Manu Larcenets Comic »Blast. Masse« wurde im Dezember von der Comic-Tagesspiegeljury zum besten Comic des Jahres 2012 gekürt. Mit »Blast. Die Apokalypse des Heiligen Jacky« ist im Mai der zweite Teil der Geschichte des mutmaßlichen Mörders Polza Mancini erschienen. Der vorletzte dritte Teil »Blast. Augen zu und durch« kommt im Dezember in die deutschen Buchläden.
Polza Mancini steht unter Verdacht. Er soll die junge Carole Oudinot auf grausame Weise überfallen haben. Die Frau liegt im Koma. Es gibt zwar kaum Beweise für den Übergriff, aber die Indizien scheinen gegen den massigen Träumer zu sprechen. Zumindest lassen dies die beiden Polizisten vermuten, die Mancini verhören. Im ersten Band verspricht ihnen der Koloss, dass er ihnen alles sagen werde, wenn sie ihm denn geduldig zuhören würden. Denn er werde mit seiner Geschichte am Anfang beginnen und nichts auslassen, bis er am Ende ankomme. Dann würden sie verstehen. Diese Ansage gibt Manu Larcenets sequentieller Erzählung den Rhythmus vor. Die konkrete Verhörsituation wechselt nun regelmäßig mit der Geschichte, die Mancini zu erzählen hat. Und er beweist sich als ein großer Erzähler.
Mancini berichtet den beiden Polizisten vom plötzlichen Tod seines Vaters und den seltsamen Schwindelanfällen, die ihn seither überkommen. Alles begann mit einem Vollrausch, einem Brechreiz, einem Knacken im Kopf und plötzlich erschienen ihm wie in Trance Farben und Formen. Wie in einem Rausch bleibt die Zeit während dieser »Blast’s« – so nennt Mancini diese Anfälle – stehen. Dann driftet er in eine Traumlandschaft, die ihn in die Welt der polynesischen Kultur führt. Diese Anfälle enden meist mit der Erscheinung einer der riesigen Moai-Steinstatuen. Mancini bleibt ebenso leer wie erfüllt zurück. »Einmal so rein und so dumm sein, wie weißes Papier« – nichts scheint die Sehnsucht des Polza Mancini besser auszudrücken, als diese Liedzeile der Band Element of Crime. Diesem rauschhaften Zustand der absoluten Freiheit jagt er fortan nach.
Dafür hängt Mancini sein bisheriges Leben als Schriftsteller an den Nagel, nimmt die Existenz eines Stadtstreichers (nicht die eines Obdachlosen, weil der Stadtstreicher selbst wählt, der Obdachlose aber in seine Existenz gezwungen wird) an und sucht in den Wäldern der französischen Provinz nach einer neuen Existenz. Von dieser Suche, einer Odyssee durch die französische Pampa, in denen Mancini anderen Aussteigern und Überlebenskünstlern begegnet, erzählt der erste Band. Darin versucht er sich zunächst als wilder Camper, schließt sich eine Weile einer illegalen Kolonie an, sucht dann wieder seine Freiheit und kann sich nach einem erneuten, fatalen Anfall mit letzten Kräften in ein Dorf retten, wo man ihm hilft. Er kommt in eine Klinik, aus der er wieder flieht. Polza Mancini will seine Freiheit, die Freiheit des Blast!
Über die Grafik dieser Serie ist schon so gut wie alles gesagt worden. Manu Larcenet, der Meister des humoristischen Comics, des leichten und naiven Strichs, hat sich hier als Zeichner neu gefunden und seine Entwicklung enorm konsequent vorangetrieben. Die farbige Fröhlichkeit seiner autobiografischen Anekdoten von der Rückkehr aufs Land ist hier nicht mehr zu finden. Sie wurde schon in seiner Serie Der alltägliche Kampf immer wieder von der bedrohlichen Dunkelheit einer kalten und menschenfeindlichen Wirklichkeit verdrängt. Kein Wunder, erzählte Larcenet darin doch vom wirtschaftlichen Zusammenbruch seiner Heimatregion. In seiner fiktionalen Blast-Erzählung ist von Fröhlichkeit und Farbenfreude nichts mehr übrig. Der bleiernen Schwere der düsteren Tuschezeichnungen kann nicht einmal die unschuldige Reinheit des durchschimmernden weißen Papiers beikommen. Diese Finsternis steht metaphorisch für die grausame Tat in dieser unmenschlichen Welt, von der hier erzählt wird. Einzig die rauschhaften Anfälle Mancinis, grafisch umgesetzt mit bunten Kinderzeichnungen von Larcenets Töchtern, bringen Erleichterung und Licht in diese finstere Geschichte.
Der zweite Blast-Band Die Apokalypse des Heiligen Jacky beginnt mit einer Situation im Polizeirevier. Wir erfahren, dass Carole Oudinot gerade gestorben ist. Ein dramatisches Mittel, dass uns Lesern vermitteln soll, wie skrupellos und grausam dieser Polza Mancini gewesen sein muss – wofür nach dem ersten Teil ebenso viel wie wenig spricht. Das Verhör wird fortgesetzt.
Mancini erzählt davon, wie er sein Dasein in der Wildnis fortsetzt, nach einem brutalen Überfall sein Lager aber verlassen muss. Darüber hinaus naht der Winter und die Jahreszeit lehrt ihn, was Kälte wirklich heißt. »Sie dreht alles in dir um, sie sticht zu, sie zerreißt dich, sie brennt, sie zerfleischt dich. Dein Körper wird zu einer einzigen Wunde.« (Übersetzung aus dem französischen Original). Mancini flieht vor der Kälte in einsame Häuser, plündert dort die Alkoholvorräte und Medizinschränke – immer auf der Suche nach dem Mittel, dass ihm den zauberhaften Rausch verpasst. Eines Nachts erscheint ihm im Traum eine junge Frau, nackt, die sich auf ihn setzt. … Dieses Geständnis lässt einen der beiden Polizisten ausrasten.
