Allgemein, Comic

Die Welt durch einen Bilderrahmen

Die Geschichte eines expressionistischen Kunstwerks, erzählt aus der Perspektive eben jenes Gemäldes: Comic-Star Luz hat mit »Zwei weibliche Halbakte« erneut unter Beweis gestellt, dass er einer der Großen der neunten Kunst ist.

Mitten in einem Wald bei Berlin malt im Jahr 1919 Otto Müller, Expressionist und Mitglied der Künstlergruppe »Die Brücke«, eines seiner bekannteren Bilder. Seine Frau, Maria »Maschka« Mayerhofer, steht ihm Modell. Als er sie auffordert, die Bluse ein wenig aufzuknöpfen ruft sie: »Man könnte uns sehen, Otto!«

Man sieht aber nichts. Denn auf einem rein weißen Panel ist zunächst nur der Dialog zwischen Maler und Modell zu lesen. Erst dann entstehen im Comic Panel für Panel, Seite für Seite, Konturen, die den Blick auf das Geschehen vor dem Bild freigeben. Man sieht den Maler bei der Arbeit, mit jedem seiner Pinselstriche sieht man ihn und das Geschehen hinter ihm besser. Als die gesamte Leinwand mit Farbe bedeckt ist, haben die Panels keine weißen Flecken mehr.

Luz: Zwei weibliche Halbakte. Aus dem Französischen von Lilian Pithan. Reprodukt Verlag 2025. 192 Seiten. 29,- Euro. Hier bestellen https://reprodukt.com/products/zwei-weibliche-halbakte
Luz: Zwei weibliche Halbakte. Aus dem Französischen von Lilian Pithan. Reprodukt Verlag 2025. 192 Seiten. 29,- Euro. Hier bestellen.

So werden die Leser:innen Zeuge, wie das Gemälde »Zwei weibliche Halbakte« entsteht, und das immer aus Sicht des Bildes. Das Bild selbst bleibt dabei unsichtbar, zu sehen ist nur, was aus Perspektive des Werkes zu sehen ist.

Mit diesem ebenso furiosen wie konsequenten Einstieg setzt der Zeichner und Autor Luz schon auf den ersten Seiten den Ton für seinen Comic. Die Geschichte eines Gemäldes, die konsequent aus der subjektiven Perspektive eben dieses Gemäldes erzählt wird, beginnt logischerweise mit der Schöpfung des Werkes.

Die Wahl der Perspektive ist indes nicht die einzige gute Entscheidung, die Autor Luz gefällt hat. Denn das Bild, um das es geht und das seinem neuen Werk nun seinen Titel gibt, hat einen hochinteressanten Werdegang, den Luz auf 192 Seiten mitreißend nachzeichnet.

Die ersten Seiten aus dem französischen Original

1919 bricht der Expressionist Otto Müller in Berlin mit seiner Gewohnheit, Akte ganzfigurig zu gestalten. Mit dem Werk »Zwei Mädchenakte«, später umbenannt in »Zwei weibliche Halbakte«, stellt er vor einer angedeuteten Naturkulisse zwei Frauen nur bis kurz oberhalb des Bauchnabels dar. So findet Müller nach den Jahren des Krieges, die er teilweise an der Front erleben musste, wieder in die Malerei zurück. Noch im selben Jahr zieht er nach Breslau, wo 1925 der Sammler Dr. Ismar Littmann, ein jüdischer Rechtsanwalt, das Bild erwirbt.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im April 1933 verliert Littmann seine Zulassung als Anwalt. Er suizidiert sich 1934. Seine Witwe versucht noch, das Bild zusammen mit anderen aus der Sammlung zu verkaufen, um mit dem Erlös die Flucht aus Deutschland zu finanzieren. Doch zwei Tage vor der Auktion in Berlin wird es von der Gestapo als »kulturbolschewistische Darstellung pornographischen Charakters« beschlagnahmt.

1937 wird das Gemälde in der Ausstellung »Entartete Kunst« gezeigt und »tourt« durch Deutschland. Danach sollen die Ausstellungsstücke zu Geld gemacht, »verwertet« werden. Beauftragt werden mehrere Galeristen, darunter Hildebrand Gurlitt. Rund 4.000 Kunstwerke, die die Nazis für »nicht verwertbar« halten, werden in Berlin verbrannt. Der Rest wird 1939 auf einer Auktion in Luzern angeboten. Die »Halbakte« werden indes nicht verkauft.

