielleicht aufgrund dieser Unsicherheit startet M. eine Sexgruppe, in der sie Bekannte und ehemalige Affären miteinander verabredet und „für sich ficken lässt“. Ist das, Frau Gien, Ihre Antwort auf die im Januar in der Zeit aufgeworfene Frage, wer bei den Point-of-View-Pornos eigentlich für Sie als Frau fickt?

AG: Antwort nicht vom Sinne von Lösung. In meinem Text frage ich ja nach der Position des weiblichen Begehrens. Wie kann man überhaupt über ein weibliches Begehren nachdenken, wenn alles Begehren von männlichen Perspektiven durchdrungen ist. Vor allem das weibliche Begehren ist von einem instrumentellen Verhältnis zu sich selbst geprägt, die Sexgruppen-Geschichte aber löst das etwas auf, weil die Gruppe ein Ort ist, wo Begehren instrumentell verhandelt wird, ohne dass sie selbst dran teilnehmen muss.

MS: M. bedient sich da auch einfach nur männlicher Strukturen, statt etwas Neues zu entwickeln. Warum macht sie das? Weil sie in einer Welt lebt, in der Männer Jahrtausende lang die Strukturen erschaffen haben. In diesen Strukturen muss sie handeln. Wir gehören zu der Generation, die genau damit konfrontiert wird. Das betrifft Machtstrukturen in Unternehmen genauso wie Sexualität. Sexualität ist männlich, davon bin ich überzeugt. Auch die sexuelle Revolution war rein männlich und damit im Grunde ein Rückschritt für Frauen. Ich weiß auch nicht, ob eine weibliche sexuelle Revolution überhaupt möglich ist. Wie soll sich eine Frau neu definieren in einer Welt, in der alles bereits einmal männlich durchdekliniert ist. Selbst die Porno-Kategorien sind rein männlich. Ich weiß gar nicht, wie eine Sprache aussehen soll, die hier eine weibliche Sprache der Sexualität aussehen soll.

AG: Man könnte unserer Figur vorwerfen, dass das neue weibliche Imaginäre von M. nur darin liegt, diese männlichen Perspektiven zu spiegeln und damit die Zwänge des Systems vorzuführen.

Ist dieser männlich geprägte Mechanismus von Dominanz und Unterwerfung, oder um es drastischer auszudrücken, von ficken und gefickt werden als Allegorie auf die Kunstszene und die dort herrschenden Machtmechanismen zu verstehen?

MS: Ich denke, dieser Mechanismus greift überall. In der Kunstszene halt in extremer Form.

AG: Dazu kommt, dass die Kunst so ultimativ phallisch ist. Kreativität und Kreation sind ja eng beieinander, jeder Künstler stellt sich automatisch in Konkurrenz zu Gott. Entscheidender aber als die Frage nach dem Ficken oder gefickt werden finde ich die Frage nach dem Schwanz – in der Kunst wie in jeder anderen Branche.

Die Frage nach dem Schwanz?

AG: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es ganz egal ist, in welche Wunderkiste ich greife, immer habe ich sofort einen Schwanz in der Hand. Wenn aber seit Jahrtausenden alles schwanzgemacht oder schwanzgedacht oder schwanzgesprochen ist, was bin dann ich als Frau im Verhältnis zu diesem Schwanz? Gibt es mich überhaupt ohne den Schwanz? Ist vielleicht sogar jeder Beitrag nur für den Schwanz? Oder aus dem Schwanz heraus? Oder als Widerspruch zum Schwanz?

Macht es einen Unterschied, wenn Pornografie von einer Frau geschildert wird? Gibt es dafür überhaupt eine eigene Sprache?

AG: In dem Moment, wo es explizit wird, bildlich oder sprachlich, machen sich alle Frauen zum Objekt der Rezeption. Wenn Frauen über Sexualität sprechen oder schreiben, sind sie immer Teil dessen. Selbst im Moment der Reflektion werden Frauen sexualisiert. Männern geht das nicht so.

