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Schneckenprinzessinnenbad

Anke Feuchtenbergerowa: Genossin Kuckuck | © Thomas Hummitzsch

Die Berliner Comiczeichnerin Anke Feuchtenberger hat ihre Kindheit und Jugend in der DDR in spektakulären Bildern auf Papier gebracht. Nach der Nominierung für den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse muss sie nun als Favoritin für den Max und Moritz-Preis beim Comicsalon in Erlangen gelten, weil sie in diesem Meisterwerk der Neunten Kunst das autofiktionale Erzählen auf völlig neue Gleise setzt.

Effi und Kerstin sind Kindheitsfreundinnen, so würde man das im Rückblick zumindest sagen, auch wenn nicht alles freundschaftlich und zugewandt ist, was die beiden miteinander verbindet. Zuneigung und libidinöse Verlockung spielen ebenso eine Rolle wie Neid und Missgunst, wenn es darum geht, dass die eine hat, was die andere will. Die beiden Mädchen stehen im Mittelpunkt von Anke Feuchtenbergers bildgewaltigem und (alb)traumwandlerischem Comic »Genossin Kuckuck«, der nicht zufällig das meistdiskutierte Werk der Neunten Kunst des Frühjahrs ist.

Das liegt zum einen an der Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse. Die Berufung in die Empfehlungsliste der Jury unter Insa Wilke war in der Kategorie Belletristik ein Novum, im letzten Jahr stand Feuchtenbergers ehemalige Schülerin Birgit Weyhe mit »Rude Girl« in der Endauswahl für den Preis in der Kategorie Sachbuch/Essayistik-Preis. Feuchtenbergers autobiografische Erzählung sei »ein Comic, der dem autofiktionalen Genre eine derartige Ästhetik abgewinnt – das ist ein Novum in der deutschsprachigen Literatur«, begründete die Jury die Nominierung.

Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck. Reprodukt Verlag 2023. 448 Seiten. 44,- Euro. Hier bestellen.

Zum anderen liegt es genau an jener Ästhetik, die Feuchtenbergers über mehrere Jahre hinweg entstandenen Comic ins Zentrum der Debatten geholt hat, denn das Kriterium der Zugänglichkeit, das Comics gern pauschal attestiert wird, erfüllt »Genossin Kuckuck« nicht einmal bedingt. Die autofiktionale Geschichte, die über Nebenerzählungen und Erinnerungen bis in die 1940er Jahr hinabsteigt, ist keineswegs leicht zu lesen. Die sequentielle Erzählung scheint in Einzelteile zerrissen und willkürlich wieder zusammengesetzt.

Feuchtenbergers Erzählung hat weder eine führende realistische Handlung, sieht man von den allgemeinhistorischen Hintergründen einmal ab, noch einen Handlungsbogen. Auf den Seiten findet man keine logische Folge der Ereignisse, sondern in assoziativer Folge zahlreiche Anekdoten, die zwischen Personen, Zeiten und Räumen hin- und herspringen, die mal realistisch grundiert und dann wieder surreale Hirngespinste sind. Die in Ost-Berlin geborene Zeichnerin, die an der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaft als Professorin deutschen Comickünstler:innen wie Birgit Weyhe, Barbara Yelin, Line Hoven, Sascha Hommer oder Simon Schwartz die Grundlagen des sequentiellen Erzählens vermittelt hat, setzt voll und ganz auf die magisch-realistische Kraft der aneinandergereihten Szenen. Diese halten das Leben in dem fiktiven Dorf Pritschitanow irgendwo in der ostdeutschen Provinz wie in einem Bilderbogen fest.

Bilderbögen und Wimmelbilder, die auch kulturhistorisch zu den Vorläufern des modernen Comics zählen, dienen hier als Orientierung, will man die Erzählweise von »Genossin Kuckuck« greifen. Legte man die Seiten nebeneinander, hätte man so etwas wie ein Wimmelbild von Hieronymus Bosch in Schwarz-Weiß vor sich, das die sichtbaren und unsichtbaren Kräfte in Pritschitanow abbildet. Wo man sich im Laufe des Lektüreprozesses befindet und ob man alles, was man zum Verständnis der Zeichnungen wissen sollte, schon weiß, ist völlig unklar. Manchmal wird dies aufgelöst, manchmal aber eben auch nicht – selbst die besten Netflix-Serien funktionieren nicht anders.

Im ständigen Wechsel aus Dehnung und Stauchung von Zeit und Raum entsteht eine universelle Erzählung, die ihr mutmaßliches Zentrum in den Kindheits- und Jugendjahren der Mädchen in den sechziger Jahren hat, die von dort aber ihre Fühler in die Vergangenheit und in die Zukunft ausstreckt. So erzählt Feuchtenberger von den Traumata des Krieges ebenso wie von der Brutalität des Raubtierkapitalismus in den Nachwendejahren, die politische Gewalt in der DDR wird ebenso wenig verheimlicht wie die kindliche Naivität, die das Aufwachsen in der Provinz mit sich bringt. Dem Zusammenhalt der Gemeinschaft steht die Geheimniskrämerei jedes Einzelnen gegenüber, die, mit kräftigem Bleistiftstrich umgesetzt, wortwörtlich in die dunklen Echokammern der menschlichen Existenz führen.

