Comic, Interviews & Porträts

»Ich konnte mich gut in Vernon hineinversetzen«

Der französische Comiczeichner Luz alias Rénald Luzier hat die letzten Jahre damit verbracht, Virginie Despentes Erfolgsromane um den Plattennarr Vernon Subutex zu adaptieren. Kurz nach Abschluss der Arbeit am zweiten Band waren wir für ein Interview verabredet. Über eine Stunde sprachen wir über die Herausforderungen der Adaption, die Zusammenarbeit mit der französischen Starautorin und die Wiederentdeckung der Musik durch die Arbeit am Comic, dessen erster Band nun in Deutschland erscheint.

Luz, wie kam es zur Adaption der Romantrilogie von Virginie Despentes?
Der Verlag ist damals auf mich zugekommen. Soweit ich die Vorgeschichte kenne, hatte er Virginie Despentes mehrere Zeichner:innen für eine Comic-Adaption vorgeschlagen, sie war aber von der Idee insgesamt nicht sonderlich begeistert. Damals wurde ihre Trilogie bereits von Cathy Verney als Mini-Serie verfilmt und sie hatte schon viele Jahre mit Vernon verbracht. Ich glaube, sie wollte einfach mal etwas Neues machen. Der Verlag musste als entweder jemanden finden, der das im Alleingang wuppen kann oder das Projekt würde scheitern. Virginie hat dann wohl gesagt, dass ich in ihren Augen der einzige Zeichner sei, der sich in der Musikszene und dem Genre ausreichend auskennt, um das Unmögliche möglich zu machen. Und so ist es dann gekommen.

Was war Ihr erster Eindruck beim Lesen der Geschichte von Vernon Subutex?
Als man mich gefragt hat, ob ich die Adaption übernehmen will, kannte ich nur den ersten der drei Romane. Ich hatte nicht weiter gelesen, weil ich von dem Buch völlig überwältigt war. Ich war positiv schockiert, das passiert mir wirklich selten. Da sprach jemand aus einer weit entfernten Vergangenheit zu mir und erzählte, was aus meinen Freunden geworden war. Ich hatte das Gefühl, all diese Figuren zu kennen. Aber je mehr mich dieses Buch einnahm, desto weniger wollte ich es adaptieren, denn mir ging das alles zu nah. Ich las dennoch die beiden anderen Teile und musste einsehen, dass diese Geschichte wie für mich gemacht ist.

Was hat Sie denn so an dieser Geschichte fasziniert?
Es geht darum, was diese Figuren erleben. Ich will hier nicht zu viel verraten, aber der zweite Band hat mich in seiner Schönheit überwältigt, während der dritte Band ziemlich hart ist. Er ist gewaltig, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Gewalt im dritten Teil war für mich wie eine Katharsis. Als ich die letzte Seite gelesen hatte, habe ich mir gesagt, dass man dieses Monstrum unmöglich adaptieren kann. Und in dem Moment war mir klar, dass ich das machen muss. Weil diese Geschichte von allem handelt, was ich mit mir herumtrage. Was in meinem Kopf ist und mich immer wieder aufwühlt.

Luz, Virginie Despentes: Vernon Subutex – Teil 1. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Lilian Pithan. Reprodukt Verlag 2022. 303 Seiten. 39,00 Euro. Hier bestellen.

Das müssen Sie erklären.
Der Roman handelt von all jenen, die in diese riesige Stadt geworfen werden. Eine Stadt, die von Dir verlangt, ständig über dich hinauszuwachsen, wenn Du nicht eingehen willst wie eine Pflanze. Als ich aus der Provinz nach Paris kam, ging es mir ähnlich. Deshalb hatte ich das Gefühl, dass ich all die Figuren aus dem Roman kenne. Ich bin denen auf der Straße, im Café oder im Supermarkt begegnet. Auf einer anderen Ebene handelt der Roman von einem, der versucht, allein in Paris zurechtzukommen. Dieses Gefühl hat mich an die Zeit nach dem Anschlag erinnert, der inzwischen mein ganzes Leben überschattet. Ich hatte damals das Gefühl, ganz allein in dieser riesigen Stadt zu sein. Mir war, als hätte ich all meine Freunde verloren, obwohl da natürlich noch welche waren. Ich konnte mich gut in Vernon Subutex hineinversetzen. Auch er hat das Gefühl, all seine Freunde verloren zu haben und sucht nach einer Gemeinschaft.

