Das Jahr 2023 hatte einiges zu bieten. Dirk Oschmann sorgte für Zündstoff, eine Anthologie für einen Skandal und das Ende des Jahres liegt im Schatten der Verbiesterung. Gegen die hilft nur Literatur, die Augen und Herzen öffnet. Ein Rückblick auf das Literaturjahr 2023 mit den besten Romanen des Jahres.
Das Jahr 2023 begann mit einer absurden Silvesterdebatte, in der der Berliner Kneipier und Autor Behzad Karim Khani dem politischen Berlin eine saftige Antwort auf das Bashing der Neuköllner Kids gab. Für die Berliner Zeitung verfasste er einen breitbeinigen Kommentar, in dem er Deutschland als Land beschrieb, »das die Schuld immer bei den Anderen sucht« – trotz Nazihintergrund, grassierendem Antisemitismus, »faschistischen Chats der Polizei«, dem NSU-Debakel, tausenden rechtsextremen Gewalttaten und und und. Khani hatte ein halbes Jahr zuvor seinen Debütroman »Hund Wolf Schakal« veröffentlicht, der zu den besten Debüts des Jahres zählte. Ein großer Teil der Handlung spielt in Neukölln. Er handelt von zwei iranischen Brüdern, die in den Achtzigern nach Deutschland kommen, um dann ein vollkommen unterschiedliches Leben am Limit zu führen. Wer den Roman bis zu Khanis Rant gegen den Berliner Sturm im Wasserglas noch nicht gelesen hatte, tat es spätestens im Frühjahr.
Kaum war die Debatte um die Silvesterkrawalle verebbt, lieferte Dirk Oschmann mit seiner wütenden Suada »Der Osten: Eine Erfindung des Westens« neuen Zündstoff. »Zynisch, herablassend, selbstgefällig, ahistorisch und selbstgerecht« spreche der Westen über den Osten, ohne sich für die Perspektiven der Ostdeutschen oder deren gesellschaftliche Teilhabe wirklich zu interessieren, lautete seine Anklage, die er mit zahlreichen Beispielen untermauerte. Das Buch wurde aufgeregt und emotional diskutiert und vor allem im Osten oft über die Ladentheke gereicht. Das Buch trudelte am Jahresende auf Platz zwei der meistverkauften Sachbücher des Jahres ein, hinter Prinz Harrys »Reserve« und vor Ewald Fries’ »Ein Hof und elf Geschwister«, das im Juni mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet wurde.
Die Ost-Debatte hielt sich über Monate, auch weil Oschmanns Lesungen bis zum letzten Platz ausverkauft waren und anwesende Reporter zuweilen die aufgeheizte Stimmung unter den Zuhörenden als Beleg für die angespannte Atmosphäre in den neuen Bundesländern heranzogen. Als dann auch noch Katja Hoyer erklärte, dass »Diesseits der Mauer« nicht alles schlecht war, lag das Kind im Brunnen und der Osten stand einmal mehr als ewiggestrige Jammerregion blöd da.
Der Osten und die Literatur
Zum Glück wurde dieses Bild von einigen starken Romanen mit DDR-Bezügen gerade gerückt. Da ist allen voran Anne Rabes »Die Möglichkeit von Glück« zu nennen, eine mit Brecht-Zitaten gespickte Familiengeschichte, die von den versteckten Traumata der permanenten Gewalterfahrung erzählt. Dabei kommt die Erzählung so leicht wie tiefsinnig, so literarisch wie bodenständig daher – zweifellos einer der besten DDR-Romane der letzten Jahre. Kein Wunder, dass das Buch bis zur Preisverleihung bei den Buchmacher:innen die Pole-Position beim Deutschen Buchpreis innehatte.
Aber auch Aron Boks autobiografische Erkundung »Nackt in der DDR – Mein Urgroßonkel Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat«, Judith Zanders Gedichtband »im ländchen sommer im winter zur see« sowie die beiden Stasi-Romane »Die frühen Jahre« von Felix Stephan und »Gittersee« von Charlotte Gneuß (ausgezeichnet mit dem Aspekte-Literaturpreis für das beste Debüt) lieferten spannende und neue Perspektiven auf die DDR. Dass ausgerechnet der langjährige Fischer-Autor Ingo Schulze einen warnenden Brief an die Buchpreis-Jury schrieb, um auf vermeintliche Fehler in Gneuß’ im selben Verlag erschienenem Buch hinzuweisen, hat Geschmäckle. Dem Erfolg von »Gittersee« hat das nicht geschadet, Schulzes nächstes Buch erscheint bei Wallstein.
