Endlich, endlich: Der zweite Band der großartigen Comic-Adaption von »Vernon Subutex« aus der Feder von Luz liegt vor. Das leicht größenwahnsinnige und großartige Comicprojekt des Ex-Charlie Hebdo-Karikaturisten interpretiert die Romantrilogie neu und kongenial. Auch im zweiten Band hält Luz die beeindruckende Qualität, mit der er die Adaption begonnen hat.
Der erste Teil der Saga um den ehemaligen Schallplattenladenbesitzer Vernon Subutex hat noch die Verarmung sowie den inneren und äußeren Verfall der Hauptperson als zentrales Motiv: Vernon macht zuerst mit seinem Plattenladen bankrott, verbraucht seine Wohnungseinrichtung zum Leben und verliert zuletzt sein Zuhause. Eine Weile kann er sich noch von der Straße fernhalten, indem er tageweise bei alten Freunden auf Sofas oder Gästebetten unterkommt, doch irgendwann ist das ausgereizt: Er rutscht in die Obdachlosigkeit ab. Gleichzeitig mit dieser Erzählung stellt Luz das Panoptikum an Figuren aus Vernons Bekanntenkreis vor, das schon den Roman zu einer beeindruckenden Lektüre werden ließ.
Der zweite Band beginnt da, wo der erste aufgehört hat: Vernon sitzt auf seiner Bank mit Aussicht in einem dörflich anmutenden Eckchen in Paris, die Hilfe seiner Freunde lehnt er zunächst noch ab. Dann aber trifft er sich regelmäßig mit ihnen im nahe gelegenen Park, die Gruppe von extrem unterschiedlichen Menschen, zu Anfangs noch komplett zerstritten, wächst um ihn herum zu einer bunten Gemeinschaft zusammen. Sie tanzen zusammen, dabei legt Vernon auf und nutzt dabei auch Klänge seines verstorbenen Freundes und Rapstars Alex Bleach. Der Abend wird magisch, und schon bald organisieren die Freunde in ganz Frankreich Raves, die sie »Konvergenzen« nennen und die nur für eine eingeschworene Gemeinschaft sind. Die Sounds spielen dabei eine große Rolle. Und Vernon hat ein zweites Leben gefunden. Dass das Ganze dennoch in der Katastrophe endet, bahnt sich von langer Hand an.
Die Comicadaption von Luz
Luz hat aus den drei Bänden der Romantrilogie von Virginie Despentes zwei gemacht. Das ist angesichts der inhaltlichen Teilung der Handlung, wie er sie vornimmt, eine gute Idee. Zudem ist Luz auf atemberaubende Art und Weise in der Lage, die extrem hohe Qualität des ersten Bandes zu halten. Dass das so ist, ist sehr erfreulich, aber wenn man die bisherigen Leistungen des Künstlers betrachtet, ist es allerdings auch nur in geringem Maße eine Überraschung.
Renald Luzier, genannt Luz, Karikaturist, Comiczeichner, Illustrator, etablierte sich Anfang der 1990er Jahre als eine der zentralen Stimmen der französischen Satirezeitung Charlie Hebdo. Das brutale islamistische Attentat auf die Redaktion am 7. Januar 2015 überlebte er nur, weil er am Vortag lange in seinen Geburtstag hinein gefeiert und daher am betreffenden Tag verschlafen hatte. Luz lebt seit dem Attentat anonym und unter strengsten Sicherheitsauflagen.
Wenige Monate nach dem Attentat veröffentlichte er mit »Katharsis« (dt. bei S.Fischer) ein bewegendes Zeitzeugnis, »Wir waren Charlie« (dt. bei Reprodukt) setzte der Zeitschrift und seinen ehemaligen Kolleg*innen 2019 ein nicht minder beeindruckendes Denkmal. Danach wandte er sich anderen Themen zu. »Hollywood Menteur« (2019, nicht auf dt. erschienen) zum Beispiel erzählt von Einsamkeit und Verwahrlosung in der Filmindustrie. Und, natürlich, die Saga um Vernon Subutex, die er nach und in gemeinsamer Arbeit mit der Autorin der Romantrilogie, Virginie Despentes, umgesetzt hat.
Die Romane von Virginie Despentes
Despentes wiederum war mit »Das Leben des Vernon Subutex« (dt. bei Kiepenheuer und Witsch) eine literarische Sensation gelungen. Nicht nur in Frankreich wurden die Romane als allumfassendes und hellsichtiges Panorama unserer Zeit gefeiert, das Werk gilt als nicht weniger als modernes Pendant zu Balzacs »Comédie humaine«.