Ist der Comic auch eine Art Hommage an Ihre ermordeten Freunde aus der Charlie-Hebdo-Redaktion?
Nein, keine Hommage. Die Toten sind tot, ich kann ihnen nichts mehr sagen. Aber es gibt die Überlebenden und Hinterbliebenen, die mit den Ereignissen klarkommen müssen. Für sie ist diese Geschichte eine Art Echo. Insbesondere zu Beginn, weil sie uns mit der Einsamkeit der Figuren konfrontiert. Wir sehen, wie selbstverlorenen sie sind. Das ändert sich später, aber hier sehen wir diese vollkommen orientierungslosen Figuren. Sie drehen sich aufgekratzt um sich selbst – wie Fliegen, die um ein Stück Fleisch schwirren. So ging es vielen nach den Anschlägen und so geht es auch heute noch vielen Menschen.

Vernon ist aber nicht so wie viele. Eher ein Einzelgänger, den seine ganzen Verluste nicht zu kümmern scheinen.
Das stimmt. Während alle anderen um ihn herum mit der Vergangenheit und ihren materiellen Verlusten kämpfen, ist ihm das tatsächlich völlig egal. Das nimmt fast selbstmörderische Züge an, aber er ist an einem Punkt, an dem es auch nichts mehr gibt, für das er sich zusammenreißen müsste. Er akzeptiert seine Situation ohne jede Einschränkung, während all seine Freunde damit hadern, dass es früher besser war. Das hat mich echt gepackt. Wie kommt man trotz aller Rückschläge voran? Wie lässt man die Vergangenheit hinter sich, ohne sie auszulöschen? Vernons Mut zum Fatalismus hat bei mir etwas ausgelöst. Er hört einfach auf, sich aufzureiben und gibt sich der Idee hin, dass es schon irgendwie weitergehen wird. Das hätte ich nach dem Attentat auch gern gekonnt. Das Komische ist, dass alle um ihn herum fasziniert sind von seiner Leere. Weil die etwas Mystisches hat, etwas Religiöses oder Spirituelles. Die Musik gibt Vernon Kraft. Er vertraut im Grunde seinem Lebenswissen. Und zugleich erleben Vernon und die Musik nahezu parallel eine Art Selbstauflösung. Während Platten von Streamingdiensten abgelöst wurden, wurde aus Vernon ein Mysterium, eine Lichtfigur.

Hatten Sie beim Lesen direkt Bilder im Kopf?
Recht schnell, ja. Eines der ersten Bilder, das ich im Kopf hatte, war eines der alten Dame, die Vernon im Park trifft. Es ist ein ganz unscheinbares Bild im Comic, aber es hat sich mir aufgedrängt. Inzwischen denke ich, mein ganzes Leben besteht aus unauslöschlichen Bildern, die sich mir aufdrängen. Alles was ich tun muss, ist ihnen zu folgen. Es gibt deshalb viele kleine Details, die mir wichtig waren. In ihnen zeigt sich nicht nur meine Persönlichkeit, sondern in ihnen liegt auch die Seele dieses Comics.

Und ich dachte, die liegt in der Musik.
Ja, beides ist miteinander verbunden. Ich habe für Vernon viel Zeit damit verbracht, noch einmal meine alten Platten zu hören und Musikvideos zu schauen. Nach den Anschlägen war die Musik aus meinem Leben verschwunden, ich konnte keine Musik mehr hören. Die ganzen Platten, die hier herumstehen, waren nichts mehr wert. Beim Zeichnen habe ich wieder zu meinen Platten gegriffen und den Groove gefunden, der lebendig macht. So habe ich dank Vernon wieder zur Musik gefunden und aus dieser Arbeit wurde eine sehr persönliche Reise.

