Literatur, Roman

Stark sein

© Thomas Hummitzsch

Die Französin Constance Debré schmeißt erst ihren Job als Anwältin hin, verlässt dann Mann und Kind und kündigt sogar ihre Wohnung, um neu anzufangen. In ihrem autobiografischen Roman »Love me Tender« schreibt sie über den aufreibenden Kampf, dem bürgerlichen Leben eine Absage zu erteilen und dennoch bei sich zu bleiben.

Constance Debré hat alles, was es braucht, um in Frankreich durchzustarten. Sie kommt aus einer gesellschaftlich anerkannten Familie und hatte so Zugang zu exklusiven Kreisen. Ihr Großvater Michel Debré war Justizminister unter Charles de Gaulle, ihr Onkel Innenminister unter Allain Juppé. Das Model Maylis Ybarnégaray und der Journalist Francois Debré sind ihre Eltern. Sie besuchte das renommierte Lycée Henry IV, studierte anschließend Jura und machte ihren Abschluss an der Elite-Hochschule ESSEC. Anschließend arbeitete sie überaus erfolgreich als Anwältin und Strafverteidigerin. Nebenher schrieb sie Bücher, 2008 bringt sie einen Sohn zur Welt, 2015 bricht sie mit ihrem bürgerlichen Leben. Sie kündigt ihren Job, verlässt Mann und Kind und zieht in ein neun Quadratmeter großes Zimmer, um dort über ihr Leben abseits der gesellschaftlichen Norm zu schreiben.

»Alles ist durcheinander, alles, was ich zum Fenster rausgeschmissen habe, die Dinge, der Job, die Kohle, die Familie. Auch alles, was mir passiert, was mir nun endlich passiert«, schreibt die 1972 in Paris geborene Autorin in ihrem autofiktionalen Roman »Love me Tender«, mit dem die Französin hierzulande debütiert. Es ist der mittlere von drei autofiktionalen Werken – »Playboy« (2018) »Love me Tender« (2020), »Nom« (2022) –, die zwischen 2018 und 2022 in Frankreich erschienen sind und um die Suche nach dem richtigen Leben im Falschen kreisen. Der nun vorliegende Roman ist ein gleichermaßen schonungsloses wie empfindsames Werk, in dem sie über ihren Kampf als Mutter, ihre queere Existenz und gesellschaftliche Zustände schreibt.

Constance Debré: Love me Tender. Aus dem Französischen von Max Henninger. Verlag Matthes & Seitz Berlin 2024. 149 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen.

»Ich glaube, wenn ich mich damit zufriedengegeben hätte, auf Frauen zu stehen, wäre alles halb so wild gewesen. Lesbe, aber außerdem Anwältin, mit demselben Leben wie vorher, demselben Einkommen, derselben Erscheinung, denselben Ansichten, dem gleichen Verhältnis zu Arbeit, Geld, Liebe, Familie, Gesellschaft, Materie, Körper, Ideal. Hätte ich mein Verhältnis zur Welt nicht geändert, hätte ich weniger Ärger gehabt.«

Der Ärger, von dem hier die Rede ist, meint den Kampf um ihren Sohn Paul, der eskaliert, als sie sich für ein Leben abseits der gesellschaftlichen Standards entscheidet. Debrés Ex-Mann Laurent hält sich nicht mehr an den verabredeten wöchentlichen Wechsel, angeblich wolle Paul nicht mehr zu ihr kommen. Immer öfter steht sie, wenn sie ihren Sohn besuchen will, vor verschlossenen Türen, bald darf sie die Wohnung nicht mehr betreten.

Juristisch bewandert beschließt sie, dagegen vorzugehen und zieht vor Gericht. Doch statt einer schnellen Klärung zieht sich der Prozess hin. Aufgrund ihrer unsteten Lebensverhältnisse – irgendwann kündigt sie selbst ihr kleines Zimmer und lebt bei ihren wechselnden Affären – wird ihre Tauglichkeit als Mutter infrage gestellt. Gutachten werden verlangt, Experten angehört, ein Verein eingeschaltet, in dessen Räumen sie Paul nur unter Aufsicht treffen darf. Doch der hat keine freien Termine, wie auch das Gericht keinen Termin findet, um ihren Fall abschließend zu behandeln.