Gurlitt erwirbt das Bild 1941 in einem Tauschhandel und verkauft es 1942 an den Sammler Josef Haubrich. Durch dessen Schenkung gelangt das Werk 1946 in das Wallraf-Richartz-Museum. Es folgt eine weitere, diesmal weltweite »Tournee«. 1976 gelangt das Bild ins Museum Ludwig.

Dort wurde lange Zeit angenommen, es sei auf legalem Weg in die Sammlung der Nationalgalerie in Berlin gelangt. Diese Auffassung wurde aber in Folge der Provenienzforschung korrigiert. 1999 wurde die damals 82-jährige, in Israel lebende Tochter Littmanns nach Köln eingeladen, kurz darauf wurde das Gemälde restituiert und wieder erworben. Es ist heute wieder im Museum Ludwig zu bewundern.

Zusammengefasst: »Zwei weibliche Halbakte« hat seit seiner Erschaffung wie nur wenige Werke in großer Dichte so ziemlich alles »erlebt«, was einem Bild seiner Zeit bis heute in Deutschland widerfahren konnte. Das macht es zu einer exzellenten Wahl für die erzählte Geschichte.

Luz begründet diese Wahl recht lapidar: Es sollte ein Werk aus der Ausstellung »Entartete Kunst« sein, aber kein allzu bekanntes. Der Rest sei »intuitiv« geschehen. Er liebe halt die expressionistischen deutschen Maler, und dann handele es sich ja um ein Doppelporträt, das lasse viel Spielraum für eigene Empfindungen der Betrachter.

Werke von Renald Luzier

Die berühmt-berüchtigte Ausstellung ist der Initialpunkt des Comics: »Ich habe mich viel mit der Münchner Ausstellung ‚Entartete Kunst‘ beschäftigt,« gibt Luz zu Protokoll. «Da wurden Kunstwerke buchstäblich zu Feindbildern gemacht. Darin sehe ich eine Parallele zu meinen eigenen Erfahrungen. Deshalb wollte ich die Geschichte eines der Bilder aus dieser Ausstellung erzählen, die unfreiwillig zu einer beeindruckenden Zusammenstellung von Malerei des 20. Jahrhunderts geworden ist.«

Luz, eigentlich Rénald Luzier, wurde 1972 in Tours geboren. Er war ab 1992 Redaktionsmitglied der Satirezeitung Charlie Hebdo. Den islamistischen Anschlag auf die Redaktion am 7. Januar 2015, bei dem einige der wichtigsten Köpfe der Zeitung ermordet wurden, überlebte er nur, weil er am Vorabend in seinen Geburtstag hineingefeiert hatte, am Morgen erst mal seinen Kater auskurieren musste und deswegen zum Zeitpunkt des Attentates noch nicht in der Redaktion war.

Wenige Monate nach dem Massaker veröffentlichte er »Katharsis« (deutsch bei S. Fischer), ein erschütterndes und bewegendes Zeugnis von der Zeit nach dem Anschlag. Im September 2015 verließ Luz das Blatt. Seine Erinnerungen an die Charlie-Zeit hat er in dem Comic-Memoirenband »Wir waren Charlie« verarbeitet. Zuletzt ist seine zurecht viel gelobte zweibändige Adaption der Romanreihe »Vernon Subutex« von Virginie Despentes erschienen.

Luz wird derzeit in der Comicwelt mit Lob, Auflage und Auszeichnungen überhäuft. Die »Halbakte«, in Frankreich bereits im vergangenen Jahr erschienen, wurden mit dem »Fauve d’Or« ausgezeichnet, dem Hauptpreis des renommierten Comicfestivals in Angoulême. Recht so. Luz ist derzeit eine der führenden Figuren der Neunten Kunst in Frankreich.

Die außerordentliche Fähigkeit, einen Stoff zu visualisieren, die Luz bei Vernon Subutex bereits bewiesen hat, bestätigt er auch bei den »Halbakten«. Das Comic hätte genauso gut eine etwas dröge Geschichtsstunde werden können, die alles richtig macht und doch nicht wirklich gut ist. Entscheidend ist dafür die Wahl der Erzählperspektive, die auch für Luz eine neue Erfahrung gewesen sein muss.

