Geschichte, Gesellschaft, Sachbuch

Gegen den Strich

Der Reisejournalist Marko Martin erkundet in seinem neuen Buch die Welt der Querdenker. Doch nicht für alle hat er Sympathie. Dissidentische Denker bewundert er, für Opportunisten und pathetische Flachdenker hat er nichts übrig. Warum das so ist und wo genau er die Linien zieht, erklärt er in seinem neuen Buch »Dissidentisches Denken«.

»Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin.« So beschreibt der Verlag lakonisch und treffend den Autoren des Buches »Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeigen des Zeitalters«. Martin ist ein weitgereister, weltoffener, ein neugieriger Mensch. Schreiben kann er auch. So gut, dass er 2019 mit seinem Werk »Das Haus in Habana« für die Shortlist des Leipziger Buchpreises in der Kategorie Sachbuch/Essayistik nominiert wurde. Dabei übertritt er gerne Grenzen, nicht nur beim Reisen. »Das Haus in Habana« ist belletristische Non-Fiction oder ein literarisches Sachbuch, ein Buch der Reflexion und der Sinnlichkeit, der Politik und des Sex. Martin ist immer irgendwo und irgendwie dazwischen, schwer einzuordnen, aber nie beliebig.

Marko Martin: Das Haus in Habana: Ein Rapport. Wehrhahn Verlag 2018. 256 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen

So habe ich ihn auch persönlich kennengelernt, bei einem schwarz-grünen Salon im Jahr 2004. Zu Gast war damals Karsten Voigt, damaliger Koordinator der Bundesregierung für deutsch-amerikanische Zusammenarbeit. Bedeutungsschwer wurde über die transatlantischen Beziehungen unter George W. Bush diskutiert, die Thesen neokonservativer Denker referiert, die Weltlage reflektiert. Bis, ja, bis sich Marko Martin meldete und Karsten Voigt nach seinem gemeinsamen Urlaub mit Egon Krenz auf der Krim befragte. Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen war ab dieser Frage nur noch sekundär.

Mich interessierte diese imponierende Person, die sich über Konventionen hinwegsetzte und dem die Wohlfühl-Atmosphäre solcher Ereignisse egal war. So einiges erfuhr ich über Marko Martin in direkten Gesprächen. Über seine Kindheit und Jugend in Sachsen, über seine familiäre Verbindung zu den Zeugen Jehovas, dass er als Wehrdienstverweigerer weder sein Abitur machen noch ein Studium beginnen konnte, sondern dem eine Karriere als Hilfsarbeiter im Arbeiter- und Bauernstaat bevorstand, bis seine Familie und er 18-jährig im Mai 1989 ausgewiesen wurde. Eine Postkarte wies der Familie den Weg nach Radolfzell am Bodensee, in eine der schönsten Landschaften Deutschlands. Dort holte er sein Abitur nach, kehrte im Jahr darauf noch vor der Wiedervereinigung nach Berlin, Sachsen und Prag zurück und fasste seine Erlebnisse, Eindrücke und Einschätzungen in einem wundervollen autobiographischen Bericht »Sommer 1990« zusammen.

Marko Martin: Sommer 1990. Deutsche Verlags-Anstalt 2004. 205 Seiten. 17,90 Euro. Ausverkauft

Etwas reizte mich immer an diesem Marko Martin. Damit meine ich nicht seinen so oft unverschämten und liebenswerten Humor, seine Intelligenz, seinen klaren moralischen Kompass und seine politische Standfestigkeit. Es gab Überschneidungen in unseren Werdegängen – Lebensabschnitte am Bodensee zum Beispiel – und dennoch waren die Unterschiede zwischen einer ungebrochenen Westbiographie und einer mehrfach gebrochene Ostbiographie überdeutlich. Was das genau war, wurde mir mit einem Zitat von Luc Bondy deutlich: »Im Westen spaziert man durch das Leben, während man im Osten durch die Geschichte kriecht.«

Dieses Zitat fand ich in Martins aktuellem Buch »Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters«, eine Liebeserklärung an Menschen, die viele Dinge auszeichnet: Eine spannende Biographie, eine hohe moralische Intelligenz, eine gute Menschenkenntnis und die Fähigkeit, das Richtige im Falschen zu erkennen. Martin beschreibt darin Zeugen: Dissidenten, Lager-Überlebende, antitotalitäre Oppositionelle, Bekannte und Unbekannte wie Jürgen Fuchs, Melvin Lasky, Jerzy Giedroyc, Zofia Hertz, Milan Kundera, Pavel Kohout, Hans Sahl, Raissa Orlowa-Kopelewa, Arthur Koestler, Horst Bienek, Edgar Hilsenrath, Aharon Appelfeld, Elisabeth Fisher-Spanjer, Anne Ranasinghe und etliche andere. Zeugen eines Zeitalters der Extreme – politisch, ideologisch, kulturell, geographisch. Ein Zeitalter, das vielleicht noch nicht beendet ist.

