Literatur

Ein Haus in Flammen

© Thomas Hummitzsch

Paul Murrays Familien-Epos erzählt von einer Familie, die unter dem Druck der zahlreichen Krisen und der Vergangenheit in sich zusammenfällt. »Der Stich der Biene« stand im vergangenen Jahr auf der Shortlist des Booker Prize und gehört zu den mitreißendsten Lektüren des Frühjahrs.

»Manchmal schreckte er ruckartig aus dem Schlaf hoch – dann schaute er von außen auf sein Leben, wie man vielleicht auf die Facebook-Seite eines schon lange verschollenen Freundes schaute, auf der die Jahre in eine Serie von Bildern ineinander geschoben waren, banal und gleichzeitig nicht fassbar.«

Familienvater Dickie Barnes ist nicht der einzige, der in Paul Murrays vielgelobten Roman »Der Stich der Biene« irritiert auf sein Leben schaut. Diese fesselnde Erzählung ist das vielschichtige Porträt einer Familie im freien Fall, die nach dem Moment, ab dem alles schief lief, ebenso sucht wie nach einem rettenden Fallschirm.

Paul Murray: Der Stich der Biene. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Antje Kunstmann Verlag 2024. 700 Seiten. 30,- Euro. Hier bestellen.

Die Barnes sind eine irische Mittelstandsfamilie, die bis zur Wirtschaftskrise ein mehr oder weniger gesichertes Leben geführt haben. Doch das von den Eltern geerbte Autohaus wirft nicht mehr die erhofften Einnahmen ab. Familienvater Dickie wirft sich aber nicht in die Bücher, um zu retten, was zu retten ist, sondern vergräbt sich wortwörtlich im nahe gelegenen Wald. So bekommt er auch nicht mit, dass seine schöne Frau Imelda, die Armut und Vernachlässigung nur zu gut aus ihrer eigenen Kindheit kennt, längst nach eigenen Wegen aus der Krise sucht. Auf Ebay verschleudert sie nicht nur das Hab und Gut der Familie, sie lässt sich auch auf die Avancen eines vermögenden Nachbarn und notorischen Schürzenjägers ein.

Die beiden Kinder Cass und PJ verlieren die Eltern aus den Augen. PJ ist wie viele in seinem Alter ein notorischer Zocker. Dem Jungen fehlt der Halt, die Angst vor einer Trennung seiner Eltern treibt ihn on- wie offline in die Arme von Rattenfängern. Er läuft einem Faschismus-Fanboy seiner Schule hinterher, mit dem er krude Rollenspiele im Wald nachstellt, in den digitalen Welten verliert er sich in Ballerspielen und Game-Communitys, wo es vor zwielichtigen Figuren nur so wimmelt.

Cass wiederum steht kurz vor ihrem Schulabschluss und ist das erste Mal richtig verknallt. Ihre beste Freundin hat ihr den Kopf verdreht und Cass durchläuft das, was man eine queere Identitätsfindung nennen könnte. Dass das in der irischen Provinz kein Vergnügen ist, kann man sich gut vorstellen.

»Der Stich der Biene« ist ein warmherzig erzähltes Familien-Epos, das auf 700 Seiten die Ängste und Nöte, Wünsche und Hoffnungen der Barnes-Familie vermisst. Witz, Tiefe, Schmerz und Trauer, alles ist da und grandios arrangiert.

Paul Murray | Copyright: Chris Maddaloni
Der irische Autor Paul Murray | Copyright: Chris Maddaloni

Dieser Pageturner ist auch deshalb so gelungen, weil Paul Murray jeder seiner Figuren eine authentische Stimme gegeben hat. Bei Cass und PJ dringt der kindlich-trotzige Ton durch, den von sich selbst und ihrer Umwelt genervte Teenager gern an den Tag legen, aber auch ihre Umwelt – hier die emotionalen Debatten um Gender und queere Selbstbehauptung, dort das aggressive Austeilen in den Chats – wird sprachlich genau eingefangen. Die von einer inneren Unruhe getriebene Imelda spricht ohne Punkt und Komma, die Angst vor dem erneuten Abstieg schwingt in ihrem Redeschwall mit. Dickie taucht mehr und mehr in die Manie von Verschwörungstheorie und Verfolgungswahn ab, all das Krude und Verworrene findet sich auch in seiner Stimme wieder.

