Der japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi gewann mit seiner Murakami-Verfilmung »Drive My Car« einen Oscar. Nun ist sein neuer Film »Evil Does Not Exist« im Kino zu sehen, der in meditativen Bildern dem Raubbau des Menschen an der Natur auf den Grund geht.
Es ist die perfekte Harmonie, die Ryusuke Hamaguchi in den ersten Minuten seines neuen Films abbildet. Minutenlang fährt die Kamera durch einen Wald und blickt von unten in die Baumkronen eines in winterlicher Stille ruhenden Waldes. Durch den streift die neugierige Hana (Ryo Nishikawa) täglich, wenn sie ihr Vater Takumi (Hitoshi Omika) von der Schule abholt.
Das Leben in dem kleinen Dorf Mizubiki abseits von Tokio hat einen Rhythmus, den Großstädter fast schon vergessen haben. Hier geben die Jahreszeiten noch den Takt des Lebens vor. Takumi hackt Holz, liefert dem lokalen Udon-Restaurant frisches Quellwasser, damit die Nudeln besser schmecken, und bringt seiner Tochter die Geheimnisse der Natur nahe. Er ist eine Art moderner Waldläufer, ein Eigenbrötler im Hipsterlook, dem die Harmonie von Mensch und Natur am Herzen liegt.
Die gerät in Gefahr, als eine Tokioter Künstleragentur in dem Ort aufschlägt, um einen Luxus-Campingplatz zu installieren. Es wird eine Versammlung einberufen, bei der die Anwohner ihre Bedenken vortragen. Sie sorgen sich nicht nur um die Reinheit des Grundwassers, das in dem Ort eine besondere Rolle spielt, sondern auch um ihre Lebensweise im Einklang mit der Natur. Den beiden Vertreter:innen des Unternehmens wird schnell klar, dass das Projekt nicht durchdacht ist, mit ihren Argumenten dringen sie bei ihrem Vorgesetzten aber nicht durch. Der will die Anlage mit Corona-Hilfen umsetzen und schickt seine beiden Lakaien zurück, um Takumi für das Projekt zu gewinnen.
Ryusuke Hamaguchi, dessen Verfilmung von Haruki Murakamis Kurzgeschichte »Drive My Car« vor zwei Jahren mit dem Oscar für den besten internationalen Film ausgezeichnet wurde, hat mit »Evil Does Not Exist« bei den letzten Filmfestspielen in Venedig mehrere Preise gewonnen. In langsamen Bildern und leisen Tönen erzählt er von einer Welt, die im Schwinden begriffen ist, weil längst auch die Abgeschiedenheit ein Gut ist, das man zu Geld machen kann.
Mit wenigen Figuren erzählt er einmal mehr von Menschen, die in Abgründe blicken. Bei Tamaguchi ist es die drohende Vertreibung aus dem Paradies, bei Takahashi (Ryuji Kosaka) und Mayuzumi (Ayaka Shibutani), die im Namen der Agentur den Campingplatz auf den Weg bringen sollen, ist es das eigene Leben. Ihre Autofahrt von Tokio in der Provinz ähnelt dem Spritztouren, die der Regisseur Yusuke und die Fahrerin Misaki in »Drive My Car« in und um Hiroshima unternehmen. Langsam und scheu umkreisen Takahashi und Mayuzumi die Fragen, die sie bewegen. Ist es okay, die Harmonie der Dorfbewohner zu stören? Macht dieser Job irgendeinen Sinn? Und ist das überhaupt ein Leben, das sie führen wollen?
Je mehr Zeit sie in und um Mizubiki verbringen, desto stärker nehmen sie den Rhythmus dieses Landstrichs auf. Takahashi fragt irgendwann nach der Axt, mit der Takumi sein Holz spaltet, um es selbst zu versuchen. Als er scheitert, rät ihm Takumi, »nicht gegen die Faser zu arbeiten«. Die Axt müsse in die Faser fallen, dann spalte sich das Holz wie von allein. Dann lehnt sich Takumi innerlich zurück, steckt sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an und sieht zu, wie die Axt durch das Holz gleitet.
»Evil Does Not Exist« ist eine Wohltat für die Seele, weil hier alles in eine vollständige Balance gebracht ist. Da ähnelt Hamaguchis Film Wim Wenders Porträt »Perfect Days«, das für Japan um den Auslandsoscar konkurrierte. Vielleicht kein Zufall, im Filmmagazin Ray spricht der Japaner voller Respekt von Wenders Arbeit und führt ihn unter seinen filmischen Vorbildern auf.
Sein siebenter Film ist auch ein Fest für das Auge. Behutsam tastet Yoshio Kitagawa mit seiner Kamera die majestätische Landschaft am Fuß des Mount Fuji ab, die er in poetisch-kontemplativen Bildern mal als umwerfende Kulisse und dann wieder in all ihren Details abbildet. Er beobachtet, wie sich die Dinge entfalten und übernimmt dabei Hanas staunenden Blick. Dabei entwickelt sich der Wald von Mizubiki zu einem eigenen Akteur, der die Handlung unweigerlich vorantreibt. Die Dinge, die sich ganz beiläufig in ihm ereignen, kündigen auf beunruhigende Weise ein Dunkel an, das sich am Ende über die geheimnisvollen Bilder legt.
Die Musik von Eiko Ishibashi, die schon den Score von »Drive My Car« beigesteuert und nun auch das Drehbuch mitgeschrieben hat, »übersetzt und verstärkt die Nuancen in den Aufnahmen des Walds«, erklärte Hamaguchi jüngst in der Wochenzeitung Die Zeit. Subtil nimmt der elektrische Sound das nervöse Zittern der Blätter im Wind, das verführerische Plätschern des kristallklaren Bachs und die Kraft des wilden Wasabi akustisch auf, als hätte man nur lang genug in den Wald hineingelauscht.
Ein Glück ist auch der Cast, der sich einpasst in die Idee der Harmonie. Kein Wort und keine Geste sind zuviel, ein weniger von allem würde den Film aber im Mythos ersticken. Hitoshi Okima, den man schon aus Hamaguchis in Berlin ausgezeichneten Tryptichon »Wheel of Fortune and Fantasy« kennt, sowie die charismatischen Newcomer Ryuji Kosaka, Ayaka Shibutani und Ryo Nishakawa setzen das komplexe Verhältnis von Mensch und Natur unaufdringlich ins Bild.
Reden und Schweigen stehen in einem vielsagenden Abhängigkeitsverhältnis und sind perfekt ausbalanciert. Immer wieder scheint das Reden das Schweigen und das Schweigen das Reden zu verlängern, um so die tieferen Ebenen des menschlichen Miteinanders zu erkunden.
»Evil does not exist« – nicht zu verwechseln mit Mohammad Rasoulofs Drama »There is no Evil« – stellt nicht die Frage, ob es das Böse gibt, sondern zeigt, dass es eine Harmonie gibt, die in Gefahr gerät, wenn der Mensch sich ihr nähert. Mehrmals blickt man dem Bösen in diesem Film ins Antlitz, ohne sich dessen bewusst zu sein. Das Drama unter den Bildern entwickelt sich langsam aus den Details heraus, um schließlich wie ein Faustschlag in die Magengrube zu fahren. Ein Meisterwerk.