Urlaubszeit ist Lesezeit. Das trifft nicht für alle zu. Viele nutzen die freien Tage auf der Sonnenliege oder am Bergsee lieber für ein gutes Hörbuch. Sieben Audio-Empfehlungen für den Sommer.
Bevor der Tag beginnt
„Liebe Kirschen, Euer Brief ist traurig und kann einen traurig machen. Ich könnte Euch auch was über Stimmungen erzählen. Aber wisst ihr, man muss glaub ich darüber hinweg kommen, und sich alles genau ansehen, was man geschrieben hat, muss sich selbst überprüfen, ob man es ohne Hintergedanken geschrieben hat und es immer und überall verteidigen könnte“, schrieb Christa (mit Gerhard) Wolf im Januar 1963 an Sarah (und Rainer) Kirsch und schon aus diesen wenigen Zeilen klingt die Vertrautheit heraus, die zwischen den beiden Schriftstellerfamilien – die einen in Berlin Pankow, die andere in Halle an der Saale. Fast drei Jahrzehnte lang standen die Wölfe und die Kirschen in engem Kontakt, tauschten sich über Alltägliches und Privates, aber auch über Politisches und Poetisches aus, bis die Freundschaft kurz nach der Wende an unterschiedlichen politischen Vorstellungen zerbrach. Aber diese drei Jahrzehnte hatten es in sich, wie die pointierte Lesung von Iris Berben und Sandra Quadflieg ausgewählter Briefe zeigt, denn immer wieder ging es auch darum, wie sie unter den politischen Gegebenheiten überhaupt schreiben können. Man folgt ihren Gedanken über den Kreislauf aus Leben, Schreiben und Wirken, den Einflüssen von außen und dem inneren Drängen. Vor allem aber fanden hier zwei Autorinnen ineinander jeweils sehr genaue Leserinnen, die sich in der gegenseitigen Lektüre hielten und erkannten.
Für die Strandmatte
Eine französisch-marokkanische Ehe in den vierziger Jahren. Kann das gut gehen? Davon handelt der neue Roman von Prix-Goncourt-Preisträgerin Leïla Slimani (»All das zu verlieren«, »Nun schlaf auch du«). Im Mittelpunkt steht Mathilde, die sich in den marokkanischen Offizier Amine verliebt und ihm in seine Heimat folgt. Doch dort stellt sie fest, dass Vorurteile und kulturelle Unterschiede von der Liebe nicht einfach ausgemerzt werden. Der französische Kolonialismus wird ihr während der ausbrechenden Unabhängigkeitskämpfe in Marokko ebenso zur Stolperfalle wie die patriarchalen Traditionen der Kultur ihres Mannes. Aber Mathilde kämpft und diesen Kampf beobachtet der Roman nüchtern, aber klar. Slimani weitet aber den Blick auf die Welt, die ihre Figur umgibt, auf die Familie ihres Mannes, in der der Durst nach Unabhängigkeit zwei ganz unterschiedliche Wege findet. »Das Land der anderen« ist ein Roman über eine Frau, die die Fremde zu ihrer Heimat machen will, ohne ihre Selbstbestimmung aufgeben zu wollen, aber auch eine Geschichte über ein Land, das nach Unabhängigkeit dürstet. Ein großer Roman über Liebe, Macht und Identität, wunderbar eingelesen von Wiebke Puls.