Mal nachdenklich-melancholisch, mal verzweifelt-panisch und doch auch immer wieder hoffnungsvoll kommen Dickie, Imelda, PJ und Cass im Wechsel zu Wort. »Wie bricht man einen Fluch? Sind wir schlechte Menschen? Habe ich falsch gehandelt? Was wird aus uns?« Das sind die zentralen Fragen, die der von Wolfgang Müller nicht immer überzeugend übersetzte Roman stellt. Die durchweg rotzige Sprache passt zwar zur Welt, in der Murray seine Charaktere verortet, an einzelnen Stellen wirkt die Übersetzung aber wie eine ungelenke Eins-zu-Eins-Übertragung des Originals.

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Zwischen irischer Kleinstadt und dem verheißungsvollen Dublin verhandelt Murray die großen Themen unserer Zeit: Finanz- und Klimakrise, Homophobie und Gewalt, Verschwörungstheorien und die Gefahren in der digitalen Welt, der Aufstieg des Faschismus und die »Pornification« der Welt, Identität und den Wunsch danach, sich angenommen zu fühlen. Die Frage, die über allem steht: Hat man sein Schicksal selbst in der Hand oder ist man Gefangene:r des Schicksals?

Murray war neben Paul Harding und Paul Lynch einer der drei Pauls, die im vergangenen Jahr auf der Shortlist des renommierten Booker Prize standen. Die Jury für den Booker Prize lobte den Roman als »sehr witzige, traurige und wahrhaftige Geschichte der Familie Barnes, die im heutigen Irland spielt und mit viel Witz und Mitgefühl geschrieben wurde.«

Am Ende setzte sich Paul Lynch mit seiner irischen Dystopie »Prophet Song« beim Rennen um den Preis durch, im Herbst soll die Übersetzung von Eike Schönfeld bei Klett-Cotta erscheinen. Murrays »Der Stich der Biene« gewann schließlich den An Post Irish Book Award für den Roman des Jahres und wurde von der New York Times zu einem der besten Bücher des Jahres gekürt.

Autoren wie Bret Easton Ellis, Leïla Slimani und Gary Shteyngart gehören zu den begeisterten Leser:innen der Romane von Paul Murray, der mit der Finanzkapital-Satire »Der gute Banker«, dem College-Roman »Skippy stirbt« und dem Gesellschaftsroman »An Evening of Long Goodbyes« hier viele Fans gefunden hat.

Zu dem Erfolg hat zweifellos auch beigetragen, wie er die Gegenwart mit der Vergangenheit seiner Figuren verknüpft. Der titelgebende »Stich der Biene« erklärt sich aus einem Geheimnis, das Imelda Barnes mit sich herumträgt. Ihre Herkunft aus bitteren Verhältnissen trägt sie ihr Leben lang mit sich herum, sie machen sie anfällig für jedes Aufstiegsversprechen, das sich ihr bietet. Überall im Haus der Familie hängen Fotos ihres neuen Lebens an Dickies Seite, aber ausgerechnet von ihrer Hochzeit gibt es keine Aufnahme. Dahinter verbirgt sich eine Geschichte von Verlust und Gewalt, von unterdrückten Leidenschaften und pragmatischen Lösungen, die das dunkle Zentrum dieses bis zum Schluss mitreißenden Romans bildet.

So taucht diese Erzählung in die generationsübergreifenden Traumata seiner Protagonist:innen ein und verbindet diese eindrucksvoll mit Identitätsfragen, Abstiegsängsten und den Bedrohungen des Klimawandels. Am Ende stolpern alle über die Fallstricke von Liebe, Lügen und Verlust, die fatalen Konsequenzen dessen werden Dickie in seinem Bunker bewusst, als er von seinen Ängsten eingeholt wird. »In seinem Kopf stürzten Gemäuer ein und brannte Gebälk, ein Haus in Flammen.«