Es gibt ja unendlich viele Playlists. Was für Musik haben Sie denn gehört?
Na die aus dem Roman. Ich habe mit Sachen angefangen, die ich nicht kannte, kalifornischem Hardcore und Punk, Bands wie die Descendants oder die Circle Jerks. Das waren echte Entdeckungen. Manchmal hatte ich den Eindruck, Virginie würde mit mir sprechen. Hier, hör dir das mal an, das könnte dich interessieren. Dann kam irgendwann Jimi Hendrix, ohne Bezug zum Buch. Ich musste an ein Gespräch denken, dass ich vor Jahren mit einem jungen Mann hatte. Wir unterhielten uns darüber, was wir auf eine einsame Insel mitnehmen würden und er sagte, dass er »Electric Lunch« von Bob Dylan mitnehmen würde, weil er nur Gutes mit ihr verbindet. Beim Zeichnen dachte ich, dass solche Erinnerungen unbedingt in den Comic müssen. Um an diese Erinnerungen heranzukommen, musste ich meine alte Musik wieder hören und landete bei Jimi Hendrix. Dann bei Bob Dylan und von dort wurde es immer offener. Irgendwann saß ich nur noch in meiner Wohnung, habe Musik gehört und gezeichnet. Ich wollte von niemandem gestört werden. Und jetzt, nach fast 700 Seiten, ist die Musik wieder fester Teil von meinem Leben.

Wie muss ich mir die Zusammenarbeit mit Virginie Despentes vorstellen?
Wunderbar, wir sind gute Feunde. Ich bin zu Beginn zu ihr gefahren und wir haben uns unterhalten. Dann hat sie mir ihr Paris gezeigt, eine Stadt, die ich so nicht kannte. Wir waren im Parc des Buttes-Chaumont und sie zeigte mir die Ecken, wo die Obdachlosen leben, wo sich die Jugendlichen treffen, wo die muslimischen und die jüdischen Familien sind. So entdeckte ich völlig neue Seiten an einer Stadt, von der ich lange dachte, sie zu kennen. Dann begann ich, die Lebensverhältnisse der Figuren zu erkunden. Denn die Figuren im Roman sind nicht aus der Luft gegriffen. Virginie ist ihnen jeden Tag auf der Straße begegnet, es sind Menschen wie Du und ich. Also hab ich solche Menschen gesucht, habe mich ein wenig an Ihre Fersen geheftet und versucht, mir vorzustellen, wie die leben und was die beschäftigt.

Wie ist es, über Jahre mit diesen, zum Teil ziemlich abgehalfterten Figuren zu leben?
Ich habe als Karikaturist oft Personen aus dem öffentlichen Leben gezeichnet. Bei denen war es egal, ob ich die mochte oder nicht. Wenn ich aber mehrere Jahre mit diesen Figuren lebe, dann muss ich sie mögen. Sonst geht das nicht. Deshalb habe ich lange an ihnen gearbeitet, bis ich selbst den Unerträglichsten etwas abgewinnen konnte. Sonst komme ich morgens nicht raus. Ich hätte mich nicht an den Zeichentisch gesetzt, wenn ich gedacht hätte, och nö, heute ist der blöde Dopalet dran. Das hätte nicht funktioniert. Ein solch großes und langwieriges Projekt ist eine große Lektion in Empathie.

Hat Virginie Despentes einen Bezug zu Comics?
Sie kannte sich ehrlich gesagt besser aus als ich. Im Grunde lief es folgendermaßen: Ich habe ihr alte Platten empfohlen und sie mir ihre Lieblingscomics. Sie hat mir die Vielfalt des Manga gezeigt und Alison Bechdel empfohlen. Dank ihr lese ich inzwischen deutlich mehr Comics als früher.

Rockmusik und Comics sind eng miteinander verbunden.
Ja, es gibt viele Berührungspunkte. Diese ganze Do-it-Yourself-Kultur steckt in beidem drin. Ich habe früher viele Comicreportagen von Konzerten und Festivals gemacht. Das war für Vernon sehr hilfreich. Da habe ich die unterschiedlichsten Leute in so vielen verschiedenen Zuständen getroffen und gezeichnet, darauf konnte ich hier zurückgreifen. Ich musste nicht lange darüber nachdenken, was die Figuren um Vernon so beschäftigt, wovon sie träumen und was sie fürchten. Ich kannte die aus meinen Jahren in der Musikszene.