MS: Im Grunde ist es ganz einfach. Im Zuge des Buches werten wir oftmals unsere Pressetermine aus. Und stellen dabei immer wieder fest, dass wir Dinge gefragt werden, die kein Mann gefragt würde. Weil wir Frauen sind, werden wir anders auch gefragt. Wenn ein Mann über Sex schreibt, ist das radikal, wenn wir als Frauen über Sex schreiben, machen wir das scheinbar, weil wir Frauen sind.

AG: Wenn man sich die Literatur von Henry Miller oder Philip Roth und deren Rezeption ansieht, dann stellt man fest, dass da der Sex zum Schauplatz der Auseinandersetzung gemacht wird, während bei Frauen die Frau zum Schauplatz der Debatte wird.

Woran liegt das?

AG: Das liegt am Blick, der nicht nur der individuelle Blick des Erzählers oder Lesers ist, sondern auch der kollektive Blick, der durch die maskuline Perspektive so stark geprägt ist. Weshalb auch Frauen andere Frauen so stark als Objekte denken. Ich erwische mich selbst dabei, wie ich Frauen sehr stark mit einem körperlichen Blick taxiere. Das zeigt sich auch sprachlich, auch in unserem Roman. Wenn M. sagt, „Er fickt mich in den Hals“, dann ist das eine Verkehrung ihrer eigenen Perspektive. Sie nimmt die Perspektive des Mannes auf, statt in der eigenen zu bleiben und zu beschreiben, was sie sieht und spürt. Der Satz »Er fickt mich in den Hals« beschreibt nicht die Erfahrung des Moments, sondern das, was der Mann erlebt.

Gerade ist ein Text von Ihnen erschienen, in dem Sie erklären, warum junge Feministinnen den Spieß umdrehen und hemmungslos sexistisch sprechen und schreiben. Warum machen junge Feministinnen wie Sie das?

AG: Die These lautet, dass Sprache gegenüber Menschen, die eine gelebte weibliche Identität haben, immer noch gewalttätig ist, und zwar auf ganz verschiedenen Ebenen. Offensichtlich ist es, wenn es heißt, »Die Alte ist untervögelt.« Eine verdeckte Form herrscht dann vor, wenn man bei drei Frauen von Frauenpower spricht, bei Männern es aber gar nicht für erwähnenswert ist, dass sie Männer sind. Und unsichtbar ist diese Gewalt überall dort, wo wir uns sprachlicher Bilder bedienen, denn diese wurden über Jahrhunderte von Männern geschrieben. Wenn sich junge Feministinnen die sexistische Sprache aneignen, ist das ein Akt der Gegenwehr – nicht nur als krudes Zurückschlagen, sondern auch im Sinne einer symbolischen Aneignung. Ich schreibe ja auch über die Römischen Votzen, die sich das Wort Votze aneignen und versuchen, es positiv zu besetzen. Ähnlich wie die schwarze Rap-Kultur eignen sie sich die Signifikanten an, die sich gegen sie gerichtet haben.

Ich habe das auch als Versuch, Hoheit über das eigene Dasein zu erlangen, gelesen. Warum ist es heute – vielleicht sogar als Frau – so schwer, echte Selbstbestimmung über sein Leben zu erlangen?

MS: Für mich ist Scheitern nichts grundsätzlich Negatives, daran haben wir uns bedient. Es ist einfach nur ein Vehikel, um eine Situation zu beschreiben. Ich habe M. nie als sonderlich selbstbestimmt oder nicht selbstbestimmt gelesen.