Die atmosphärischen und dynamischen Prozesse, die sich zwischen Mancini und den beiden Polizisten während des Verhörs ereignen, rückt Larcenet hier kurz in den Vordergrund des Comics. Er weiß genau, dass es nicht glaubwürdig wäre, wenn die zwei Ermittler ihren Verdächtigen einfach nur erzählen lassen würden. Es braucht eine Beziehung, um Einlassungen und Abmachungen finden sowie Bedingungen vereinbaren zu können. Diese Beziehung lässt Larcenet hier entstehen.
Die beiden Ermittler legen Mancini das Fahndungsfoto von Jacky Jourdain vor, den er sofort erkennt und ihnen rät, ihn niemals wieder laufen zu lassen, wenn sie ihn haben. Er erzählt seine Geschichte mit dem »Heiligen Jacky«, einem »Retter der verlorenen Seelen« und »echten Wohltäter«. Mit und bei Jacky, der sich sein Leben als knallharter Drogendealer verdient und mit seiner umfangreichen Bibliothek in einer Art Industrietunnel lebt, hat Polza Mancini einen ganzen Winter verbracht. Mancini erzählt die Geschichte zweier Brüder im Geiste, die nicht nur die Sehnsucht nach ihrer Freiheit sondern auch die Liebe zur Literatur teilen. Der heilige Jacky verhilft Mancini mit gutem Stoff zu einigen Blasts, in denen neben Moais nun auch Elefanten erscheinen, deren Intensität aber schnell nachlässt. Im Gegenzug hilft der wuchtige Kompagnon dem heiligen Jacky beim Verticken seiner Drogen. Mancini entscheidet sich eines Tages, auszusteigen und sich wieder auf den Weg zu machen. Einmal noch soll Mancini seinen Kumpel noch unterstützen, doch dabei kommt es zu seinem Zwischenfall, so dass sich die Wege beider auf fatale Weise trennen.
Larcenet hat mit diesem zweiten Album seine grandiose, unter die Haut gehende Geschichte nicht nur souverän fortgezeichnet, sondern sie noch stärker zum Psychogramm des vermeintlichen Täters ausgearbeitet. Er lässt Polza Mancini wehmutsvoll in seine Kindheit zurückblicken. Jetzt erst können wir Leser vieles von dem, was wir bisher am Rande liegengelassen haben, in seiner tiefen Bedeutung erfassen. Wir begreifen, warum Mancini der eigene Gestank nicht anekelt sondern wärmt. Wir verstehen, dass sein Volumen ebenso Schutzschicht wie Last ist, und bekommen eine Idee, warum er bei allem, was er tut, so wenig Rücksicht auf die eigene Unversehrtheit nimmt.
Das faszinierendste an dieser in düster-verwaschenen Zeichnungen erzählten Geschichte ist, dass uns Lesern dieser Polza Mancini von Seite zu Seite sympathischer wird. Je mehr wir uns dem Ende seiner Geschichte – und damit vermeintlich der Tat – entgegenlesen, desto liebenswerter ist er uns. Die Grinsebacke, die die beiden Ermittler immer wieder anstrahlt, scheint einen herzensguten Kern zu haben. Der gutmütige Polza schiebt den mutmaßlichen Mörder Mancini in immer weitere Ferne. Wie Larcenet diese Ambivalenz mit seinen hochemotiven Zeichnungen und poetischen Texten herausarbeitet, sucht seinesgleichen. Am Ende des zweiten Teils dieser fulminanten, auf vier Alben angelegten Geschichte, stehen die Ermittler vor einer Mordserie und sind von ihrem Ziel, Polza Mancini als Täter zu identifizieren, noch weiter entfernt als vorher.
Im dritten und vorletzten Band Augen zu und durch, der im Dezember in Deutschland erscheint, dreht Larcenet die Schraube des selbstzerstörerischen Daseins von Polza Mancini noch um einige Umdrehungen weiter. Mancini wird seine Odyssee durch die verfallenen Reste der Zivilisation fortsetzen, ein Haus abbrennen, sich selbst so stark verletzen, dass er in eine psychiatrische Klinik verlegt wird. Dort lernt er den Vater von Carole Oudinot kennen, einen verlorenen Greis, der ebenso wie Mancini von der polynesischen Kultur fasziniert ist und wegen seiner besonderen Begeisterung für alternative Pornografie in der Klinik gelandet ist. Mancini hat aus der Klinik ab und schlägt sich wieder in die Wälder durch. Er findet ein Gebiet, in dem hunderte polynesische Steinköpfe in Bäume geschnitzt sind und lässt sich dort nieder. Doch dort, wo er dem Glück scheinbar am nächsten ist, erlebt Polza Mancini sein größtes Martyrium. Noch weiß niemand (außer Larcenet), wie das Ganze enden mag, aber richtig gut kann es nicht mehr werden.
Manu Larcenet legt mit Blast den Strom an den Stuhl, auf dem seine Leser sitzen. In der Manier eines Milgram-Probanden erhöht er mit jeder Seite die Spannung, die uns durchfließt. Larcenet lässt uns mit dieser gleichermaßen berührenden wie erschreckenden Geschichte voller Gefahren in die Abgründe der ach so zivilisierten Moderne schauen… und erzittern.