Für das Comic haben Luz und Despentes die Handlung in einigen Passagen geändert, was der Sache keinerlei Abbruch tut. Im Wesentlichen bleibt die Geschichte erhalten, sie wird im Vergleich zu den Romanen vielleicht sogar etwas übersichtlicher und prägnanter. Die vielen Charaktere, die auch schon die Romane so lesenswert gemacht haben, bevölkern auch das Comic. Despentes gab anlässlich des Erscheinens des Comics zu Protokoll, die Geschichte sei »fast vollständig« überarbeitet worden.
Das weiß sie selbst natürlich am besten. Die Überarbeitung geht aber nicht soweit, dass die Handlung nicht mehr erkennbar sein könnte. Es ist vielmehr so, dass viele der reichhaltigen Details erhalten geblieben sind. Erkennbar sind Überarbeitungen, die eine nötige Straffung der Erzählung bedeuten. Und interessant sind die Änderungen am Ende des Comics. Ganz am Ende des Romans, als die Saga um Vernon Subutex als Fernsehserie adaptiert wird (was sie dann tatsächlich auch längst ist), sagt jemand, in der Fernsehserie wirke die Geschichte um Vernon wie die von Jesus und seinen Jüngern. Dieser Hinweis öffnet eine Interpretation des Endes, in dem ein Vernon-Tanzkult des 3. Jahrtausends nach Christus beschrieben wird, als eine Wiederholung des Christentums. Das ist natürlich auf eine subversive Art gleichzeitig lustig, charmant und tröstend. Im Comic dagegen wird der Produzent der Serie (der auch die Katastrophe herbeigeführt hat) mit drei Kugeln in den Kopf hingerichtet, die Geschichte endet im Heute.
Das könnte man jetzt boshaft mit Dürrenmatt ein »Ende für die Leihbibliotheken« nennen – ein irgendwie versöhnlicher Ausgang einer Geschichte, die eigentlich trostlos endet. Andererseits ist die Geschichte so straffer, also besser zu erzählen, und dem Produzenten wünscht man ohnehin seit den ersten Seiten der Erzählung den Tod.
Wichtig ist aber vor allem: Das Comic schafft es auch im zweiten Band, den Sound der Romane kongenial zu visualisieren. Wie gesagt, es ist beeindruckend, wie Luz dieses Niveau auch im zweiten Band scheinbar mühelos hält. Ganzseitige Panels wechseln mit kleinteiligen Seitengestaltungen ab. Luz findet immer den richtigen Ton, wenn es zum Beispiel darum geht, die Stimmungen des Helden abzubilden, seine Träumereien wie seine depressiven Phasen. Der Autor hat beim Erscheinen des ersten Bandes zu Protokoll gegeben, er könne sich sehr gut in Vernon einfühlen. Recht hat er.
Für die Momente, in denen sich die Teilnehmer der »Konvergenzen« in der Musik auflösen, findet Luz beeindruckende visuelle Lösungen. Auch die Vibes der allgegenwärtigen Musik, die Gefühle, die sie transportiert, finden auf geniale Art und Weise ihren Eingang in die Bilder. Luz nennt sich selbst »musicovore«, zu deutsch etwa »Musikfresser« (also biologisch wie »Pflanzenfresser«), er kennt die Soundtracks, die Vernon auch schon in den Romanen am Leben halten. Entsprechend erstklassig gelingt es ihm daher, die Stimmungen, die sie auslösen, auf Bilder zu übertragen.
Für die deutsche Übersetzung zeichnet Lilian Pithan, was die Dialoge angeht. Für die aus dem Roman übernommenen Erzähl-Passagen wurde die Übersetzung von Claudia Steinitz verwendet. Es ist sehr erfreulich, dass beide Übersetzerinnen den punkigen Klang im Französischen sehr gut bewahren konnten. Überhaupt hat die deutsche Version keine ungelenken Formulierungen.
Auf diesem Literaturportal war zu lesen, dass »Die Straße« von Manu Larcenet vermutlich das beste Comic des Jahres 2024 sei. Das stimmt jetzt nur noch ein bisschen. »Vernon Subutex« kommt eine hundertstel Sekunde später ins Ziel.
Luz’ nächstes Werk ist »Zwei weibliche Halbakte«. Darin widmet er sich der deutschen Geschichte aus einer sehr originellen Perspektive: Luz erzählt die Geschichte aus der Perspektive des Gemäldes mit dem selben Titel von Otto Mueller. In den Panels ist immer nur das zu sehen, was sich direkt vor dem Gemälde abspielt: Entstehung, Verkauf an einen jüdischen Sammler, Repressionen der Nazis und den Suizid des Mannes, Beschlagnahmung des Gemäldes, seine Integration in die Ausstellung »Entartete Kunst«… Aus dem Blickwinkel des Gemäldes wird so ein Porträt der Gesellschaft Deutschlands. Das Comic erscheint im Mai 2025, man kann sich also auf das kommende Jahr freuen!