Dinçer Güçyeter schreibt eine Erfolgsgeschichte
Im Frühjahr traf sich die Buchbranche nach drei Jahren Corona-Pause das erste Mal wieder zur Leipziger Buchmesse. Natürlich Besucherrekord, natürlich gute Stimmung und als Krönung ein Sieger, mit dem die wenigsten gerechnet hatten. Dinçer Güçyeter triumphierte neben mit seiner autobiografisch motivierten Familiensaga »Unser Deutschlandmärchen« beim Preis der Leipziger Buchmesse. Nicht einmal ein Jahr zuvor war er mit dem Peter-Huchel-Preis für seinen Lyrikband »Mein Prinz, ich bin das Ghetto« ausgezeichnet worden. Seit diesen Erfolgen hat der Lyriker aus Nettetal keine Zeit mehr zum Gabelstapler-Fahren. Das hatte er nämlich immer noch gemacht, um seinen ELIF-Verlag betreiben zu können. Inzwischen tourt der sympathische Autor durch ganz Deutschland, füllt Theatersäle und Stadthallen und schreibt seine Erfolgsgeschichte weiter. Im Herbst hat er erstmals ein mehrtägiges Literaturfestival in seiner nordrhein-westfälischen Heimat veranstaltet – auch das natürlich ausverkauft.
Dass er bei all dem nicht vergessen hat, wer er ist und wo er herkommt, belegt nicht nur die von ihm herausgegebene Anthologie mit Texten von »Türschwellenkindern«, sondern wurde auch kürzlich in einem Interview deutlich. Im Freitag wurde er gefragt, ob er nun öfter seine Stimme erheben wolle, wenn es ungerecht zugehe. »Wenn mich etwas stört, wenn nicht die Wahrheit reflektiert wird, dann öffne ich natürlich den Mund», antwortete er. »Doch wichtig ist auch, den Mund zu halten, wenn man in einer Sache nicht kompetent ist oder sie mit klarem Gewissen vertreten kann. Die Welt ist laut genug, alle wollen das Richtergewand tragen, ein Urteil fällen. Ich meine aber, das Leid von anderen Menschen ist nicht unsere Privatbibliothek, die wir beliebig mit eigenen Befindlichkeiten bestücken können.«
Neue deutsche Literatur
Zugleich ist sein bewegender Roman prototypisch für eine Form der Literatur, die neu von Einwanderung, dem Aufwachsen am sozialen Rand und der Elterngeneration erzählt. So haben Deniz Utlu und Necati Öziri zwei stilistisch und erzählerisch starke Romane vorgelegt, die von abwesenden Vätern handeln. Wenngleich Yunus’ Vater in Utlus mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichneten Roman »Vaters Meer« zwar physisch anwesend ist, fällt er aufgrund seiner vollständigen Lähmung als Gegenüber aus. Ardas Vater in Öziris »Vatermal« ist hingegen schon lange weg, der todgeweihte Sohn schreibt ihm nun einen Brief, um ihm für immer die Möglichkeit zu nehmen, »nicht zu wissen, wer ich war«. Wenn die so genannte neue deutsche Literatur weiter derart stark daherkommt, dann steht der deutschsprachigen Literatur Großes bevor.
Macht, Medien und die Moral
Vielleicht ist dann auch der Hype verzichtbar, den Autor:innen wie Benjamin von Stuckrad-Barre noch immer auslösen. Nach all den Skandalen um ein großes deutsches Medienhaus und dessen alt-weiß-männliche Führungsriege hat Stuckrad-Barre, der selbst jahrelang angesehener Starautor des Hauses war, eine Abrechnung verfasst. Sein Roman »Noch wach?« hat vor allem die Stucki-Fans der ersten Stunde begeistert. Für alle anderen gilt: Sie können weitergehen.
Gleich um die Ecke kommt ein anderer Großautor, der ebenfalls einen Roman über Machtmissbrauch und moralisches Versagen im Medienbetrieb geschrieben hat. Gemeint ist Daniel Kehlmann, dessen sich an der Lebensgeschichte des deutschen Regisseurs G. W. Pabst entlang hangelnder Roman »Lichtspiel« allenthalben als großer Wurf gelobt wurde. Das mag auch daran liegen, dass Kehlmann mit seinem Helden nicht allzu zimperlich umgeht und kritische Perspektiven eröffnet, während Stuckrad-Barre allzu plakativ an der eigenen Ehrenrettung interessiert ist. Wer bei der Lektüre von Kehlmanns Roman den Horizont erweitern will, dem sei als Gegenbewegung zum Roman über das Kino im Dritten Reich ein Film über die Literatur in Nazideutschland empfohlen, Dominik Grafs »Jeder schreibt für sich allein«.
