In ganz Deutschland hängen die großformatigen Plakate für die aktuelle Kirchner-Retrospektive im Frankfurter Städel. Mit dem Titel »EXpressionist« kündigt die Werkschau die Entzauberung eines Mythos an – und überzeugt in faszinierender Weise.
»Wenn ein Fabrikant einer Ware einen Titel oder Marke gegeben hat und dieselbe damit gut eingeführt ist, wird er sich gegen Jeden wehren, der ihr plötzlich einen anderen und dazu noch gemeinen herabsetzenden geben will, nicht wahr. Nun die Fabrikmarke meiner Kunst ist E. L. Kirchner und nichts weiter. Jeder wahrhafte Freund meiner Arbeit kennt sie unter dieser Bezeichnung und es ist bis heute noch keinem eingefallen, mich EXpressionist zu nennen.« Diese Worte schrieb ein erboster Ernst Ludwig Kirchner an Georg Schmidt, den späteren Direktor des Kunstmuseums Basel, nachdem ihn dieser 1924 in guter Absicht öffentlich verteidigt, ihn dabei aber als EXpressionist bezeichnet hatte. Sie gaben der ersten Kirchner-Retrospektive seit 30 Jahren ihren Titel. Unter EXpressionist sind im Frankfurter Städel-Museum noch bis Ende Juli 170 Werke Kirchners zu sehen.
In Kirchners empörenden Schreiben an Georg Schmidt werden zweierlei Dinge deutlich. Zum einen, dass E. L. Kirchner seine Kunst als Markenware betrachtet hat, die seinem Stil unterliegt. Dementsprechend imposant ist sein Gesamtwerk, das neben 10.000 Aquarellen, Pastellen und Zeichnungen noch 12.000 Skizzenbuchblätter, 2.100 Druckgrafiken, etwa 1.000 Gemälde und über 100 Skulpturen enthält. Zum anderen macht es aber auch deutlich, wie ungern sich Kirchner, der stets die zeitgenössischen Strömungen um ihn herum aufgriff und künstlerisch zu verarbeiten suchte, auf eine Stilrichtung, nämlich den EXpressionismus, festgelegt wissen wollte. Dennoch gilt er bis heute nicht nur als Aushängeschild dieser sinnlich-spontanen Kunst, sondern wird oft auf diese reduziert. Mit diesem Bild aufzuräumen strebt die Frankfurter Retrospektive »Ernst Ludwig Kirchner – EXpressionist« an. Sie ist die erste umfassende Werkschau seit den Feierlichkeiten zu Kirchners 100. Geburtstag im Jahr 1980. Die letzten größeren Ausstellungen zu Kirchners Schaffen fanden anlässlich seines 70. Todestages 2008 im Brücke-Museum in Berlin statt.
»Ich muss zeichnen bis zur Raserei, nur zeichnen, dann nach einiger Zeit nur das Große aussuchen. Die Technik ist zu schön.« Worte, die Kirchner im Sommer 1919 in sein Schweizer Tagebuch schrieb, während er sich von der tiefen Krise, in die ihn der Wehrdienst gestürzt hatte, zeichnender Weise erholte. Doch auch wenn mit zunehmender Genesung der innere Zwang zum Zeichnen wiederkehrte, der Kirchners Vorkriegswerke prägt, stellten die Zivilisationsbruch-artigen Ereignisse des 1. Weltkriegs einen Wendepunkt in Kirchners Schaffen dar. Seine nach dieser Erfahrung geschaffenen Gemälde reflektierten nicht mehr vorrangig seine Beobachtungen, sondern er selbst und seine EXistenziellen Nöte zogen seitdem in sein schier endloses Werk ein.
Kirchners Zeichnungen nehmen seit jeher eine bedeutende Rolle in seinem Werk ein. Sie sind das zentrale Medium des Künstlers. Er selbst bezeichnete sie als einen »Spiegel der Empfindungen eines Menschen in unserer Zeit«. In ihnen drückt sich noch heute Kirchners unmittelbare, ungefilterte Empfindung und Wahrnehmung der Welt aus, die er gemeinsam mit seinen Brücke-Kollegen Fritz Bleyl, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein, Emil Nolde und Otto Müller immer wieder einübte. In ihrer Künstler-Gruppe »Die Brücke« wollten sie durch das intuitive Zeichnen die akademischen Ansätze von Oberflächen und Volumina vergessen. Das zentrale Thema war die Aktzeichnung, »unmittelbar und unverfälscht«. Um dies zu trainieren, führte die Künstlergruppe die »Viertelstundenakte« ein, bei denen es um die intuitive Erfassung der gesamten Situation ging. Das Kunstwerk wurde dabei zur untrennbaren Einheit eines Moments, einer Entität, zur »Hieroglyphe« (vgl. Ernst Ludwig Kirchner: Meisterblätter).
