Comic

Wälzer der Neunten Kunst

Wenn man schon mit einem Comic in den Urlaub fährt, dann muss das auch genug Lesestoff mitbringen. Die Auswahl reicht von Alben, von denen junge und ältere Leser:innen gleichermaßen etwas haben über comicale Freak-Shows bis hin zur identitätspolitischen Selbstreflexion der aktuell besten deutschen Comic-Zeichnerin.

Birgit Weyhe wurde gerade als Beste deutschsprachige Comic-Künstlerin beim Comicsalon in Erlangen ausgezeichnet, weil sie sich stetig dafür interessiert, »was Menschen umtreibt, wie sie wurden was sie sind – und zwar ganz gleich, aus welcher Kultur sie kommen, welche Hautfarbe sie haben oder wie alt sie sind« und weil sie mithilfe von Mustern aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten, die in ihren Comics zu abstrakten Strukturen werden Geschichten in Text und Bild erzähle, die zu universellen Stoffen werden. Ein solcher Stoff ist ihr aktueller Comic »Rude Girl«, in dem sie Fragen von Hautfarbe und Identität, Privilegierung und Diskriminierung, kultureller Aneignung und Kulturtransfer, Fremdheit und Begegnung miteinander verhandelt und in Bezug setzt. Im Mittelpunkt steht die junge Literaturstudentin Priscilla Layne, deren Vorfahren aus der Karibik nach Amerika gebracht worden sind, wo sie sich Generation für Generation Richtung Freiheit gekämpft haben bis hin zu der jungen Studentin, die ihren ganz eigenen Platz in der Gesellschaft einfordert – als Schwarze rebellische Feministin, die sich der amerikanischen (und damit nicht automatisch rassistischen) Skinhead-Subkultur angeschlossen hat und als erste ihrer Familie ein Studium verfolgt. Weyhe hat Layne später als afroamerikanische Germanistik-Professorin kennengelernt und erzählt in ihrem Comic in satten und mit unzähligen abschweifenden Details empathisch ihre Geschichte. Dabei reflektiert sie permanent die eigene Situation als weiße privilegierte Künstlerin, der bei »Madgermans« der Vorwurf der kulturellen Aneignung gemacht wurde und dem sie jetzt eine besondere Form des kollektiven Erzählens entgegenhält, der ihr betrachtetes Objekt zum autonomen Subjekt und zugleich das Nachdenken über die Welt in all ihren Ambivalenzen transparent werden lässt.

Birgit Weyhe: Rude Girl. avant-verlag 2022. 312 Seiten. 26,00 Euro. Hier bestellen.

Der französische Comiczeichner Luz alias Rénald Luzier war einer der wichtigsten Zeichner des Satiremagazins Charlie Hebdo und verlor beim Anschlag auf die Redaktion viele seiner Freunde verloren. In Virginie Despentes’ Antihelden Vernon Subutex, der als Plattenhändler scheitert, leichtfüßig seine bürgerliche Existenz aufgibt, erst auf den Sofas seiner verbliebenen Freunde und dann auf der Straße landet, um schließlich als Guru einer musikalisch-transzententalen Pseudosekte eine neue Bestimmung zu finden, hat er eine Vorlage gefunden, in der er die eigene Selbstverlorenheit nach den Attentaten wiederfand. In zwei Bänden hat er die Romantrilogie der französischen Feministin adaptiert, dessen erster Teil gerade erschienen ist und in seiner wilden, experimentellen und stilistisch überbordenden Ästhetik ganz ins Paris zwischen #JeSuisCharrlie und #Bataclan eintaucht. Die Subkultur des Punk, die in der Erzählung eine zentrale Rolle spielt, spiegelt sich im kräftigen Strich, den grandios aufs Papier gebrachten Figuren, den eigenwilligen Seitenstrukturen und knalligen Farbexplosionen, die die im Roman immer wichtiger werdende Popkultur aufgreift. Vor allem aber packt die Leser:innen der unwiderstehliche Beat der Bilderfolgen und die überbordende Atmosphäre dieses Comics, in dem jede Doppelseite so aufregend ist wie der Spaziergang durch einen alten Plattenstore.

Luz, Virginie Despentes: Vernon Subutex – Teil 1. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz und Lilian Pithan. Reprodukt Verlag 2022. 303 Seiten. 39,00 Euro. Hier bestellen.

