Comic

Ginseng – Wurzeln im doppelten Sinne

Der US-amerikanische Comicautor Craig Thompson beweist mit seinem neuen Band »Ginsengwurzeln«, das er nach wie vor zu den ganz großen Comic-Autoren aus den USA zählt. Die Opulenz seiner Zeichnungen ist beeindruckend, wie auch seine Art, sich dem Stoff zu nähern. Dass dies sein letztes Comic gewesen sein könnte, will man am Ende kaum glauben.

Der US-Staat Wisconsin mag viele Assoziationen und Bilder hervorrufen, sicherlich aber denken nur wenige Menschen bei dem Namen an eine Landwirtschaft, die sich auf den Anbau der chinesischen Heilpflanze Ginseng spezialisiert hat. Damit räumt Craig Thompson gründlich auf: In seinem neuen autobiografischen Epos zeigt er, wie sehr die Ginseng-Wurzel seine Kindheit in Wisconsin geprägt hat.

Craig Thompson, Jahrgang 1975, ist als Kind von Arbeitern in Marathon, Wisconsin aufgewachsen. Der Vater war Klempner, die Mutter arbeitete gelegentlich in der Behindertenhilfe und als Aushilfe auf den umliegenden Landwirtschaftsbetrieben. In den Ferien nahm sie den jungen Craig und dessen Bruder mit in die Ginseng-Felder, teils, weil sie sie so besser beaufsichtigen konnte, teils um sie an die Arbeit zu gewöhnen. Thompson beginnt damit die Erzählung: Die Erinnerungen an die Sommerferien, die für die beiden Kinder nicht von Schwimmbadbesuchen und der großen Freiheit, sondern von der anstrengenden Arbeit in den Feldern geprägt war. Von den schmutzigen, noch vom Vortag feuchten Hosen, in die sie früh morgens steigen mussten, von der anstrengenden Arbeit, die im Hocken ausgeführt werden muss.

Immerhin, über einen Teil ihres Lohns durften die Brüder frei verfügen. Dieses Geld investierten in Comics, also in das, was sie als Kinder von streng gläubigen Christen einer Freikirche, die dem Nachwuchs kaum das Fernsehen gestatteten, konsumieren durften. Dadurch fanden beide einen frühen Zugang zur neunten Kunst.

Craig Thompson: Ginsengwurzeln. Aus dem Amerikanischen von Matthias Wieland. Reprodukt 2024. 456 Seiten. 39,- Euro. Hier bestellen https://reprodukt.com/products/ginsengwurzeln
Craig Thompson: Ginsengwurzeln. Aus dem Amerikanischen von Matthias Wieland. Reprodukt 2024. 456 Seiten. 39,- Euro. Hier bestellen.

Die autobiografische Handlung setzt ein, als Craig und sein Bruder zusammen nach Marathon zurückkehren, weil dort das alljährliche Ginseng-Festival stattfindet, auf dem sich die gesamte Gemeinde trifft. Die beiden Buben von früher sind jetzt berühmter Comicautor beziehungsweise Inhaber einer Werbeagentur. Im Comic fahren sie im doppelten Sinne zurück zu den Wurzeln – in die alte Heimat und zu den Ginseng Roots, die ihre Kindheit geprägt haben.

Dort reden sie nicht nur mit ihren Eltern, sondern auch mit den Bauern, die die Pflanze damals angebaut haben und teilweise weiter anbauen. Die, auf deren Feldern sie damals die Sommerferien verbracht haben, sind gealtert, viele haben den Beruf aufgegeben, ohne den Betrieb an die Kinder weitergeben zu können, weil diese andere berufliche Vorstellungen haben. Dafür führen andere den Anbau weiter fort, deren Geschichten teilweise hochinteressant sind.

Craig Thompson nimmt die Heimkehr und die autobiografischen Schilderungen zur Gelegenheit, die Geschichte des Ginseng-Anbaus in den USA, und seine hunderte Jahre alte Tradition zu erzählen, fügt also der »Recherche du temps perdu« eine Ebene als Geschichts- und Soziologiebuch hinzu. Das klingt erst mal nach der großen Langeweile – Ginseng? In den USA? Come on! – entpuppt sich aber mehr und mehr als ein guter Hebel, die Geschichte der Besiedlung der USA und den Verlauf eines Teils der Globalisierung mit zu erzählen. Denn der Ginseng, den die Amerikaner anbauen, landet zumeist in Asien und ist dort für seine Qualität begehrt.