Die freie Gestaltung der Seiten, die die Adaption »Vernon Subutex« so beeindruckend machte, und für die der Künstler so gelobt wurde, wischt er hier beiseite und beweist, dass er sich selbst neu erfinden kann. Er entscheidet sich für eine Strenge, die ihresgleichen sucht: Die subjektive Perspektive eines Bildes kann logischerweise immer nur das selbe Bildformat sein. Dementsprechend werden die Seiten klassisch in Panel gestaltet, die alle mehr oder weniger identische Seitenverhältnisse haben.

Klingt einfach, ist es aber nicht: Denn dafür braucht es zum einen Mut und zum anderen das Vertrauen in die Leser:innen, dass sie diese Strenge akzeptieren und, obwohl sie beim ersten Lesen wohl nicht alle Referenzen erkennen, dabei bleiben.

Auszug 1: Der Besuch des Führers

Und es braucht einen Künstler, der mit dieser selbstauferlegten Strenge umzugehen und auch in dieser Beschränktheit auf das Format dennoch kleine Nebengeschichten zu erzählen weiß: Wie zum Beispiel in Breslau vor dem Fenster des Anwalts, das im Sichtfeld des Bildes ist, immer mehr Uniformen zu sehen sind, wie Schornsteine im Hintergrund plötzlich rauchen, wenn Bilder zur Vernichtung rausgetragen worden sind. Es sind Beobachtungen wie diese, die die Lektüre des Buches zu einem Erlebnis werden lassen.

Großartig ist auch die Passage der Münchener Propagandaausstellung über »Entartete Kunst«. Sie sollte ja eigentlich die Minderwertigkeit der ausgestellten Werke belegen. Doch so ganz trauten die Kuratoren der Sache offenbar nicht: die Bilder wurden dicht gehängt und obendrein auch noch schief, um nur ja hässlich zu wirken. Luz greift das auf, indem alle Panels, in denen es um die Ausstellung geht, schief sind – weil die »Halbakte« schief gehängt wurden.

Dass während der Ausstellung ein kleiner rotbackiger Junge in Lederhose die »Halbakte« genauer ansieht und kurzerhand gerade rückt (und die Panels darauf wieder gerade sind) ist nur eine der vielen Ideen, mit denen Luz seine Erzählung bereichert und mit Leben füllt.

Auszug 2: Die Hängung in München

Die Übersetzung des Bandes hat Lilian Pithan auf wunderbare Weise sicher gestellt. Überhaupt hat der Verlag Sorgfalt walten lassen: Den Comic runden Porträts der Zeitgenossen ab, die in der Erzählung vorkommen, eine Zeittafel ordnet die Ereignisse ein. Beides ist für Leser:innen, die nicht Kunstgeschichte studiert haben, ausgesprochen hilfreich. Und es macht Lust, das Comic gleich wieder vorne aufzuschlagen und die Geschichte nochmal mit dem zusätzlichen Wissen zu lesen.

Er habe eigentlich ein historisches Buch machen wollen, berichtet Luz. Doch der Sammler, der antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt ist, die teilweise atemberaubend unmoralischen Kunsthändler und eine quer durch Europa aufsteigende Rechte: Nichts davon sei uns heute fremd.

Auszug 3: Die Rede

Und er habe zeigen wollen, dass wir alle von der Geschichte hin- und hergeworfen werden und »manchmal genau so missverstanden werden wie ein Kunstwerk«. Das alles ist ihm großartig gelungen, keine Frage. Und er findet nach all dem einen versöhnlichen Schluss:

Denn ganz am Ende des Comics hängt das Bild an seinem heutigen Platz im Kölner Museum Ludwig. Ein alter Mann – Mütze, Brille, Bart – sieht es sich ganz genau an. Er ist der kleine Junge in der Lederhose, der damals, 1937, das Bild in München gerade rückte. Jetzt schaut er es an, triumphierend, zufrieden, glücklich, das Bild zu wiederzusehen, das im Gegensatz zu ihm scheinbar unversehrt die Zeit überbrückt hat. Und zwinkert ihm zum Abschied zu.

Letzten Endes hat also doch die Kunst gesiegt. Sie ist noch da, sie hat die Zeit überstanden, und sie kann diejenigen trösten, die sie betrachten.