Monate vergehen, ohne dass sie Paul auch nur einmal zu Gesicht bekommt. Er ist ein zermürbender Kampf, den sie führt, weil die Entscheidung, ein selbstbestimmtes Leben abseits der Norm zu führen, ständig gegen sie ausgelegt wird. »Wenn ich wenigstens wüsste, woran ich bin. Das Nichtwissen ist das Unerträglich, die Zeit ohne Perspektive, die Anwälte, Richter und Pädagogen, der Verein, der Überdruss, die Erschöpfung. Zuletzt weiß ich nicht einmal mehr, wovon ich rede, was ich empfinde oder denke, ich weiß nicht mehr, wer er ist, ob er noch existiert oder nur noch aus Phrasen in meinem Gehirn besteht, etwas von mir Erfundenes. So in etwa, sage ich mir, muss es sich anfühlen, verrückt zu sein.« Nach Monaten ohne Veränderung schreibt sie: »Ich fühle mich wie eine Laborratte, die zu festen Zeiten die gleiche Handlung ausführt und den gleichen Stromschlag bekommt, ohne Ausweg.«

Am Leben hält sie in dieser Zeit das Schreiben und ihr queeres Erwachen, das sie intensiv auslebt. »Es bringt mich auf andere Gedanken, mich richtig ficken zu lassen«, schreibt sie an einer Stelle im Buch. Fast täglich trifft sie neue Frauen, mit denen sie sich auf ein schnelles Abenteuer einlässt. Es sind so viele, dass sie Listen führt und den Frauen bald schon nicht einmal mehr Namen gibt. »Keine gleicht der anderen. Eine Blondine und eine Brünette, eine Alte und eine Junge, eine Dünne und eine Dicke, eine Rasierte und eine Haarige, eine vom rechte und eine vom linken Seine-Ufer.«

In diesen Abenteuern und Affären nimmt die Ich-Erzählerin ihr Leben in die eigenen Hände. Was ihr im Gericht nicht gelingen will, nämlich Hoheit über die eigene Existenz zu erlangen, holt sie sich auf diesem Weg. Zugleich ist ihr promiskuitiver Lebensstil viel mehr als Kompensation. Er ist eine Art Schule, ein Weg zu sich selbst und zum eigenen Begehren. »Ich lerne, dass ich egal wen lieben kann, egal wen begehren, mit egal wem kommen, mich mit egal wem langweilen, egal wen hassen kann, dass es ein schmaler Grat ist zwischen lieben und nicht lieben, ich denke, dass es nicht so schlimm ist, warum muss die Liebe, das Begehren immer mehr als das sein, wozu all das Theater, frage ich mich.« An der Homosexualität interessierten sie nicht »die Frauen, die ich ficke, sondern die Frau, die ich werde«, schreibt sie an einer Stelle.

Diese Frau hat Schluss gemacht mit den bürgerlichen Konventionen und der Illusion der großen, alles umfassenden Liebe; ein Konzept, das sie mit all seiner Heuchelei vollends ablegt. »Um rein zu bleiben, bekreuzige ich mich mit Gleitgel, sage mein Credo mit Jockstrap auf und meine Beichte mit Nippelklemmen. Die Gerechtigkeit ist porno, Liebe und Familie sind porno, nur der Sex kann niemals porno sein. Weil man dabei ausnahmsweise mal die Klappe hält und aufhört zu lügen.«

Dieser auch sprachlich provokante Schlussstrich ist auch eine Kampfansage an die eigene bourgeoise Herkunft. Von der ist aber ohnehin nicht mehr viel übrig. Ihre Mutter starb, als Debré 16 Jahre alt war, ihr an der Sauerstoffflasche hängender Vater lebt verarmt und zurückgezogen in der Provinz, wo sie ihn hin und wieder besucht. Die Beschreibungen erinnern an die soziologisch grundierte, autofiktionale Literatur von Didier Eribon, Éduard Louis und Geoffroy de Lagasnerie, Debrés Familiengeschichte ist auch die der Krise der französischen Gesellschaft. Die prekäre Existenz verbindet Tochter und Vater, viel zu sagen haben sie sich dennoch nicht. »Es wäre nicht dasselbe, wenn es ein Sicherheitsnetz gäbe, eine Familie, auf die Verlass ist, irgendein Erbe, einen Besitzanteil oder einen anderen Menschen. Aber da ist nichts.«