Entstanden sind dabei die sinnlich-impulsiven Badeszenen und Aktdarstellungen von Fränzi und Marcella, den beiden kindlichen Musen der Gruppe, die bis heute EXemplarisch das Bild des EXpressionismus prägen. In ihnen wird der ambivalente Versuch deutlich, einerseits die erotische Gegenwart des Weiblichen zu steigern, andererseits aber die Person zu ignorieren und in beliebiger Manier als Phänomen zu entwerfen. Weiter findet die Technik der »Viertelstundenakte« außerhalb des behüteten Brücke-Kosmos in Kirchners Momentaufnahmen von Varietés und Zirkussen Anwendung.
Die ganzheitliche Malerei behält Kirchner bei, als er 1911 von Dresden in die Durlacherstraße 14 nach Berlin zieht. Was sich allerdings ändert, sind seine Motive und die Art, Wirklichkeit abzubilden. Nach der ländlichen Idylle von Dresden und Moritzburg sind es jetzt die großstädtischen Motive, die sich ihm in Berlin bieten, die er nun ins Zentrum seiner Malerei stellt. Die Metropole und ihre gesellschaftlichen EXtremverhältnisse ziehen Kirchner wie magische Pole an. Im Laufe seiner Berliner Jahre änderte sich auch Kirchners gesellschaftliches Verständnis. Sind die Zeichnungen und Gemälde vom Anfang seiner Berliner Zeit vielmehr enthusiastische Dokumente der libertären Begegnung von Freier und Kokotte, halten die später entstandenen vor allem Hierarchien (und damit Ausbeutungsverhältnisse) fest. Dabei geht es Kirchner aber nicht um die Lamentation der »zur Ware degradierten Frau«, sondern vielmehr um ihren gesellschaftlichen Rang als Liebesdienerinnen des gehobenen Bürgertums, so dass er sie meist in leichter Untersicht zeichnete.
Kirchner lernte in Berlin Alfred Döblin kennen und wurde mit der Großstadtphilosophie von Georg Simmel konfrontiert. All das schlägt sich in seinen Straßenszenen nieder, die nachhaltig als VorzeigeEXemplare der Großstadtmalerei dienen. Kirchner wurde der erste Maler der modernen Großstadt. Deren Hektik und latent aggressive Lebendigkeit schlugen sich in seinem Stil nieder. Seine Zeichnungen wurden EXaltierter, nervöser EXtremer, konturenreicher. Von der Hektik der Metropole konnte er sich lediglich auf Fehmarn erholen, wo er in dieser Zeit viele Wochen und Monate verbrachte und sich mit Landschafts- und Aktszenen zur inneren Ruhe zurückzeichnete. Die auf Fehmarn entstandenen Werke besitzen im Gegensatz zu den anonymen Großstadtmalereien Seele und Erotik, und damit eine geradezu familiäre Intimität – selbst wenn die Szenen deutlich weniger anstößig sind. Sie sind weniger aggressiv und offener gezeichnet (vgl. Ernst Ludwig Kirchner: In Berlin).
Es folgte der Zivilisationsbruch 1914. Kirchner meldete sich enthusiastisch zum Freiwilligendienst in der Armee, musste jedoch schnell erkennen, dass ihn der militärische Drill kaputtmacht. Er floh in die Krankheit und erst nach etlichen Ruhezeiten und Erholungsurlauben attestierte ihm ein Arzt schließlich: »Sie müssen nie wieder Soldat werden, denn Sie tragen irgendwo ein verborgenes Leiden in sich.« Seine Erlebnisse und Beobachtungen im Militärdienst verarbeitete Kirchner während seiner Auszeiten. Entstanden sind in der Zeit viele Bilder ausgemergelter Menschen und verzerrter Landschaften. Das reale Grauen hielt Einzug in seine Bilder, auch wenn er auf das Zeichnen von konkreten Kriegsszenen verzichtete. Bis zu dieser Krise, in die ihn der 1. Weltkrieg stürzte, repräsentieren Kirchners Werke das, was wir unter sinn-ästhetischer Malerei verstehen und EXpressionismus nennen.