Neben Effi und Kerstin, die sich nicht nur blutige Knie holen, tauchen da verschiedene Randfiguren auf, deren Geschichten zur grandios schillernden Tristesse in diesem Comic beitragen. Da sind die Großmütter, die sich daran erinnern, wie sie sich im Alter von Kerstin und Effi versteckt haben – nicht aus Vergnügen, sondern aus Angst vor den Russen, die vom Osten her ins Dorf drangen. Da ist Effis Mutter Rosi, die sich als Dorfschönheit eine Affäre mit dem Leiter eines Erziehungsheims gönnt, während ihr Mann als Jäger Wildscheinen hinterherstellt und untreuen DDR-Bürger:innen an die Sowjets verpfeift. Effi registriert all das nur am Rande, denn sie hat nur Augen für Kerstins Bruder Jochen.

Das Werk von Anke Feuchtenberger

Die unschuldige Verliebtheit kippt hier schnell in eine libidinöse Verlockung, die wiederum in sexualisierte Gewalt umschlägt, schiebt man eine Gardine oder eine halbgeschlossene Tür zur Seite. Was daran erlebt und was gefürchtet, was seelisch eingeschrieben und was eingebildet ist, bleibt im Unklaren. Das Dunkle ist – ähnlich wie bei ihrem langjährigen Lebensgefährten Stefano Ricci oder dessen Landsmann Davide Reviati – allgegenwärtig auf diesen Seiten, aber eben auch das Spielerische. Es gibt nicht nur das Eine oder das Andere, alles ist immer zugleich da und ohne einander nicht zu denken.

Wenn es nicht Feuchtenbergers Bleistift ist, dessen kräftiger Strich ins mystische Dunkel führt, dann sind es die Schneckenspuren und Pilzsporen, die sich in vielfältigen Varianten über die 450 Seiten legen und sie durchdringen. Wie alle Kinder spielen auch Effi und Kerstin mit den schleimigen Nacktschnecken, die im Lauf der Geschichte konkret Gestalt annehmen, bis irgendwann die Frauen im Dorf mit Fühlern am Kopf ausgestattet der Hausarbeit nachgehen. Effi nennt Kerstin zu Beginn neckisch »Schneckenprinzessin«. Die Frage, ob sie in dieser Flut von Geschichte und Geschichten amüsiert plantschen oder untergehen, bleibt bis zum Schluss unklar.

Überdeutlich hingegen die bittersüße Melancholie, mit der Anke Feuchtenberger hier von der Natur, den Menschen und von des Menschen Natur erzählt. Tiere in aller Form – Schnecken, Hunde, Keiler und eben der titelgebende Kuckuck – übernehmen dabei allegorische Funktionen in dieser finsteren und assoziativen Erzählung, die mit den Genres tanzt. Mal kommt sie als Fabel daher, dann als autobiografisches Memoir, um plötzlich ins Horrorgenre abzurutschen. »Genossin Kuckuck« ist Bildungs- und Einbildungsroman, in dem Träume und Traumata anspielungsreich und verschlüsselt verhandelt werden. Dabei bedient sich Feuchtenberger der Geschichte, ohne ihre Geschichten historisch zu verorten.

Die Faszination der Neunten Kunst liegt im Panelzwischenraum, heißt es. Selten kann man das so genau beobachten wie in Feuchtenbergers Arbeiten – wenngleich diese auf komplizierte Seitenarchitekturen komplett verzichten. Bedeutungsschwer verweisen ihre Arbeiten, die sich immer wieder mit dem Grenzbereich von weiblicher Sexualität und der Erfahrung von Gewalt befassen, auf eine Ebene, die zwischen den Bildern, hinter den Worten und in der Tiefe der Seiten liegt. Vertraute Begriffe wie »Heim« oder »Volkseigentum« bekommen hier eine ganz neue, unter die Haut gehende Bedeutung.

Durch ihre Arbeiten und insbesondere durch ihr Opus Magnum zu blättern heißt, sich dem filmischen Sog der großzügigen Bildtafeln hinzugeben und zugleich selbst zum Regisseurs des Films zu werden, der sich da vor einem abspielt. Jede:r Leser:in wird mit dem Blick an anderen Bildern und Textpassagen hängenblieben. Die offene Komposition dieses gleichermaßen berührenden wie bedrückenden Meisterwerks lässt dies zu, allerdings ohne einen von der Angel zu lassen. Man kann sich der dunklen Magie dieser universellen Erzählung nicht entziehen, weil sie zu den Sollbruchstellen unserer Psyche führt, wo Erinnerung und Verdrängung einen unaufhörlichen Kampf um die Hoheit führen.

Anke Feuchtenbergers autobiografischer Comic »Genossin Kuckuck« ist wie Art Spiegelmans »Maus« ein Meilenstein der Neunten Kunst. Er setzt das autofiktionale Erzählen auf völlig neue Gleise, indem er der verschränkten Wirklichkeit von Leben und Leid, Traum und Traumata, Geschichte und Geschichten in Wort und Bild gerecht wird. Wo die Sprache fehlt, findet Feuchtenberger Bilder. Wo die Bilder enden, übernimmt das Wort. Und wo beides ins Leere läuft, rauscht das Weiß ohrenbetäubend.

In wenigen Wochen wird der Max und Moritz-Preis für den besten deutschsprachigen Comic in Erlangen verliehen. Es wäre alles andere als überraschend, wenn Anke Feuchtenberger die Auszeichnung erhielte.