Gewalt & Männlichkeit
Männlichkeit und ihre verschiedenen Aspekten standen auch im Mittelpunkt eines Sammelbandes, an dem sich zahlreiche namhafte Autoren wie Kim de L’Horizon, Daniel Schreiber, Peter Wawerzinek, Philipp Winkler, Deniz Utlu und Dinçer Güçyeter beteiligten. In dem von Donat Blum und Valentin Moritz herausgegebenen Band »Oh Boy« sollte eine kritische Inventur der Männlichkeit(en) stattfinden. Fast alle haben sich dran gehalten, nur Mitherausgeber Valentin Moritz nicht. In seinem Beitrag schildert er aus der Ich-Perspektive einen sexuellen Übergriff, den er verübt hat. Sein Opfer erkannte sich in dem Text wieder und ging gegen die mediale Verwertung dieses Missbrauchs vor. Zahlreiche Gastautoren distanzierten sich von dem Projekt, der Berliner Kanon-Verlag, der in dem ganzen Prozess auch keine sonderlich gute Figur machte, entschuldigte sich und zog das Buch aus dem Verkehr. Wer das für überzogen hält, der lese das beklemmende Buch »Gegen Frauenhass« der Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Christina Clemm.
Jüdische Identitäten
Selbst aus dem Verkehr gezogen hat sich der Autor Fabian Wolff, der sich auf Zeit Online als Felix Krull seiner Generation outete. Dort veröffentlichte er im Juli ein ellenlanges Mea Culpa, in dem er einräumte, seine jüdische Identität erfunden zu haben. Jene, die die Debatte um jüdische Identitäten seit Jahren (v)erbittert führen, fühlten sich ermutigt, nochmal richtig draufzuhauen und nachzutreten. Wolf wurde als der »Beste aller Juden« und »Vorzeige-Jude der Linken« betitelt, sein Beitrag selbst wurde einem enormen Faktencheck unterzogen.
Deborah Feldman hat nur wenige Wochen später mit dem »Judenfetisch« und seinen fatalen Folgen für Jüdinnen und Juden abgerechnet. Die hiesigen Debatten würden an der jüdischen Wirklichkeit vorbeiführen, so Feldman, und während hier über echte und falsche Juden und Jüdinnen diskutiert werde, bauten in Israel die religiösen Hardliner das Land zu einer Theokratie um. Dass hierzulande nur wenige Wochen nach Erscheinen des Buchs noch einmal ganz anders über jüdisches Leben in Deutschland und Antisemitismus diskutieren würde, war da noch nicht zu ahnen. Der zehnjährige Todestag von Wolfgang Herrndorf, begangen mit der lesenswerten Biografie von Tobias Rüther, geriet im Sommer 2023 fast zur Nebensache.
Der Sommer 2023 war dominiert von den Debatten um die Nominierungen und Vergaben verschiedener Literaturpreise. Der am meisten gelobte Roman war Terézia Moras »Muna Oder die Hälfte des Lebens«, den meist unterschätzten Roman legte Thomas von Steinaecker mit »Die Priviligierten« vor, beim meist-nominierten Roman müsste es sich um Clemens J. Setz’ »Monde vor der Landung« (Leipziger Buchpreis, Deutscher Buchpreis, Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, Österreichischer Buchpreis – den er am Ende auch gewann) handeln.
Die Romane mit den meisten…
Der Büchnerpreis ging zur Begeisterung aller an Lutz Seiler. Judith Zander wurde für ihren sehr lesenswerten (und viel zu prominent ignorierten) Lyrikband »im ländchen sommer im winter zur see« mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. Ihre Namensvetterin Judith Hermann erhielt für ihre bewegenden Frankfurter Vorlesungen, die im Frühjahr unter dem Titel »Wir hätten uns alles gesagt« erschienen sind, den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis und Arno Geiger für seinen lebensklugen Roman »Das Glückliche Geheimnis« den von 111 Flaschen Riesling begleiteten Rheingau Literatur Preis. Herzlichen Glückwunsch und ChinChin, kann man da nur sagen.
