Jahr: 2025

© Thomas Hummitzsch

Überwältigendes Kopfkino

Comic-Ikone Alan Moore schreibt die Geschichte eines Arbeiterviertels in Northampton zu einer vielstimmigen und verschachtelten Welt- und Geistesgeschichte um. Sein Roman »Jerusalem« ist politische Kampfschrift und sinnliche Komödie, Gegenwartsanalyse und Hirngespinst, ein fulminanter Geistertanz auf den Ruinen des Kapitalismus. Ein ebenso einschüchterndes wie überwältigendes Werk, das vor kreativer und geistiger Energie überschäumt.

Mikey Madison in Sean Bakers »Anora« | © Universal Pictures

Sean Bakers »Anora« dominiert Oscars

Die Geschichte eines amerikanischen Escort-Girls, das sich gegen die Familie eines russischen Oligarchensohns durchsetzt, gewinnt fünf Oscars. Adrien Brody gewinnt mit Brady Corbets Holocaust-Survivorstory »The Brutalist« seinen zweiten Oscar. Der erschütternde Film »No Other Land« über die rücksichtslose Zerstörung palästinensischer Dörfer im Westjordanland durch das israelische Militär wurde als beste Dokumentation ausgezeichnet.

Dickes Ding oder: Pussy Galore

Die beiden Designerinnen Rasa Weber und Flore de Crombrugghe haben eine ebenso unterhaltsame wie fundierte Phänomenologie des menschlichen Genitals in Wort und Bild verfasst. »333 saftige Papayas« ist ein kreatives Aufklärungs- und Nachschlagewerk, das in keinem Haushalt und schon gar nicht im Sexualkunde-Unterricht fehlen sollte.

Ella Øverbye, Selome Emnetu in »Dreams (Sex Love)« von Dag Johan Haugerud | © Motlys

»Dreams (Sex Love)« gewinnt Goldenen Bären

Das Liebesdrama »Dreams (Sex Love)« des Norwegers Dag Johan Haugerud ist völlig zurecht zum besten Film der 75. Berlinale gekürt worden. Damit gewann nach zwei Jahren erstmals wieder ein Spielfilm das Rennen um den Goldenen Bären. Auch bei den Silbernen Bären hat die Jury viele gute und nachvollziehbare Entscheidungen getroffen.

»Timestamp« von Kateryna Gornostai | © Oleksandr Roshchyn

»Morgen treffen wir uns im Schutzraum«

Die einzige Dokumentation im Wettbewerb zeigt den Schulalltag in der Ukraine unter Kriegsbedingungen. »Timestamp« von Kateryna Gornostai ist der erste Film einer ukrainischen Filmemacherin, der um die Berlinale-Bären konkurriert. Kurz vor der Premiere hat Gornostai in Berlin ihr erstes Kind geboren.

Soyi Kang, Ha Seongguk, Cho Yunhee, Park Miso, Kwon Haehyo in »What Does that Nature Say to You« von Hong Sangsoo | © Jeonwonsa Film Co.

Bourbon, Wein und Makgeolli oder: Großes Kino

Die 75. Berlinale biegt auf ihre Zielgerade ein. Mit Richard Linklater, Radu Jude und Hong Sang-soo präsentierten einige bereits ausgezeichnete Filmemacher ihre neuen Werke im Wettbewerb. Dabei erzählen sie auf ganz unterschiedliche Weise mitreißende Geschichten von Menschen, denen der Alkohol zum Verhängnis wird.

Rose Byrne in »If I Had Legs I’d Kick You« von Mary Bronstein | © Logan White / © A24

Mütter am Rand des Nervenzusammenbruchs

Im Wettbewerb der Berlinale spielen Mütter und ihre Nerven eine große Rolle. Mary Bronstein und Johanna Moder zeigen in ihren Filmen, wie schrecklich, überfordernd, bedrängend und beängstigend Mutterschaft sein kann. Iván Fund und Frédéric Hambalek lassen mit übersinnlichen Kräften unterhaltsamere Töne anklingen.

»Die Möllner Briefe« von Martina Priessner | © inselfilm produktion

Rassismus tötet – in Hanau, Mölln, überall

Der rechtsextreme Anschlag von Hanau, bei dem neun Menschen umgebracht worden sind, jährt sich zum fünften Mal.  Die Dokumentation »Das Deutsche Volk« ist ein filmisches Denkmal für die Opfer und erzählt die Geschichten der Überlebenden und Angehörigen. Die Doku »Die Möllner Briefe« begleitet 30 Jahre nach den dortigen rassistischen Angriffen Überlebende und Hinterbliebene.

Robert Pattinson Mickey 17 von Bong Joon Ho USA, KOR 2024, Berlinale Special © 2025 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved

Creepy Politics

Der neue Film von Oscarpreisträger Bong Joon Ho ist eine dystopische Space Opera, in der gescheiterte Politiker und vermögende Tech-Millionäre ein besseres Leben im All versprechen. Zugleich ist seine Weltraumodyssee »Mickey 17«, die bei der Berlinale erstmals dem deutschen Publikum gezeigt wird, eine Ode an die Menschlichkeit.

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Ein gigantischer Stolperstein

Ronya Othmann hält in ihrem Prosawerk »Vierundsiebzig« die jahrhundertelange Entmenschlichung der êzîdischen Gemeinschaft fest. Ausgehend vom jüngsten Genozid durch den IS geht sie im Mittleren Osten, in der Geschichte ihres Volkes, der Familienbiografie, in deutschen Gerichten der Vernichtungswut auf den Grund, die das êzîdische Volk bis heute trifft. Ihr Buch ist ein Solitär in der Genozidliteratur, eines der wichtigsten Bücher des vergangenen Jahres.

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Echoräume des Wahnsinns

Daniel Clowes »Monica« war eines der meisterwarteten Comics des Jahres 2024. Die Erzählung folgt der Suche einer Frau nach ihrer Mutter zwischen seltsamen Sektierern und Verschwörungstheoretikern. Die unterschiedlichen Stationen von Monicas Lebens springen von Genre zu Genre und Idiotie zu Idiotie. Mit dem Album »Patience« fügt sich dieses neue Werk von Daniel Clowes zum Psychogramm einer paranoiden Gegenwart.

Mehr als ein gutes Buch

Im #TrilogieDezember habe ich drei- und vereinzelt auch mehrbändigen Reihen vorgestellt, die etwas Besonderes für Literaturfans darstellen. Mit dabei waren Literaturpreisträger:innen wie Toni Morrison oder Jon Fosse, Genre-Autoren wie Jeff Vandermeer oder Cixin Liu und viele deutschsprachige, preisgekrönte Autor:innen wie Anke Stelling, Ralf Rothmann oder Natascha Wodin.