AG: Es gibt ein paar Stellen, die sich darauf beziehen. Im Klappentext wird das mit der »strippenziehenden Regisseurin« übersetzt. Es gibt im Roman ein Drängen und Wollen – eine Rolle auszuüben oder sich selbst als Handelnde zu begreifen. Aber es ist interessant, ob das, was im Kontext der Selbstverwirklichung und der Kunst verhandelt wird – diese Zwänge, der Körper, das Begehren – am Ende nicht auch von dem eigenen Wollen korrumpiert wird. Wenn wir selbst in der Verweigerung eines Systems von diesem System so sehr gesehen werden wollen, ist die Verweigerung und Ablehnung dann überhaupt echt? Ändert sich tatsächlich etwas am System, wenn man sich den Schwanz umschnallt und Typen fickt. Kann es aus dem Drang heraus, das zu tun und sich damit der Mittel des Systems zu bedienen, das man ablehnt, überhaupt so etwas wie eine emanzipatorische Entwicklung geben? Oder fällt diese Idee in sich selbst zusammen?

MS: Es gibt kein wirkliches Ziel, sondern es ist eher ein permanenter Versuch. Es ist so eine Generationssache, die Dinge zu überdehnen und darin immer wieder zu scheitern. Denn im Grunde ist nichts mehr von dem, was wir machen, wirklich krass. Der Exzess, den wir leben können, ist hohl und vordefiniert. Er kann nur scheitern.

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Marlene Stark, Anna Gien: M. Matthes & Seitz Berlin 2019. 248 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen

Ist dieses permanente Abschießen Ihrer Protagonistin auch der Versuch, sich der ständigen Selbstkontrolle zu entziehen?

MS: Von meiner Seite gab es gar nicht so viele Überlegungen zu M. und ihrer Selbstwahrnehmung. Für mich gab es M. immer nur in einer Spiegelung nach außen. Deshalb hat M. auch kaum Merkmale. Es ging uns darum, was man von außen zugeordnet bekommt, als dass was sie im Inneren antreibt. Das Innen ist gar nicht so wichtig, weil sie für sehr viel mehr steht als für sich selbst.

AG: Wenn die Frage darauf zielt, ob die Selbstdestruktion und Selbstzerstörung an die Frage der Selbstbestimmung gekoppelt ist, ist das schwer zu beantworten. Denn die Destruktion ist zumindest für M. kein bewusster oder entschiedener Prozess, sondern eher eine Art Kollateralschaden.

„Ich bin die, die stolz und kreidebleich in Richtung Horizont spaziert, während das ganze verfickte Urlaubsressort hinter ihrem Rücken in die Luft fliegt“, heißt es am Ende des Romans. Ist ihre Protagonistin – und im Grunde auch all die, die sie penetrieren oder von ihr penetriert werden – tatsächlich so autark oder eigentlich zutiefst einsam in einer Welt, in der wir alle die Individualisierung preisen und das Gemeinsame als Abhängigkeit verdammen?

MS: Dem würde ich definitiv zustimmen. Ich sehe in M. auch eine traurige Person, der niemand den Rettungsring zuwirft. Sie strampelt sich in jeder Situation ab, um einfach endlich irgendwo anzukommen und gesehen zu werden. Der Versuch, irgendeine Identität zu finden, um Geltung zu erlangen, ist meines Erachtens eine zentrale Frage unserer Generation – für Frauen wie für Männer.

AG: Gerade aus der Diagnose dieser Einsamkeit heraus ist unsere gemeinsame Autorenschaft wahrscheinlich sogar essentiell. Denn wenn man tatsächlich so einsam ist, dann ist es erlösend, wenn man einen solchen intimen Prozess des Schreibens miteinander teilen kann.

3 Kommentare

  1. […] »Assoziationskino« nennt Gien an anderer Stelle diese Funktionalitäten, »Diskurstheater« das Sp… Gemeinsam mit der Autorin Marlene Stark schrieb sie schon in dem Roman »M«, der gerade als handliches Paperback neu aufgelegt wurde, über den männlichen Blick, der die Welt dominiert. In ihrer Einladung ermächtigt sich die 32-jährige Berlinerin dieses Blickes, spielt damit und führt mit charmanten Lächeln vor, welche Macht er (selbst im digitalen Raum) hat, wenn sie ihn als Instrument einsetzt. […]

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