Politik für Unterwegs
Das Strafverfahren vor dem Oberlandesgericht in München galt als juristischer Jahrhundertprozess und hat doch so viele enttäuscht. Wie das kommen konnte, lässt sich kaum sagen, aber wie der NSU-Prozess verlaufen ist, schon. Das Dokumentarhörspiel »Saal 101« zeichnet das Verfahren auf Basis der Protokolle der ARD-Berichterstatter nach, denn ein Audio- oder Videomitschnitt von Gerichtsprozessen ist in Deutschland nicht erlaubt. Wie ein Kaleidoskop wird hier der Versuch gemacht, die Geschichte des Nationalsozialistischen Untergrunds zu rekonstruieren, die Zusammenhänge zwischen den Taten aufzuzeigen, das Umfeld von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe sowie deren Unterstützer Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze zu beleuchten und den Verlauf des Prozesses und der Erwartungen der Beteiligten einzuordnen. Das Hörspiel überzeugt in seiner Vielstimmigkeit, die sich nicht an den auftretenden Figuren orientiert, sondern an Situations- und Ebenenwechseln. So entsteht ein klares Bild vom größten Rechtsterrorismus-Prozess der deutschen Geschichte, indem nüchtern Fakten von Mutmaßungen, Aussagen von Vorhaltungen, Protokollauszüge von Berichterstattung und Nacherzählungen von Zeugenaussagen getrennt werden – um sie schließlich wieder in einen Zusammenhang zu den Taten zu bringen, auch wenn die zugrundeliegenden Ereignisse monate- oder jahrelang auseinanderliegen. Wer den NSU-Prozess verstehen und den Hintergründen auf die Spur kommen will, kommt an diesem bedrückenden, schockierenden und erhellenden Hörspiel nicht vorbei.
Geschichten für Zwischendurch
Und sofort ist man drin, in der magischen Welt des Haruki Murakami, auch wenn man in dem Band »Erste Person Singular« viel weniger Zeit hat. Neun schmale Erzählungen legt der Japaner hier vor, die alles haben, was man sich von ihm wünscht. Surrealistische Träume, ambivalente Gefühle und rätselhafte Beziehungen treffen auf seine Lieblingsthemen Musik, Sport, Philosophie und Sex – all das garniert mit dem typischen Spiel mit vermeintlich autobiografischen Elementen. Man darf den Titel wortwörtlich nehmen, die Ich-Perspektive ist die prägende dieser Erzählungen, die oft von jungen Männern handeln, die journalistische oder literarische Ambitionen verfolgen oder bereits reüssiert haben. Unerwartete Begegnungen, vielsagende Unterhaltungen und erotische Abenteuer werden nicht nur einmal zum Ausgangspunkt ihres Schreibens. Nach der fulminanten Lesung der Neuübersetzung der »Chroniken des Aufziehvogels« führt Frank Arnolds Stimme auch hier sicher durch die geheimen Gänge von Murakamis Literatur, die einmal mehr vom Leben als verschlüsseltes Mysterium erzählt. Auch wenn diese Erzählungen den Murakami-Kosmos nicht erweitern, so zementieren sie – stilsicher und packend – das Fundament dieses großen Werkes.
Endlich Zeit für einen Klassiker
Ausgezeichnet mit dem Pulitzerpreis und dem National Book Award gehört Thomas Pynchons »Die Enden der Parabel« zu den Kultromanen der Moderne, die man gelesen haben muss. Viele von denen, die es versucht haben, sind gescheitert an diesem Monument, das um den Raketenkrieg der Engländer und den Niedergang des Dritten Reiches kreist. Pynchons Erzähler betrachtet dabei vor allem die Ereignisse rund um den sexsüchtigen GI Tyrone Slothrop, dessen Libido irgendwie mit den Einschlägen der deutschen V2-Raketen in Verbindung steht. Als der nach Kriegsende der Rolle der deutschen Großindustrie in der Vernichtungsmaschine Nazideutschlands immer näher kommt, greifen Paranoia und Konspiration um sich. Über zwei Jahre hat sich Klaus Buhlert in die Erarbeitung und Produktion einer sensationellen akustischen Version des fast 1.200 Seiten umfassenden Werks gekniet, nachdem Pynchon erstmals der Vertonung seiner Literatur zugestimmt hat. Und er hat sich einmal mehr übertroffen, nicht umsonst ist diese rauschende, brüllende und knisternde Vertonung mit dem Deutschen Hörbuchpreis 2021 ausgezeichnet worden. Eine bessere Chance, diesen literarischen Klassiker des 20. Jahrhunderts zu hören, werden Sie nicht bekommen.
