Alice Munro gilt als Meisterin der Short Story. Über ein Dutzend Sammlungen mit Erzählungen hat sie veröffentlicht. 2013 erhielt die »Virtuosin der zeitgenössischen Novelle« den Literaturnobelpreis. Am 13. Mai ist die kanadische Autorin im Alter von 92 Jahren in ihrer Heimat Ontario gestorben. In einem Interview mit dem Magazin »the PARIS REVIEW« sprach sie über ihr Vorgehen beim Schreiben einer Erzählung.
»I made stories up all the time«, erklärte Alice Munro im Gespräch anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises. Sie habe einen langen Schulweg und daher viel Zeit gehabt, sich Geschichten auszudenken, erzählt sie in dem Gespräch, das man immer noch auf der Seite der Schwedischen Akademie lesen kann. Mehr und mehr hätten die Geschichten von ihr selbst gehandelt, als Heldin in irgendeiner Situation. Dabei sei es im Kern immer darum gegangen, dass ihre Heldin mutig, klug und in der Lage war, eine bessere Welt zu schaffen, einfach nur, weil sie es versucht oder magische Kräfte besessen habe.
Die schwedische Akademie zeichnete Munro 2013 als »Virtuosin der zeitgenössischen Novelle« aus. Heute würde man das so nicht mehr sagen – schon weil kaum noch jemand weiß, was eine Novelle eigentlich ist. Im Nachruf des SPIEGEL ist der Passus daher gefälliger mit »Meisterin der zeitgenössischen Kurzgeschichte« übersetzt, das Börsenblatt und der Deutschlandfunk übersetzen ähnlich. Iris Radisch spricht in der ZEIT von »der Königin der Kurzgeschichte« und Meike Fessmann schreibt in der Süddeutschen Zeitung, Munro habe »die Kurzgeschichte revolutioniert«.
Da ist es nur konsequent, dass Patrick Bahners in der FAZ noch einmal den Typos der Short Story à la Munro aufschlüsselt, wenn er schreibt, das die Geschichten der Kanadierin »literarische Fiktionen ohne Redundanz, ohne das Füllmaterial des konventionellen Romans« seien. Katrin Bettina Müller setzt in ihrem lesenswerten Nachruf in der taz einen Akzent, wenn sie Munro »als Meisterin des Understatements« verabschiedet.
Dies alles berücksichtigend scheint es ein ironischer Wink des Schicksals, dass Munros Esprit ausgerechnet im Kafka-Jubiläumsjahr die Welt verlässt. Man möchte gern Mäuschen spielen, wenn der Prager Stilist und die kanadische Prosaistin nun im literarischen Jenseits aufeinandertreffen und einen gemeinsamen Spaziergang unternehmen. Beide wüssten sicherlich eine treffliche Geschichte darüber zu verfassen, Kafka aus weinerlich-männlicher, Munro aus heorisch-weiblicher Perspektive.
Vor ziemlich genau vierzig Jahren spazierten Jeanne McCulloch und Mona Simpson drei Tage mit der Schriftstellerin durch die kanadische Provinz Ontario, wo Munro damals lebte. Für das Magazin »The Paris Review« trafen sie im September 1984 die Autorin, die zum damaligen Zeitpunkt bereits fünf Erzählungssammlungen veröffentlicht hatte. Die amerikanische Schriftstellerin Cynthia Ozick nannte sie damals schon »unser Tschechow« und prophezeite, sie werde »die meisten ihrer Zeitgenossen überdauern.« Was ihre Geschichten ausmachen, worauf sie besonders achtet und warum sie keinen Unterschied zwischen E- und U-Literatur macht, darüber sprach sie mit den beiden Journalistinnen von »The Paris Review«.
Infolge ein Auszug aus dem Gespräch, das 2014 in der inzwischen vergriffenen Ausgabe »the PARIS REVIEW. Interviews – 02« in der Übersetzung von Alexandra Steffes in der Edition Weltkiosk erschienen ist.
INTERVIEWER: Wenn Sie anfangen, eine Geschichte zu schreiben, wissen Sie dann schon, was für eine Geschichte es sein wird? Steht die Handlung schon fest?