Navid Kermani: Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan. C.H. Beck 2018. 442 Seiten. 24,95 Euro. Hier bestellen

Bei der Lektüre wurde ich an das Buch Entlang den Gräben« von Navid Kermani erinnert, eine intellektuelle Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan (seine Beschreibung der Freitagsmoschee in Isfahan ist ein absolutes Highlight) entlang der Bruchlinien des 20. Jahrhunderts. Einen großen Unterschied konnte ich leicht entnehmen. Kermani interessierte sich stets für das zu geistigen und materiellen Strukturen Gewordene, für Glaubenssysteme, Kirchen und Moscheen, aber selten für die Menschen, denen er begegnete.

Marko Martin indes interessiert sich stets für die Menschen, für ihre Biographien, für das Menschliche, Allzumenschliche. Er ist an den Menschen interessiert, an ihren Blicken, ihrem Lächeln, ihren Stimmen, ihrem Denken. Das erklärt seine den Menschen zugewandte Haltung, das Menschliche. Seine Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters sind Reisen von Mensch zu Mensch, von Freund zu Freund, zu Vertrauten zu Vertrauten. Und so dauert es lange, bis Gegenständliches in seinem »Dissidentischen Denken« auftaucht: Das Eingangstor in Maison-Laffite, Sitz der Redaktion von Kultura, die Tasse Tee bei Hans Sahl, das Gemälde von Oskar Kokoschka (oder doch von Karl Schmidt-Rottluff?) bei Mariana Frenk-Westheim. Es sind die Ausnahmen.

Ist Marko Martin mit seinem Fokus auf das Menschliche aber auch ein Menschenfreund? Zumindest geht er zart und zärtlich mit seinen dissidenten Denkern um. Hart aber geht er mit Opportunisten, Vereinfachern, »pathetischen Flachdenkern« ins Gericht. Warum? Eben weil er Menschen ernst nimmt. Er nimmt die Menschen beim Wort und damit auch die Konsequenzen des Gesagten. Er erinnert uns daran, dass Sprechen auch ein Tun ist. Konsequenzenloses Reden gibt es nicht.

Im kunstvollen Schieber kommt Marko Martins aktuelles Buch daher.

Mit »Dissidentisches Denken« entdecken wir Leser:innen Osteuropa neu. Martin füllt den Zwischenraum zwischen Deutschland und Russland: Geographisch, intellektuell und politisch. Er füllt Osteuropa mit Menschen, nicht nur mit Raum, was die Deutschen sonst gerne tun, oder mit Interessen. Menschen, die eingequetscht in totalitären Umständen eine hellsichtigen Blick auf die Welt entwickelt haben: »Was für die östliche Dissidenz voller Evidenz war, könnte manche Namens-Progressiven im Westen noch heute pikieren.«

Die Lektüre macht aber ebenso deutlich, dass die Neu- oder Wiederentdeckung der Menschen in Osteuropa nicht ohne Frankreich geschehen konnte. Über Personen wie André Glucksmann, Yves Montand, Simone Signoret oder eben Luc Bondy. Die Deutschen als direkte Nachbarn kennen Polen und Tschechen äußerst schlecht. »Diese Ignoranz gegenüber dem Osten! Ihre Illusion, dass mit dem Jahr 1989 jegliche Bedrohung der Demokratie zu Ende gegangen ist«, schreibt François Fejtö. Dass die West-Deutschen die Ost-Deutschen – und andersherum – trotz 30-jähriger Wiedervereinigung immer noch nicht kennen, sei in Parenthese erwähnt.

Was diese Personen aus und in Osteuropa ausmacht ist ein doppelter Heimatverlust. Oft haben sie ihre geographische Heimat verloren. Martin spricht mit Pendler:innen zwischen verschiedenen Heimaten, mit Reisenden, Unbehausten und Personen, die vielleicht nie ankommen werden oder heimkommen können. Sie haben zugleich ihre intellektuelle, geistige und/oder politische Heimat verloren. Es sind vom Leben enttäuschte Personen, Menschen die eine ent-TÄUSCHUNG erlebt haben. Vielleicht schuf die Erfahrung, die Erkenntnis, getäuscht gewesen zu sein, einen klareren Blick auf die Realitäten.

»Dissidentisches Denken« ist im Kern eine Absage an die Kungelei mit den Mächtigen.