Ausgezeichnete Romane
Auf das letzte Quartal dieses Literaturjahrs kann man nur schauen, indem man die brutale und so erschreckend präsente Gegenwart an den Anfang setzt. Der nach dem Terrorangriff der Hamas erneut eskalierte und immer weiter eskalierende Nahost-Konflikt hinterlässt Spuren im Kultur- und Literaturbetrieb. Entweder wurde das Schweigen als Anzeichen fehlender Solidarität mit Israel oder als Gleichgültigkeit gegenüber den vielen zivilen Opfern des israelischen Militäreinsatzes im Gaza-Streifen beklagt. Da erscheint das verzweifelt-hilflose Stammeln von Buchpreisträger Tonio Schachinger bei der Auszeichnung seines Romans »Echtzeitalter« im Rückblick fast eine kluge Wahl gewesen zu sein.
Die Debattenbücher der Frankfurter Buchmesse
Seit dem Überfall der Hamas und dem Krieg der Israelis im Gazastreifen ist etwas eingetreten, das Hanno Rautenberg in der Zeit als »große Verbiesterung« bezeichnete. Es wurden mehrere Preisverleihungen abgesagt oder skandalisiert, weil sich die einst Preiswürdigen vor dem Hintergrund der Gewalt in Nahost vermeintlich nicht mehr als würdig erwiesen. So wurde die Verleihung des LiBeraturpreises an die palästinensische Autorin Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse durch den Litprom e.V. und die Buchmesse abgesagt, der international hoch gelobte und auszuzeichnende Roman »Eine Nebensache« völlig in Misskredit gezogen (hier mein Kommentar im Freitag). Die Causa ist bis heute nicht gelöst, im Verein rumort es, die Autorin beschädigt. Ob, in welchem Rahmen – ob öffentlich oder nicht – und wann der Preis an Adania Shibli vergeben wird, ist auch zweieinhalb Monate nach dem Eklat noch unklar.
Definitiv nicht vergeben wird der Peter-Weiss-Preis. Die Autorin Sharon Dodua Otoo verzichtete auf die Ehrung, nachdem eine acht Jahre alte Unterschrift unter einem Aufruf der Gruppe »Artists for Palestine« publik wurde, von der sie sich umgehend distanzierte. Die Philosophin Suzan Neimann, die mit der Streitschrift »Links is nicht woke« Aufsehen erregte, und PEN Berlin-Sprecherin Eva Menasse, die gerade mit »Alles und nichts sagen« ein Buch zur Debatte in der Digitalmoderne verfasst hat, wurden aufgrund kritischer Töne gegenüber Israel (beide sind Jüdinnen) vom ehemaligen Verleger Ernst Piper lautstark kritisiert. Auch das endete in einer Kontroverse. Masha Gessen hat den ihr zugesprochenen Hannah-Arendt-Preis erhalten. Die feierliche Veranstaltung wurde jedoch abgesagt, nachdem Gessen Anfang Dezember im New Yorker einen Beitrag schrieb, in dem sie das Sterben in Gaza mit dem Sterben im Warschauer Ghetto vergleicht. Der Trägerin des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2019 (!) wurde daraufhin vorgeworfen, die Singularität des Holocaust in Zweifel zu ziehen.
Im Brackwasser der Debattenunkultur
Was würde wohl Primo Levi dazu sagen? Er formulierte in seinem Auschwitz-Bericht »Ist das ein Mensch?« die Antithese zur Singularität des Holocaust. »Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben. Es kann geschehen, überall. Weder kann ich, noch will ich behaupten, dass es geschehen wird.« Levi wusste wie andere Holocaust-Überlebende, dass das Fundament der Zivilisation brüchig ist. Auch auch Arendts »Banalität des Bösen« klingt nicht danach, als wäre eine Wiederholung des Bösen unmöglich. Nicht darüber nachzudenken, wo das Zivilisatorische ins Rutschen gerät, wäre ein Verrat an den Lektionen, die uns Autor:innen wir Primo Levi, Aharon Appelfeld, Paul Celan oder Imre Kertesz, aber auch Denker:innen wie Hannah Arendt, Raul Hilberg, Ruth Klüger, Zygmunt Bauman oder Yehuda Bauer bis heute mitgeben. Letzterer beschreibt den Holocaust in dem Sammelband »Erinnern als höchste Form des Vergessens?« übrigens als präzedenzlos, aber nicht als unvergleichbar.
Die Sache mit der Singularität
Was bei allen Debatten zutage tritt, ist die zunehmende Unfähigkeit, Differenzen zuzulassen und auszuhalten. Der neue Volkssport in der hiesigen Debattenunkultur ist dieses Canceln, von dem alle sprechen. Vor lauter tugendhaftem Brüllen hört niemand mehr zu, was eigentlich gesagt wird. Statt Argumente auszutauschen werden im öffentlichen Diskurs zunehmend Meinungen und Vorwürfe vorgetragen. Getreu dem Motto: Das wird man doch mal sagen dürfen.