MUNRO: Nicht vollständig. Jede Geschichte von Wert wird sich verändern. Im Moment beginne ich eine aus dem Blauen heraus. Ich arbeite jeden Morgen an ihr, und sie geht gut von der Hand. Ich mag sie nicht sehr, aber ich denke, dass ich mich an irgendeinem Punkt in sie hineingefunden haben werde. Normalerweise kenne ich die Geschichte sehr gut, bevor ich anfange, sie aufzuschreiben. Als ich noch keine geregelten Zeiten hatte, die ich auf das Schreiben verwenden konnte, arbeiteten Geschichten einfach vorher in meinem Kopf, so dass ich, wenn ich anfing, sie aufzuschreiben, tief in ihnen drinsteckte. Jetzt mache ich diese Arbeit, indem ich Notizbücher vollschreibe.
Sie verwenden Notizbücher?
Ich besitze stapelweise Notizbücher, die diese schrecklich unbeholfenen Notizen enthalten, alles, was man einfach so hinschreibt. Ich frage mich oft, wenn ich diese ersten Entwürfe anschaue, ob überhaupt irgendein Sinn dahintersteckt. Ich bin das Gegenteil einer Autorin sprudelnden Talents, wissen Sie, jemand, dem es eingegeben ist. Ich verstehe es oft keinesfalls sofort, wobei ich mit «es» das meine, was ich da gerade zu tun versuche. Ich schlage oft einen Irrweg ein und muss mich dann wieder von da wegholen.
Wie merken Sie, dass Sie sich auf einem Irrweg befinden?
Es kann passieren, dass ich an einem Tag vor mich hinschreibe und denke, dass ich viel zustande gebracht habe; ich habe mehr Seiten geschrieben als sonst. Dann stehe ich am nächsten Morgen auf und merke, dass ich daran nicht mehr weiterarbeiten möchte. Wenn ich große Aversionen habe, mich wieder dran zu setzen, wenn ich mich selber zwingen muss, weiterzumachen, weiß ich, dass etwas sehr schief läuft. Oft erreiche ich bei Dreivierteln meines Schaffens irgendwann einen Punkt, ziemlich am Anfang, an dem ich denke, dass ich die Geschichte fallen lassen werde. Ich quäle mich zwei, drei Tage lang mit einer schlimmen Depression herum, schleiche durch die Gegend. Dann denke ich über etwas anderes nach, das ich schreiben könnte. Es ist wie eine Art Liebesaffäre: Man kämpft sich von all der Enttäuschung und dem Elend frei, indem man mit einem neuen Mann ausgeht, den man eigentlich überhaupt nicht mag, aber das hat man noch nicht bemerkt. Dann kommt mir plötzlich etwas zu dieser Geschichte, die ich beiseitegelegt habe. Ich schaue nach, wie man das machen könnte. Aber das passiert anscheinend nur, nachdem ich schon «nein, das wird nicht funktionieren, vergiss es» gesagt hatte.
Sind Sie immer imstande, das zu sagen?
Manchmal kann ich das nicht und bin den ganzen Tag sehr schlecht gelaunt. Das ist die einzige Zeit, in der ich wirklich reizbar bin. Wenn Gerry mit mir spricht und aus dem Zimmer geht und wieder reinkommt oder wenn er viel herumpoltert, bin ich angespannt und aufgebracht. Und wenn er singt oder so etwas, das ist schlimm. Ich versuche, etwas zu durchdenken und renne einfach vor Wände. Ich komme da nicht durch. Für gewöhnlich treibe ich das eine Weile so, bevor ich dann aufgebe. Dieser ganze Prozess mag sich eine Woche lang hinziehen, diese Zeit, in der ich versuche, die Sache zu durchdenken, sie zu retten, um sie dann aufzugeben und über etwas anderes nachzudenken, bis sie mich dann wieder zurückholt, meist auf ganz unerwartete Weise, wenn ich im Gemüseladen stehe oder draußen umherfahre. Dann denke ich, oh, ich muss es aus der Perspektive von Soundso schildern und diese Figur weglassen und diese Leute sind natürlich nicht verheiratet oder so etwas. Der große Umschwung, der meist ein radikaler ist.
Der dazu führt, dass die Geschichte funktioniert?
Ich weiß noch nicht einmal, ob er die Geschichte besser macht. Was er tatsächlich bewirkt, ist, dass ich daran weiterschreiben kann. Das meine ich damit, wenn ich sage, dass ich nicht glaube, so etwas zu haben, das von mir Besitz ergreift und mir etwas diktiert. Ich scheine nur eine Idee zu erhaschen, von dem, was ich trotz großer Schwierigkeiten schreiben möchte. Und auch das kaum.