Trotz der Enttäuschungen sind diese Dissidenten keine Renegaten. Die Leser:innen finden bei ihnen keine Besserwisserei, keinen Eifer, keinen Trotz, keine Wut, keinen Zorn vor. Man wundert sich über diese menschliche und moralische Größe, schließlich haben sie existentielle Erfahrungen erleben müssen, eine »Erfahrung des Bruchs und des plötzlichen Abkippens, der Fragilität von Gesellschaften, der Unvernunft oder rationalistisch kaschierten Brutalität von Mehrheiten – und der partiellen Blindheit von Minderheiten, die das Kommende entweder nicht wahrnehmen wollten oder das Geschehen in ideologische Erklärungsmuster zwängten.« Marko Martin schildert kontrollierte Personen, sine studio et ira, Menschen, die der Geschichte verziehen haben, der Geschichte verzeihen konnten. Oder mit den Worten von Lew Kopelew: »Die Wahrheit ist milde, sie eifert nicht, sie verzeiht. Doch kann es kein Verzeihen geben vor und außerhalb der Wahrheit.«

Er hat Personen aufgesucht, denen »ein feines Sensorium« gemein ist. Ein Sensorium, das deren Denken in der Dissidenz geprägt hat. Es ist ein Denken gegen den Strich, gegen die Extreme, gegen links wie gegen rechts, ein Denken, das dennoch nicht im Mainstream der Mitte endet. Vielleicht ist es die Gewissheit, die diese Dissidenten an der eigenen Seite spüren, die ihnen ein Denken ohne Rage und ein Formulieren ohne Pathos ermöglicht. Und mit großer Klarheit: »Was für eine Zeit! Doch der emanzipatorische Elan von damals ist längst verpufft, die alten Partei-Eliten sitzen wieder fest im Sattel und die vermeintliche Alternative der nationalistischen Rechten, gar nicht zu reden von deren antisemitischen Rändern, ist auch nicht dazu angetan, meine Besorgnis zu zerstreuen.« Diese Einschätzung über Osteuropa stammt nicht aus einem aktuellen Kommentar der Süddeutschen Zeitung oder der FAZ, sondern von François Fejtö aus dem Jahre 1997.

Marko Martin: Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen des Zeitalters. Die Andere Bibliothek 2019. 540 Seiten. 42,- Euro. Hier bestellen.

»Dissidentisches Denken« ist im Kern eine Absage an die Kungelei mit den Mächtigen. Sie setzt stattdessen auf die Solidarität mit den Entrechteten oder mit den Worten von Jan Patocka auf die »Solidarität der Erschütterten«. Es ist eine andere Welt, die diesen dissidentischen Männern und Frauen vorschwebt und die sie auch leben. Es ist eine Utopie des besseren Lebens, die diese Menschen zusammenhält. »Utopia ist hier. Ganz einfach dort, wo Menschen versuchen, einander gut und solidarisch zu sein.« So Jürgen Fuchs, einer der Helden, die Marko Martin immer wieder zitiert. Er singt weitere hohe Lieder auf hohe Albert Camus, Daniel Cohn-Bendit, Heinrich Böll und Wolf Biermann. Ihnen stellt er Anti-Helden gegenüber, Rechthaber, Verblendete, Feiglinge, Egozentriker, Wegschauer und Opportunisten, zu denen in seinen Augen Louis Aragon, Bert Brecht, Egon Bahr oder Christa Wolf gehören. »Dissidentisches Denken« heißt bei ihm machtkritisch zu sein und die großen Gewissheiten und lauten Worte zu hinterfragen. Die einen können es, die andere wollen oder schaffen es nicht.

Für die Zweitgenannten gibt es keine Entschuldigung, für die Erstgenannten hohe Bewunderung. Dass Marko Martin sich auf die Reise begeben hat, diese Frauen – ja, es sind viele Frauen – und Männer aufzusuchen und zu besuchen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, mit ihnen über Jahre Kontakt zu halten, ihr Andenken zu bewahren und damit der Welt zu zeigen, dass es ein Richtiges im Falschen gibt, zeugt von seiner großen Menschlichkeit. Es ist eine untergehende, eine sterbende Welt, die Marko Martin aufgesucht hat, die etlichen Nennungen der Todestage der von ihm Besuchten zeugen davon. Uns diese Welt, die Zeit des 20. Jahrhunderts nahe gebracht zu haben, dafür gebührt ihm großer Dank. Seiner Enzyklopädie zum Anders- und Quer-, zum Gegen-den-Strich-Denken sind viele Leser:innen zu wünschen.

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