Träume in der Abendsonne
Im Proust-Jahr kommt man an dem großen Franzosen auch im Hörbuch nicht vorbei. Natürlich könnte man sich noch einmal die wunderbar schnurrende Lesung der Gesamtausgabe seiner »Suche nach der verlorenen Zeit« von Peter Matic auf das Abspielgerät laden, aber der Platz für den Klassiker ist schon vergeben und bei über 150 Stunden Laufzeit bräuchte es ohnehin eher ein Sabbatical, als einen Sommerurlaub. Deutlich kürzer und eigentlich viel zu kurz sind die frühen Erzählungen, die zum 150. Geburtstag des großen Romanciers unter dem Titel »Der geheimnisvolle Briefschreiber« erstmals veröffentlicht werden. Kaum älter als 20 Jahre schrieb Proust diese sechs Kurzgeschichten, die von Liebe, Glaube und Hoffnung handeln. Schon als junger Autor konnte er deren Vibrationen und Schwingungen beschreiben wie kaum ein anderer. Dazu kommt ein wenig Skandal, etwa wenn sich in der titelgebenden Erzählung hinter dem geheimnisvollen Briefschreiber eine Frau verbirgt oder ein Hauptmann einem Gefreiten gegenüber Gefühle empfindet und Proust so über gleichgeschlechtliche Liebe in einer von der katholischen Moral beherrschten Gesellschaft schreibt. Das empfindsame Timbre von Cédric Cavatores Stimme passt perfekt zu diesen zarten Erzählungen.
Statt Tatort und Netflix
Nebel und Rauch hängen über den Straßen von Manchester im Jahr 1867, als im Morgengrauen drei Mitglieder einer irischen Geheimorganisation gehängt werden. Manchester, wo der Siegeszug des Raubtierkapitalismus mit der Ausbeutung der Industriearbeiter begann, ist in Ian McGuires neuem Roman Ausgangspunkt einer Geschichte, die sich in die Abgründe des Konflikts zwischen Iren und Engländern begibt. Der Tod der drei Fenians schreit nach Rache, wofür der Ire Stephen Doyle angeheuert wird, der sein Level an Grausamkeit als Veteran im amerikanischen Bürgerkrieg ins Maximum gesteigert hat. Ihm gegenüber steht ebenfalls ein Ire, der strafversetzte Polizist James O’Connor, der seit dem Tod seiner Frau mehr ins Glas als nach dem Rechten schaut. Als Teil der englischen Polizei steht er nun als Abstinent zwischen den Fronten in einer archaischen, von männlicher Brutalität geprägten Welt. McGuire blickt in diesem Roman ins Auge des Orkans der Gewalt und beobachtet, wie sie an den Rändern ausufert und diese Gesellschaft erfasst. Lebhaft, atmosphärisch dicht und ohne Umschweife zielt McGuire mit dieser Geschichte aufs Elementare. Dazu passt die vielstimmige Lesung von Tobias Kluckert, dessen raue Stimme genau dorthin geht, wo die Geschichte einschlägt: in die Magengrube.
Alle vorgestellten Hörbücher sind über die etablierten Audio-Bibliotheken buchbar.
[…] den Vorjahren hatten Hervé Le Tellier, Jean-Paul Dubois, Nicolas Mathieu, Éric Vuillard und Leïla Slimani den Preis erhalten, der zwar nur mit symbolischen 10 Euro dotiert ist, aber hohe Auflagen im […]
[…] großen Autorinnen der DDR, die nicht zufällig auch nach der Wende viele Leser:innen fand. Der Briefwechsel mit Sarah Kirsch ist bewegend, die politischen Texte sind zeithistorisch erhellend und ihr Roman »Kindheitsmuster« […]
[…] ähnlicher Verspätung flattert nun diese Vertonung von »Internat« ins Haus, die Frank Arnold, einer der besten Sprecher, die wir haben, vorgenommen hat. So überwältigend und lebendig Zhadans […]
[…] oder Boris Vian hergestellt und Verweise zu Roberto Bolaños »Die wilden Detektive« oder zu Haruki Murakamis »Die Chroniken des Aufziehvogels« eingebaut werden oder wenn Elimane in den Dunstkreis von Witold Gombrowicz und Ernesto Sábato […]
[…] nannte er in Frankfurt als prägend für sein Schreiben. Zuletzt machte er seine Begeisterung für Christa Wolf öffentlich. In »Über Christa Wolf« legt er nicht nur die Bezüge zwischen seinem Werk und dem […]