In der Schweiz allerdings änderte sich Kirchners Stil zunehmend, er EXperimentierte mit den Strömungen seiner Zeit. Auf den Bildern ist daher vor allem eine Intensivierung der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer künstlerischen Umsetzung spürbar. Als müsste er die Freude am zurück gewonnenen Leben teilen, verschwand die düstere Note aus seinen Bildern. Leuchtenden Farben, abstrakte Elemente und verspielte Nuancen zogen wieder in sein Werk ein. Anfang bis Mitte der 1920er Jahre entstanden außerdem Bilder, die wie etwas undisziplinierte Ableger der »Neuen Sachlichkeit« wirken. Dieser Prozess kann in der Rückschau, wie sie die Frankfurter Ausstellung erstmals möglich macht, als Emanzipation Kirchners vom EXpressionismus und der wegweisenden Künstlergruppe »Die Brücke« gedeutet werden, deren Auflösung einen sehr unversöhnten Künstler Kirchner zurückließ. Dieser Loslösungsprozess gipfelte schließlich in der Entwicklung des »neuen Stils«.
Im »neuen Stil« wurde die sinnlich-gegenständliche Malerei von der sinn-ästhetischen Abstraktion abgelöst, durch die der Betrachter direkt in das Geschehen einbezogen werden sollte. Die Bilder sollten nicht mehr abbilden, sondern den Betrachter verwickeln, in die Szenerie hineinziehen und damit zu »Publikumsmagneten« im wahrsten Wortsinn werden. Der Weg, den er dabei zurückgelegt hat, ist ein weiter. Dies wird nachvollziehbar, wenn man sich das Selbstbildnis mit Mädchen, Doppelbildnis mit Erna von 1914/15 anschaut und es mit dem 20 Jahre später entstandenen Werk Das Paar, Selbstbildnis mit Erna, vergleicht. Als wären es Bilder zwei verschiedener Künstler. Sein späteres Gemälde lässt unweigerlich an Picassos denken, aber auch Elemente von René Magritte oder Joan Miró kann man darin erkennen. Mit seinem »neuen Stil« wurde der Zugang zur inneren Verfasstheit der Menschen über die reine Abbildung der Realität abgelöst von der abstrakten Darstellung der Reflektion einer seelischen Verfassung. Das frühere Bild repräsentiert ikonisch Kirchners EXpressionistische Phase, während das später entstandene Bild wie eine Mischung aus Picassos kubistischer Perspektiven-Malerei und den Phantasmagorien des Surrealismus gepaart mit dem 50er-Jahre-Charme à la Richard Yates. Irgendwie visionär, irgendwie schräg, irgendwie Kirchner.
In der Frankfurter Ausstellung und dem dazugehörigen Katalog wird die Marke E. L. Kirchner wie ein UntersuchungsEXemplar seziert, allerdings ohne dass es ihr schadet. Vielmehr deckt diese kunsthistorische Obduktion Kirchners Geheimnisse auf und macht sie, vergleichend mit seinem bekannteren EXpressionistischen Werk und anderen Kunstströmungen, zugänglich. Sie lässt uns einen Kirchner entdecken, dessen Werk in der französischen Avantgarde seine Wurzeln hat und im Expressionismus seinen kreativen Höhepunkt, aber bei Weitem nicht auf diesen beschränkt werden kann. Vielmehr war Ernst Ludwig Kirchner ein wirklicher Künstler seiner Zeit, der mit der Reflektion seines EXzessiven Lebens in seinen Werken die Gründung der modernen Kunst in ihrer vielfältigen Ausprägung beförderte.
Der prächtige Katalog zur Ausstellung, erschienen im Verlag Hatje Cantz, macht dies auf beeindruckende Art und Weise deutlich. Chronologisch durchschreitet er mit Text und Bild die einzelnen Lebensabschnitte Kirchners und lässt den Betrachter mithilfe der kenntnisreichen Ausführungen namhafter Kirchner-EXperten tief in den Kosmos Kirchners kreativen Schaffens einsteigen. Werkzusammenhänge, Einflüsse von außen und biografische Brüche werden in Zusammenhang gebracht und im Gesamtwerk verortet. Der besondere Fokus auf das durch die französische Avantgarde geprägte Frühwerk Kirchners sowie auf dessen spätes Schaffen und seinem »neuen Stil« unterscheidet Ausstellung und Katalog von bisherigen Kirchner-Schauen. Was bleibt, ist ein künstlerisches Werk mit Brüchen und Widersprüchen. Gerade daraus zieht es noch heute seine Faszination.
Die Ausstellung ist noch bis zum 25. Juli 2010 im Städel Museum Frankfurt zu sehen. Alle Informationen zur Kirchner-Retrospektive finden Sie hier.
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