Wie ist Vernon selbst entstanden?
Bei Vernon war es echt kompliziert. Als ich mit dem Zeichnen anfing, kam in Frankreich gerade Cathy Verneys Serie zum Buch heraus. Es gab also schon eine visuelle Vorstellung von der Figur. Ich habe lange unter den Gitarristen der Rockszene in den 90ern nach einem Vorbild gesucht gesucht, wurde am Ende aber ganz woanders fündig. Ich habe das Gesicht von Vernon auf einer CD mit der Musik zum Film »La Route de Salina« entdeckt.

Da hatten Sie ein Gesicht. Und der Rest?
Ich wollte, dass er wie der Plattenhändler aus meiner Heimatstadt Tours aussieht. Dem hab ich es zu verdanken, Bands wie Jefferson Airplane entdeckt zu haben. Er war ein dürrer Eigenbrötler, der immer nach Qualm roch. Seinen kalten Zigarettenrauch sollte man meinem Vernon ansehen. Ich wollte einen sympathischen Typen, der ganz in seiner eigenen Welt lebt und für seine Kunden da ist. Solche Typen sind inzwischen echt selten. Ich habe dann eine ganze Weile herumexperimentiert, aber als ich ihn dann hatte und Virginie gezeigt habe, sagte sie, dass ich ihn perfekt getroffen hätte.

Wie sind Sie bei den anderen Figuren vorgegangen?
Schon beim Lesen der Trilogie hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung, wie die Figuren aussehen. All diese Figuren waren mir schon einmal bei irgendeinem Konzert begegnet. Es sind Allerweltsköpfe, in denen sich jede:r wiedererkennen kann. Ich bin dann mit meinen Entwürfen zu Virginie. Sie präsentierte mir noch ein paar Fotos im Internet und daraus haben wir dann die einzelnen Personen entworfen. Pizzaiolo ist ein Typ, den ich selbst kenne, die Hyäne hat Virginie in einem alten Comic gefunden. Sie alle finden in der Musik zueinander. Die Musik ist dafür da, um für einen Moment alle Unterschiede zu beseitigen. Mit Musik tauchen wir alle in eine Welt der Emotionen ein. Dort sind wir alle eine kleiner Teil des großen Ganzen, gehen auf in einer größeren Sache. Vernon ist das Zentrum dieses Sache, wir alle drehen uns um ihn und seine magische Anziehungskraft.

Ist Despentes Figurenkabinett in dem Sinne auch repräsentativ für die französische Gesellschaft?
Nein, es sind ganz normale Leute. Sie sind weder sonderlich schön, noch besonders klug. Sie sind nicht fröhlicher oder trauriger als andere. Manche haben Kinder, andere nicht. Sie sind einfach ganz normal. Nur Vernon schert aus und wirkt wie eine Figur aus einem Punkfilm von Wong Kar-Wai. Man meint, er sei ein ganz normaler Typ, bleibt aber flüchtig und ungreifbar.

Verfilmung von Cathy Verney

Basierend auf den ersten beiden Büchern der französischen Bestseller-Trilogie VERNON SUBUTEX, für die Autorin Virginie Despentes nicht nur in den Feuilletons gefeiert wurde, nimmt uns VERNON SUBUTEX mit in das pulsierende Leben auf den Straßen von Paris, die von ungewöhnlichen aus der Zeit gefallenen Charakteren bewohnt werden. Verbunden werden diese Schicksale von einem Mann auf der Straße: Vernon Subutex. In der Hauptrolle des titelgebenden Helden glänzt Romain Duris. Ausgestattet mit einem eklektischen, kuratierten Soundtrack von Künstlern wie Cigarettes After Sex, Janis Joplin, Sonic Youth, New Order oder Moderat.

Jetzt erscheint der erste von zwei Bänden. Der knallt einen ganz schön auf die Bretter.
Ja, er ist hart in dem Sinne, als dass man den Figuren wirklich auf den Grund geht. Man kratzt Schutzschicht um Schutzschicht ab, um zu schauen, was da eigentlich noch an Menschlichkeit ist. Virginies Romane zeigen, dass der Menschlichkeit etwas zutiefst Absurdes innewohnt. Denn was uns am Leben hält, wenn wir am Boden liegen, ist das Wissen darum, dass selbst die schlimmsten Dinge irgendwann vorbei sind. Und in dem Moment, in dem wir das begreifen, sagen wir uns, na los, weiter gehts.