Das Superheldengenre war jahrzehntelang als vorrangig maskuline Domäne definiert, mit Wonder Woman oder Catwoman gab es jahrzehntelang nur wenige Repräsentantinnen mit Superkräften in der Neunten Kunst. Diese feste Ordnung ist durch Figuren wie die Birds of Prey, Jessica Jones, Black Widow oder Ms. Marvel in den letzten Jahren Stück für Stück feministisch aufgelöst worden, der britische Cartoonist und Illustrator Steven Appleby verschiebt mit »Dragman« den Superheldenkosmos überaus unterhaltsam in den queerfeministischen Bereich. Als eben jener Dragman alias August Crimp auftaucht – ein harmloser Ehemann und Vater, der in London lebt, sich gern in Frauenkleider wirft und einmischt, wenn er Zeuge von Ungerechtigkeiten, Notlagen und Gewalt wird – setzt sich nicht nur der virile Club der Superhelden gegen die freche Erweiterung seiner Zusammensetzung zur Wehr, auch Crimps Frau will, dass er seine Identität als queerer Superheld an den nagel hängt. Als ein Serienmörder in London Transfrauen umbringt und ihre Seelen stiehlt, muss Crimp sein normales Leben an den Nagel hängen. Applebys ebenso satirische wie hellwache Superheld:innenparodie, die gerade den Max-und-Moritz-Preis als Bester Internationaler Comic gewonnen hat, weil sie Crime, Science, Gender und Identity zu einer grandiosen Drag-Oper verbindet, lässt Klischees und Stereotype nicht nur vergessen, sondern eine andere, bessere Welt entstehen, die wir gemeinsam selbst bauen können.

Steven Appleby: Dragman. Aus dem Englischen von Ruth Keen. Schaltzeit Verlag 2022. 336 Seiten. 29,00 Euro. Hier bestellen.

Wenn ein Comicprojekt 35 Jahre verschlingt und dann dennoch einschlägt wie ein gigantischer Meteor, dann spricht das entweder für den Ruhm des Zeichners oder die ausdauernde Zuneigung seiner Anhängerschaft. Bei Barry Windsor-Smith, dem Vater von »Conan, der Barbar« oder »Red Sonja«, ist sicherlich beides der Fall und doch erklärt das nicht allein, warum seine 360-seitige, mosaikartig konstruierte Tour de Force in Schwarz-Weiß, in deren Zentrum Bobby Bailey steht, der Opfer häuslicher Gewalt, politischer Ideologie und wissenschaftlichen Größenwahns wird. Ausgangspunkt dieses packenden Politthrillers war eine Hulk-Story, die Windsow-Smith für Marvel zeichnete, in deren Folge er sich aber persönlich und professionell mit dem Verlag überwarf und schließlich zurückzog. Seither ist »Monster« ein publizistisches Mysterium gewesen, dessen erste Fassung Neil Geiman – dem Windsor-Smith wie auch anderen Comickünstlern wie Alan Moore, Mark Millar, Warren Ellis, Glenn Fabry, Steve Dillon, Grant Morrison oder Dave Gibbons den Weg bereitet hat – vor 20 Jahren gleichermaßen schockiert und erstaunt hat. Denn Bobby, der sich während des Vietnam-Kriegs freiwillig meldet, wird in dieser pynchonesken Nazi-Frankenstein-Story Teil eines medizinischen Experiments, das in einem geheimen Konzentrationslager Monster gebiert, die an Hieronymus Boschs Höllenfiguren erinnern.

Barry Windsor-Smith: Monster. Aus dem Englischen übersetzt von Jano Rohleder und Rowan Rüster. Cross Cult Verlag 2022. 368 Seiten. 40,00 Euro. Hier bestellen.

Nun ist Halbzeit, denn von der geplanten Tetralogie der Comic-Adaption von Yuval Noah Hararis populärem Sachbuch »Eine kurze Geschichte der Menschheit« liegen zwei von vier Bände vor. »Die Falle«, so der Untertitel des zweiten Bandes von »Sapiens« erzählt die lange und verschlungene Geschichte, wie die Ungleichheit in die Welt kam – und mit ihr all die dramatischen Folgen: Neid, Konflikte, Entwicklungsdifferenzen. Wie schon im lobenswerten ersten Band sind es die Alter Egos des schlaksigen israelischen Geschichtsprofessors, seiner neugierigen Nichts sowie der indischen Anthropologin Saraswati, die durch die Jahrtausende tragen, um zu erzählen, wie die menschliche Zivilisation in die Abhängigkeit der Bauernwirtschaft geraten konnte, um ihren Ambitionen nachzukommen. Es ist eine beeindruckende Geschichte, die vom ewigen Wachstum handelt, den der ständige Fortschritt erforderte, so dass eine unaufhörliche Spirale des Höher, Weiter und Schneller entstehen musste, die nicht zufällig in die neoliberalen Wachstumsideologien der Gegenwart münden. Der überbordende Einfallsreichtum, mit dem David Vandermeulen gemeinsam mit Harari die Textvorlage für ein Comicszenario angepasst hat, die sprühende Leichtigkeit von Daniel Casanaves witzigen Zeichnungen, die unzähligen Verweise auf Hoch- und Popkultur, auf Geschichte, Politik und Denkschulen machen die kühne Fortsetzung dieser comicalen Großerzählung zu einer ebenso lehrreichen wie vergnüglichen Lektüre.

Yuval Noah Harari, David Vandermeulen, Daniel Casanave: Sapiens – Die Falle. Aus dem Englischen von David Wirthensohn. Verlag C.H.Beck 2021. 256 Seiten. 25,00 Euro. Hier bestellen.

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