Wechseln Sie oft Perspektive oder Tonfall?
Oh ja, manchmal bin ich unsicher und wechsle von der ersten Person wieder und wieder in die dritte. Das ist eins meiner Hauptprobleme. Ich nehme oft die erste Person, um mich in die Geschichte hineinzuversetzen, und fühle dann, dass es aus irgendeinem Grund nicht funktioniert. An diesem Punkt bin ich sehr anfällig für das, was Leute mir raten. Mein Literaturagent mochte die erste Person in The Albanian Virgin (Die albanische Jungfrau) nicht, was mich dazu brachte, das zu ändern, weil ich mir sowieso nicht ganz sicher war. Aber dann änderte ich sie wieder in die erste Person um.
Das erzählerische Werk von Alice Munro
Wie bewusst verstehen Sie, was Sie tun, im Hinblick auf das Thema Ihrer Geschichte?
Nun, es ist nicht sehr bewusst. Ich habe die verschiedenen Arten vor Augen, auf die eine Geschichte schieflaufen könnte. Ich sehe viel leichter die negativen Aspekte als die positiven. Manche Geschichten funktionieren nicht so gut wie andere, und manche Geschichten sind oberflächlicher in ihrem Entwurf als andere.
Oberflächlicher?
Sie fühlen sich für mich oberflächlicher an. Ich fühle mich ihnen nicht sehr verbunden. Ich habe neulich Muriel Sparks‘ Autobiographie gelesen. Da sie Christin ist, eine Katholikin, denkt sie, dass Gott der wahre Autor sei. Und wir täten gut daran, nicht zu versuchen, diese Autorität an uns zu reißen, nicht zu versuchen, etwas zu schreiben, das von der Bedeutung des Lebens handelt, das etwas zu ergründen versucht, was nur Gott ergründen kann. Also schreibt man Unterhaltung. Ich glaube, das ist es, was sie meint. Ich denke, ich schreibe manchmal Geschichten, die von mir als Unterhaltung gedacht sind.
Können Sie ein Beispiel geben?
Nun, ich denke, dass The Jack Randa Hotel (Das Jack Randa Hotel), eine Geschichte, die ich ziemlich mag, als Unterhaltung funktioniert. So hätte ich es jedenfalls gern. Wogegen eine Geschichte wie Friend of My Youth (Friend of My Youth) nicht als Unterhaltung funktioniert. Sie funktioniert irgendwie anders. Sie hat für mich die größte Tiefe.
Sie zerbrechen sich über diese Stücke, die Sie Unterhaltung nennen, genauso den Kopf wie über Ihr zentrales Material?
Ja, das stimmt.
Alice Munro hat über ein Dutzend Storysammlungen veröffentlicht. Zu den bekanntesten Werken zählen »Wozu wollen Sie das wissen«, »Das Bettlermädchen: Geschichten von Flo und Rose« und »Glaubst Du, es war Liebe«. Ihr Debüt gab sie 1968 mit dem Band »Tanz der seligen Geister«, der fünfzehn Erzählungen enthielt, zuletzt erschien die Sammlung »Liebes Leben« mit 14 Stories. 2009 wurde sie für ihre literarischen Verdienste mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet. Auf Deutsch erscheint ihr Werk bei S. Fischer in der Übersetzung von Heidi Zerning.
Eine ausführliche Biografie ist auf der Seite für den Nobelpreis zu finden, auf dem Youtube-Kanal der Schwedischen Akademie gibt es einen Podcast, der hinter die Kulissen der Preisverleihung blickt.
[…] ein Nachruf in der FAZ, hier einer im Guardian und in diesem Blogtext ist das sehenswerte Video eines halbstündigen Interviews mit ihr verlinkt. Wie sympathisch ist dabei das, was sie gleich am Anfang über die kleine Meerjungfrau von Andersen […]
[…] Und wenn Ihnen das bei mir verlinkte Interview nicht literarisch genug war, dann schauen Sie gerne bei Herrn Buddenbohm vorbei, da wird im heutigen ersten Absatz viel verlinkt, insbesondere dieser Blog. […]