Das klingt fast spirituell.
Das Buch spielt mit den spirituellen Seiten des Atheismus und der Musik. Es handelt vom Wert der Musik für die Gemeinschaft. Wir, die wir flüchtige Kulturen wie den Comic, das Kino oder die Musik mögen, merken das vielleicht mehr als andere. Weil wir uns in diesen flüchtigen Medien spiegeln und merken, wie flüchtig wir selbst sind. Und genau das hält uns am Leben, lässt Raum für Freude, Witz und Humor.

Gibt es Figuren, die Ihnen besonders nah sind?
Nicht wirklich. Es gibt natürlich manche, die mir leichter gefallen sind als andere. Xavier zum Beispiel, diesen rechtskonservativen und selbstverlorenen Typen, der die härteste Musik hört und immer kurz vor einer Depression steht, habe ich besonders gern am Vormittag gezeichnet. Mit ihm konnte ich mich am besten unterhalten. Ich spreche immer mit meinen Figuren, auch wenn sie unsympathisch sind. Insofern ist mir auch diese Aufteilung, die mag ich mehr, die weniger, völlig egal. Es geht mir um den Dialog, der muss fließen. Mit den Menschen ist es wie mit der Musik. Die ist auch nicht dafür gemacht worden, dass alle einverstanden sind. Sie öffnet einen Raum kollektiver Gefühle.

In Zeiten von Covid keine Kleinigkeit.
Nein, ganz und gar nicht. Mir wurde beim Zeichnen bewusst, dass ich, während wir vereinzelt in unseren Wohnungen hockten, einen Typ zeichnete, der da draußen ganz alleine war. Und ich habe eine gewisse Eifersucht verspürt, denn er konnte da draußen unterwegs sein, durch die Straßen spazieren und in Parks liegen. Vernon ist zudem ein sehr pragmatischer Typ, für ihn geht es immer weiter, egal was passiert. Das habe ich mir von ihm abgeschaut. Egal, was in meinem Leben passiert ist, ich darf weiter Musik hören, Spaß haben und Lachen. Mit ihm habe ich gelernt, mich selbst wiederzufinden. Mich mit mir und der Welt zu versöhnen. Bevor ich nach den Anschlägen die sozialen Medien verlassen hatte, hatte ich in meinem letzten Post geschrieben: »Wir gehen im Nebel, aber wenigstens gehen wir.« Vernon ist einer, der immer weiter geht. Wie eine Giacometti-Figur läuft er beschwingt und sorgenfrei in die Zukunft. Er läuft, egal was kommt.

Vernon läuft geradewegs in den Nebel, denn seine Geschichte ist auch die Geschichte seines Verschwindens, worin sich wiederum der Niedergang der Musikkultur spiegelt. Ist das Verschwinden des alternativen Daseins auch eine Metapher für die französische oder europäische Gesellschaft?
Ja, das kann man so lesen. Ich gehöre zu einer Generation, die die goldenen Zeiten der Musik erlebt hat. Es gab mal eine blühende Musikindustrie, mit MTV und allem Drumherum. Und wir alle haben uns darin wiedergefunden. Dann kam das Internet und mit ihm hat sich die Musik mehr und mehr entmaterialisiert. Vernon entzieht dieser Prozess die Lebensgrundlage. Wenn jeder seine Musik downloaden kann, dann braucht es keinen Plattenhändler mehr. Und dieser Prozess vollzieht sich dann auch bei ihm. Je mehr die Musik verschwindet, desto mehr verschwindet er auch. Ihm und uns bleibt nur die Erinnerung an die Musik. Denn wenn anstelle von Vinylplatten der MP3-Download tritt, geht der konkrete Bezug verloren. Eine MP3-Datei kann ich nicht in die Hand nehmen. Es gibt auch keine Hülle mehr, die ich immer in die Hand nehmen muss, wenn ich die Musik hören will. Auf der die Band abgebildet ist oder ich irgendwelche Hintergrundinfos finde. Mit diesen Verlusten geht auch die Fantasie verloren.