Interessant ist auch, wie der Vietnamkrieg mit seinen Fluchtbewegungen auch in den USA für noch mehr Internationalisierung des Anbaus sorgt: Genau in dem Moment, als die Landwirte in den USA zu Geld kommen, was über verbesserte Bildung der Nachkommen letztlich für Nachwuchsprobleme sorgt, führt der Krieg Vertreter der ethnischen Minderheit Hmong nach Marathon, Wisconsin. Im Ergebnis bauen dann asiatisch-stämmige Menschen in den USA Ginseng für den chinesischen und koreanischen Markt an.

Auszug aus »Ginsengwurzeln«

»Ginsengwurzeln« wird so über die Autobiographie hinaus zu einem Sachbuch über Ginseng. Man erfährt viel über die Mythologie der Pflanze und ihre Nutzung als stärkendes Heilmittel. Das Ganze ist wie immer bei Thompson in oft wunderschönen Zeichnungen festgehalten, die die klassische Gestaltung einer Seite im Comic radikal ignorieren. Mal sind sie über die gesamte Seite, mal ganz oder teilweise in Panels organisiert. Thompson ist auch hier detailversessen, immer wieder fallen ihm neue visuelle Lösungen ein, um die Erzählung interessant zu machen.

Die hohe Qualität dieses Comics überrascht nicht: Craig Thompson hat bereits 2003 mit »Blankets« bewiesen, dass er es hervorragend versteht, über das eigene Erleben hinaus die großen Linien zu finden. Zwar bleibt er rein autobiografisch, die Geschichte ist aber als allgemeingültig für alle Spielarten der religiösen Radikalität zu begreifen, insbesondere natürlich für die besondere Spielart des evangelikalen Puritanismus, die in den USA zu finden ist. Das Werk wurde in den USA entsprechend rezipiert und als allgemeine Anklage verstanden. Es ist daher immer wieder Zielscheibe extrem konservativer Politiker des Landes, die versuchen, Bücher auf den Index zu setzen. Und 2024 gehörte das Buch zu insgesamt 13 Werken, die im US-Staat Utah aus den Schulbüchereien verbannt wurden. Solche Art der »Adelung« erfahren auf dem Comicmarkt sonst nur Werke mit der Tragweite von Art Spiegelmanns »Maus«.

Nach »Blankets« gelangen Thompson weitere richtungsweisende Werke. Davon sind einige zwar nicht im engen Sinne autobiografisch, aber wie »Ginsengwurzeln« in Erlebnissen des Autors verankert: So entstand auf einer Promotiontour für »Blankets« das »Carnet de Voyage«, das die Eindrücke der Reise durch Frankreich, Spanien und Marokko verarbeitet. Auf der Reise recherchierte Thompson schon arabische Kunst und Kultur. Sein ziegelsteindickes Album »Habibi« (2011) wiederum ist stark von arabischer Kalligrafie und islamischer Mythologie – wenn auch hart an der Kitschgrenze – durchzogen.

Die Werke von Thompson eint der ihm eigene Stil der Komposition und die extrem sorgfältige Ausführung. Auch bei Werken über mehrere hundert Seiten zeichnet der Autor zuerst eine Skizze und fertigt erst auf dieser Basis die fertige Seite an. Das macht auch das kleinste, scheinbar nebensächlichste Bild zu einer sorgfältig ausgearbeiteten Vignette. Schade, dass der Band nicht in einem größeren Format gedruckt ist, das die detailreichen Bilder besser zur Geltung gebracht hätte. Durch die relativ kleinen Seiten werden einige Texte schwer lesbar, viele Details entgehen bei der Lektüre schlicht und einfach.

Das Gesamtwerk von Crag Thompson

Einige Zeit nach dem »Ginseng-Festival« nehmen Craig und sein Bruder eine Einladung auf ein Comicfestival in Korea wahr, später folgt eine Recherchereise durch China. Ginseng ist in den USA zuerst als Serie erschienen und wurde auch in Asien beachtet. Die Einladung erfolgt sozusagen nach Lektüre des ersten Teils des Bandes. Und auch hier bleibt Thompson seiner Art des Arbeitens und Erzählens treu: aus einem ersten Werk entsteht eine Gelegenheit zu einem weiteren, und im Werk wird das alles gleich miterzählt.

Das geht so weit, dass man bei der Lektüre leider erfährt, dass »Ginsengwurzeln« das letzte große Werk des Autors sein könnte. Seit seiner Kindheit leidet Thompson an einer Erkrankung an der Hand, die das Zeichnen für ihn immer schmerzhafter werden lässt. Im Buch konsultiert er viele Ärzte und schließlich auch einen Vertreter der chinesischen Medizin. Das gibt Gelegenheit, viel über deren Verwendung von – man errät es – Ginseng zu lernen. Nur Abhilfe bringen die Ginseng-Extrakte und Akupunkturen leider nicht, ob Thompson jemals wieder als Zeichner in Erscheinung tritt, bleibt fraglich.