Allgemein, Literatur, Roman

Sprachgewaltige Gespensterjagd

Die Schriftstellerin, Lyrikerin und Literaturprofessorin Ulrike Draesner lüftet den Deckmantel des Schweigens und lässt Frauen erzählen, wie sich Krieg und Gewalt in Körper und Seele festkrallen.

Diese Geschichte setzt in der Gegenwart ein, bei einer Anwältin namens Kinga Schücking, die sich und ihre Generation, die Kinder der Kriegskinder, als Nebelkinder bezeichnet. »Der Name drücke aus, wie viele von uns in den Händen von Menschen aufgewachsen waren, die weder von Verlusten noch von Freuden erzählten.« Es ist die Generation der Babyboomer, jene Kinder, die die Lücken, die der Krieg gerissen hatte, füllen soll. In Hamburg soll Kinga einen Vortrag über die Fallstricke des Erbrechts halten, denn weder das tatsächliche noch das emotionale Erbe von Kriegskindern verspricht Vergnügen. Auf der Veranstaltung wird sie von Dorota Dombrowska angesprochen. »Ihre Mutter wurde aus Breslau in das Heim zurückgebracht?«, stochert die »polnische Hamburgerin« seltsam wissend in Kingas Vergangenheit herum. Das polnische Wroclaw verbindet die beiden Frauen, die das Nebelkind-Schicksal teilen, wie sich bald herausstellt.

»Wenn jemand spricht, wird es hell«, schreibt Ulrike Draesner am Ende ihres neuen Romans »Die Verwandelten«, der neben dem aktuellen Roman »Monde vor der Landung« von Büchner-Preisträger Clemens J. Setz, dem autofiktionalen Roman »Unser Deutschlandmärchen« von Peter-Huchel-Preisträger Dinçer Güçyeter, dem neuen Roman der aktuellen Klopstock-Preisträgerin Angela Steidele »Aufklärung. Ein Roman« sowie Joshua Groß’ SciFi-Heimat-Klimawandel-Roman »Prana Extrem« im Rennen um den Preis der Leipziger Buchmesse war. Gewonnen hat schließlich Dinçer Güçyeter, über dessen Auszeichnung sich nicht nur die ganze Branche, sondern auch seine Mitnominierten freuten.

Nach ihrem für den Deutschen Buchpreis nominierten Familienroman »Sieben Sprünge vom Rand der Welt« und dem mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichneten Künstlerporträt »Schwitters« schließt die in Berlin und Leipzig lebende Autorin mit ihrem multiperspektivischen Generationenroman ihre Trilogie um Krieg, Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert ab. Man muss dankbar für jede seiner fast 600 Seiten sein, denn es braucht viel Sprache, viel Reden und Erzählen, um das Dunkel des von Kriegen, Konflikten und Erschütterungen überschatteten 20. Jahrhunderts zu erhellen.

Dafür geht es zunächst den Stammbaum hinab zu Kingas Mutter Alissa, die als Vierjährige von Gerd und Gerda Schücking adoptiert wurde. Das Münchener Ehepaar (»Nazi und Nazisse«) gab ihr einen neuen Namen, fortan musste sie als Gerhild durch die Welt gehen. Eine ganz unfreiwillige Verwandlung, die auf Alissas Kindheit in einem bayerischen Lebensborn-Heim zurückzuführen ist. Lebensborn war eine der kruden Nazi-Ideen, die vorsah, alleinstehenden Frauen ihre ungewollten Kinder abzunehmen und in die Obhut strammer Nazis zu geben, damit die die nächste, ideologisch geschulte Kriegsgeneration heranziehen können.

Ulrike Draesner: Die Verwandelten. Penguin Verlag München 2023, 608 Seiten, 26 Euro. Hier bestellen.

Der frühe Verlust der eigenen Herkunft und die Ahnungslosigkeit über die Ursachen haben Kingas Mutter nie losgelassen. Den Schmerz darüber hat sie tief in ihrer Seele vergraben, Kinga kennt nur den nebulösen Seelenschmerz der Mutter. Als die starb, hinterließ sie der Tochter eine Wohnung in Breslau, deren Vorgeschichte Kinga und Dorota verbindet. Nach Breslau führte schon »Sieben Sprünge vom Rand der Welt« und als sie vor Jahren in Hamburg aus dem Roman las, kam eine Leserin auf sie zu. Sie erzählte ihr die Geschichte ihrer Familie, die nun den in Breslau spielenden Teil von »Die Verwandelten« bildet.

Draesners an Geschichten und Geschichte reicher Roman steckt voller Sprachwitz und das fängt im Titel schon an. Denn er könnte ebenso »Die Verwandten« oder »Die Verwundeten« heißen, da sowohl Familien- als auch Schmerzlinien ein dichtes Beziehungsnetz zwischen den Figuren und Handlungsorten aufspannen. Die Fäden verbinden dabei nicht nur Breslau, Hamburg, Leipzig und München, sondern auch verschiedene Zeitläufte im 20. Jahrhundert mit der Gegenwart.