Zwischen den Besuchen beim Vater, ihrer entschlossen unsteten Existenz als queere Frau in Paris und dem Kampf um ihren Sohn Paul bewegt sich Constance Debrés Selbstsuche, in der sie »die Wahrheit des Krieges der Heuchelei des Friedens« vorzieht. Immer wieder horcht sie in sich hinein und geht dem Rauschen, das der Lärm der Welt in ihr verursacht, auf den Grund. Es gibt Momente, in denen sie kurz vor dem Zusammenbruch steht und alles hinschmeißen will. Angesichts der bourgeoisen Angriffe ihrer Existenz kann man es ihr nicht verdenken. Debré aber setzt sich mit bewundernswerter Entschlossenheit zur Wehr. Je mehr man sie in die Ecke treibt, desto energischer erkundet sie die Freiheit, die sich daraus ergibt.

Constance Debrés autofiktionales Tryptichon

»Love Me Tender« ist eine Selbstbefreiung und Offenbarung, eine emotionale Kampfansage an eine Gesellschaft und ihre Institutionen, die queeres Leben und queere Sexualität immer noch als perverse Lebensform canceln. Debré erlebt dies beim Kampf um ihren Sohn am eigenen Leib. Immer wieder stellt ihr Ex-Mann ihre Tauglichkeit als Mutter infrage und begründet das mit ihrer Existenz. Nach Monaten ohne jeden Kontakt darf sie Paul irgendwann zumindest stundenweise und unter Aufsicht treffen. »Wenn ich ihn dort treffe, bin ich wie eine entwurzelte Pflanze, wie in einer Papierkulisse, als hätte ich kein Leben. Er ist von meiner gesamten Welt abgeschnitten, von allem, was ich bin und tue.«

Der Weg, den Constance Debré in diesem Roman nachzeichnet, kennt nur eine Richtung: aus der bürgerlichen Enge heraus hinein in eine geradezu beängstigende innere und äußere Freiheit abseits der romantischen Liebe, die kein Script kennt, sondern sich permanent selbst schreibt. Der Mut und die Entschlossenheit, mit der die Ich-Erzählerin diesen Weg geht, schlägt sich auch im Text nieder, der als Stakkato aus Fragen und Antworten, aus Feststellungen und Beschreibungen, aus Umständen und Zuständen vor uns liegt. Unaufhaltsam folgt hier eins dem anderen, Worte türmen sich zu Kettensätzen auf, in denen sich die Dinge überschlagen.

Von Max Henningers glänzender Übersetzung geht eine Unruhe und Eile aus, die einer zentralen Bewegung der Ich-Erzählerin folgt, die jeden Morgen schwimmen geht. Die Kraulzüge spiegelt Henninger in der Syntax seiner Satzketten, in denen ein Argument dem nächsten folgt, Schlag auf Schlag auf Schlag. Instinktiv hält man den Atem an bei Lesen. Erst am Ende eines jeden Absatzes hebt man den Kopf aus dem Text, schnappt kurz nach Luft, um wieder einzutauchen und sich dem unwiderstehlichen Rhythmus dieses Romans hinzugeben.

Gnadenlos treibt die Sprache die Entwicklung voran, geradezu atemlos enteilt der Text der Vergangenheit und läuft der Gegenwart entgegen. So ist »Love Me Tender« nicht nur das Protokoll der Selbstbehauptung einer queeren Existenz, sondern auch der Sprache gewordene Versuch seiner Autorin, ihrer Zeit voraus zu sein. »Wann machen wir Schluss mit der Liebe? Warum gelingt das nicht? Ich muss es wissen. Ich stelle mir diese Frage.« So beängstigend ehrlich, radikal und zärtlich zugleich, wurde noch nie über diesen permanenten Kampf namens Leben geschrieben.

»Jedenfalls gibt es nichts als Warten, wenn das Schicksal dich auf den Boden drückt«, schreibt Debré. »Du kannst Dich nicht bewegen. Du brauchst es gar nicht erst versuchen. Genau dann muss man stark sein.« Dass es der Französin gelungen ist, stark zu sein, beweist dieser schmale große Roman.