Hier sei an Sir Salman Rushdie erinnert, der im Oktober den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche entgegennahm. In seiner Rede wies er darauf hin, dass die Meinungsfreiheit »auf allen Seiten von reaktionären, autoritären, populistischen, demagogischen halbgebildeten, narzisstischen und achtlosen Stimmen angegriffen« werde. Statt zu Canceln »sollten wir schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann«.
Cancelculture und Nahost
Der im Frühjahr erschienene Sammelband »Canceln« entpuppt sich vor diesem Hintergrund als Buch der Stunde. Wer seine neu erworbene Diskussionskultur dann am Nahost-Konflikt ausprobieren will, dem seien Meron Mendels Essay »Über Israel reden« sowie der Sammelband »Frenemies« empfohlen, den Mendel mit Saba-Nur Cheema und Sina Arnold herausgegeben hat. Erfreulicherweise wurden einige der besten Debüts des Jahres von jüdischen Autor:innen verfasst, hervorgehoben seien die auf der Buchpreis-Longlist nominierten Romane »Gewässer im Ziplock« von Dana Vowinckel und »Birobidschan« von Tomer Dotan-Dreyfus sowie Ofer Waldmans Erzählungsband »Singularkollektiv«.
Jüdische Fiktionen
Was bei all den Katastrophen fast aus dem Blick geriet ist die Krise der Branche. Insbesondere kleine, unabhängige Verlage kämpfen infolge der vielen Tiefschläge – Corona, Ukraine, Papiermangel, Inflation, Bildungskrise, Nahost – um die schiere Existenz. Der Leipziger Verlag Faber & Faber, in dem u.a. mein Sommerfavorit 2022 Bernhard Wagners »Verlassene Werke« erschienen ist, musste Anfang November Insolvenz anmelden. Es könnte der Beginn einer Welle sein, sagte Michael Faber im Gespräch mit dem Freitag und machte sich für eine grundständige Förderung der Buchkultur stark. »Warum finden wir in Deutschland kein System für die Absicherung einer kulturellen Infrastruktur?« Diese sei nötig, weil die Konzentration im Buchhandel kleine Verlage strukturell benachteiligt. »Unsere Bücher werden von den Ketten erst ab einer bestimmten Stückzahl ins Sortiment genommen. Das sind Volumen, die wir meist nicht erreichen.«
Umso wichtiger ist der inhabergetriebene Buchhandel, die kleine Buchhandlung nebenan. Um hier doch noch eine versöhnliche Coda zu finden, noch eine Handvoll Buchempfehlungen für den Jahreswechsel. Die von Thomas Böhm zusammengestellte »Wunderkammer des Lesens« lädt in ihrer sensationell verspielten Gestaltung als (Ver)Führer des geschriebenen Wortes in die luftigen Weiten der Weltliteratur ein. Tim Staffel hat in seinem hinreißenden Kreuzberg-Noir »Südstern« den hämmernden Puls der Stadt in eine packende Geschichte übersetzt, die alle Mythen über den Görlitzer Park lächerlich wirken lässt. Stephanie Bart ist für ihren RAF-Roman »Erzählung zur Sache« in den Kopf von Gudrun Ensslin gestiegen, um zu zeigen, wie sich aus Vernunft und Erfahrung Radikalität formen muss. Wer in den umwerfenden »Stories« von Joy Williams versinkt, versteht sofort, warum sie als amerikanische Großmeisterin der Kurzgeschichte gilt. Und Jonathan Escoffery erzählt in seinem umwerfenden Debüt »Falls ich dich überlebe« vom existenziellen Ringen amerikanisch-jamaikanischer Migranten und der komplexen Wirklichkeit Schwarzer Identität.
Fünf persönliche Lesetipps zum Jahresende
Das Literaturjahr 2023 klingt aus, ich habe mich in dem Jahr intensiv mit der globalen und lokalen Climate Fiction sowie mit der Vielfalt der DDR- und Wende-Literatur auseinandergesetzt. Die 2024 anstehenden Jubiläen von Franz Kafka (100. Todestag) und James Baldwin (100. Geburtstag) werfen bereits ihre Schatten voraus, dazu demnächst mehr. Ich bin gespannt, was das Jahr darüber hinaus noch an spannenden Debatten und Lektüren bringen wird.
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