Zweimal fällt die Erzählung dafür in ein »Wurmloch«, in eine Art paläontologisches Limbo. Hier erkennt man Elemente von Draesners Langgedicht »Doggerland« wieder, nicht stilistisch, sondern eher erzähllogisch, indem sich die Erzählung als »eine Art hoch entwickelte KI« durch die Raum und Zeit umschließenden Erdschichten wühlt. »Damit ein Herz sich umkehrt, ein Rock neu genäht wird, eine Geschichte erzählt.«

Ob in diesen kurzen Einschüben unter Tage oder auf der Erdoberfläche, einmal mehr jagt Draesner hier die Gespenster der Geschichte, die schon im Mittelpunkt ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen standen. In denen dachte die seit 2018 in Leipzig lehrende Professorin für literarisches Schreiben darüber nach, »wie wir Leben schreiben« können. Gespenster nutzte sie dabei als Medien, die »Möglichkeits-, ja Täuschungsräume« entwerfen, in denen Erleben und Wachstum möglich ist. Allerdings seien Gespenster durch ein »nicht« definiert; was sie sind und erleben, lasse sich nur in der Verneinung »erschreiben«, argumentierte sie im Winter 2016/17.

Die Trilogie

Diese Verneinung führt zu den Geschichten, die zwar ungeschrieben, aber deshalb nicht weniger wahr sind. Im Kontext damaliger und heutiger Kriege sind das vor allem die Geschichten der Frauen. Draesner will das ändern. In ihrem verzweigten Roman erhalten deshalb ausschließlich Mütter und Töchter die Hoheit über die Erzählung. Was nicht heißt, dass Männer nicht auch zu Wort kommen, aber immer nur durch den Filter einer der weiblichen Erzählstimmen. Diese schildern die traumatischen Folgen von Krieg, Gewalt und Ideologie, von Entwurzelung und Seelenschmerz, die sie wiederum zu Rollenwechseln und (An-)Verwandlungen bewegen. In diesen Geschichten bekommen die individuellen Traumata ein anderes Gewicht und werden Teil einer kollektiven, sich fortschreibenden Gewalterfahrung. »Frauenräume vergehen nicht. Sie summen nach. Eine Sprache unter der Sprache, ein Rock noch unter dem Rock, ein Ich, das die Stimmen anderer braucht, um sich zusammenzusetzen.«

Wie ein Faden zieht sich der Schmerz durch diese verwinkelte europäische Geschichte und der Text greift dieses Bild, ausgehend von Ovids »Metamorphosen«, gestalterisch auf. Ovids Verwandlungen handeln von Philomelas Vergewaltigung durch ihren Schwager. Damit sie den nicht an seine Frau verrät, wird ihr die Zunge herausgeschnitten. Mit einer List webt sie vielsagende Zeichen in einen Stoff, den sie ihrer Schwester zukommen lässt. Und die versteht sofort.

Philomelas »Kettfäden« finden sich in den verrätselten Versen zu Beginn der einzelnen Kapitel in Draesners Roman als dünne Linien wieder. Außerdem bildet die in Berlin lebende Autorin die erfahrenen (Ver-)Störungen durch Wortneuschöpfungen, Auslassungen und Streichungen in der Sprache ab. Schambehaft… und Unsagbares wird so nicht länger beschwie———gen, sondern sprachlich zurückerobert, um weibliche Erfahrungen im Text sichtbar zu machen. Außerdem spielt die Lyrikerin virtuos mit den Sprachwelten, die sie erzählerisch erkundet, flicht schlesische und polnische Wendungen sowie Dialekt und Soziolekt mit ein. Ihre Sätze fließen mal episch dahin, dann wieder tanzen sie poetisch verspielt über die Seiten. »Die Verwandelten« ist nicht nur eine große europäische Erzählung, sondern auch ein Meisterwerk verbaler Emanzipation.

Die kann sich nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen den Generationen vollziehen, wie an der Breslauer Familiengeschichte deutlich wird. Marolf und Else Valerius, Dorotas deutsch-schlesische Ahnen, wurden, obwohl sie »marolfisch statt adolfisch, mondän statt reichsmütterlich« waren, nach dem Krieg zwangsumgesiedelt. Ihre Mutter blieb auf eigene Faust in Polen und nahm eine polnische Identität an. Aus Reni Valerius wurde Walla Dombrowska, die mit zwei Männern jeweils zwei Kinder bekommt. Als in Danzig die Gewerkschaften streiken und die polnische Gesellschaft zum Zerreißen gespannt ist, geraten ihre Kinder in den Strudel der Ereignisse. Dorota wird sich Jahrzehnte später auf die Suche nach ihrem Halbbruder machen und ein anderes finsteres Kapitel in der Ahnenlinie aufschlagen.

Fiktionen, so schreibt die Draesner in ihrem Nachwort, habe sie beim Schreiben des Romans neu verstanden. Als »eine Folie, im Nachhinein um verletzte Körper geschlungen«. Erst diese Folie ermöglicht es, den dunklen Mantel des Schweigens zu lüften und Figuren sprechend ins Licht treten zu lassen. Ulrike Draesners »Die Verwandelten« ist in diesem Sinne ein erhellender, geradezu lichtbringender Roman.

Dieser Text erschien in leicht gekürzter Form bereits in der taz – die tageszeitung.