Der Fantasie haben Sie beim Zeichnen hingegen freien Lauf gelassen. Ihr Comic besticht durch eine schier überwältigende grafische Vielfalt. Planen Sie das alles vorher oder entstehen diese kongenialen Seiten erst beim Zeichnen?
Es ist eine Mischung. Wer den Comic öffnet, sollte das Gefühl bekommen, einen Plattenladen zu betreten. Jede Seite sollte wie ein Plattencover wirken und hat deshalb ihr eigenes Konzept, so dass man immer wieder Neues entdecken kann. Die Doppelseiten sollten entsprechend wie Gatefolds wirken. Ich habe mir aber keine festen Regeln gegeben, sondern wollte die erzählerische Explosion, die ich beim Lesen der Romane empfand, im Comic nachbilden. Allerdings konnte ich nicht so viele Pointen auf einer Seite unterbringen wie Virginie, die nach jedem Komma eine Pointe setzt. Ich habe immerhin versucht, jede Seite zu einer Pointe zu machen.

Sie spielen auch viel mit der Panelstruktur.
Mir war klar, dass diese Geschichte keinen strengen Rhythmus verträgt. Die Musik hat dann den Rhythmus der Bilder vorgegeben. Mit der Musik mussten die Panels explodieren, durchgeschüttelt werden und eine eigene Anordnung finden. Es gibt Panelfolgen, die an die schnellen Riffs der Ramones erinnern, und dann wieder ruhigere Seiten, die die meditative Wirkung der Doors spiegeln. Mal gibt es direkt einen auf die Zwölf, wie bei Virginies Pointen, dann wieder ist alles genau ausbalanciert und nahezu hypnotisch. Wie bei einem Konzert. Insgesamt braucht man jetzt um die drei Stunden, um den ersten Band zu lesen. Das entspricht einem guten Konzertabend.

Die Trilogie gilt auch als ein großer emanzipativer Wurf, weil Rollenbilder von Männern und Frauen, von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen oder sozialen Hintergründen hinterfragt und auf den Kopf gestellt werden. Wie stehen Sie zum Feminismus in seinen verschiedenen Formen.
Mir gefällt an der Trilogie, dass sie nicht nur von Musik und Freundschaft, sondern auch von der Freiheit handelt. Die Figuren werden nicht in Klischees gepresst, sondern sind offen für jede Form der Begegnung. Vernon schläft mit Marcia, die früher ein Kerl war und immer noch einen Schwanz hat. Das wird aber nicht weiter hervorgehoben, sondern es ist einfach so. Man muss keine feministische Theorie gelesen haben, um diese Geschichte zu verstehen. Und zugleich öffnet sie den Geist. Alles an dieser Trilogie ist fluide. Sie handelt von Musik, aber geht weit darüber hinaus. Sie handelt von den Menschen, ohne sich um Geschlechter, Glauben oder Ideologie zu scheren. Diese Geschichte ist Teil einer offenen Welt, in der alles möglich und alles normal ist. Die einzige Frage, die sie aufwirft, ist die nach dem Zusammenhalt: Wie können wir gemeinsam leben, ohne mit uns allein zu sein?

Eine Trilogie zu adaptieren ist auch ein großes Projekt. War das während der Covid-Jahre auch die perfekte Ablenkung von der Wirklichkeit?
Ich habe weit vor der Pandemie angefangen. Und klar, es gab einige Autoren, die davon profitiert haben, weil sie Zeit hatten, sechs- bis siebenhundert Seiten lange Romane zu schreiben. Man denke nur an Houellebecq.

Naja, Sie haben ja gerade die Arbeit am zweiten Band beendet. Auf wie viele Seiten kommen Sie?
Stimmt, auch ich habe mehr als sechshundert Seiten gezeichnet. Am Ende des ersten Bands sieht man Vernon, wie er allein auf einer Bank sitzt und auf Paris schaut. Ich habe mich oft gefühlt wie er. Nur dass ich allein vor einem leeren Blatt Papier saß. Die Stille, die von ihr ging, war ein Raum, den ich mit Musik füllen konnte. Vernon gab mir die Gewissheit, dass ich das kann. Vernon hat mir gezeigt, das tief in uns ein Feuer lodert, das uns wärmt und am Leben hält.

Am 25. Juni 2022 ist das Interview in gekürzter Form bereits in der taz erschienen.