Mit »Die Anomalie« hat Hervé Le Tellier 2020 den Prix Goncourt gewonnen. Sein Roman bietet beste Unterhaltung und große literarische Qualität. Er ist aber auch Teil einer besonders programmatischen Literatur. Aber wo finden sich die Oulipo-Spuren in Hervé Le Telliers Roman? Im Rahmen des 21. Internationalen Literaturfestivals gab der Franzose im Literarischen Colloquium Berlin Einblick in seine Schreibwerkstatt.
Hervé Le Telliers Roman »Die Anomalie« gewann im vergangenen Jahr den renommierten Prix Goncourt und stürmte im Lockdown die Bestsellerlisten. Mit fast einer Million verkauften Exemplare innerhalb weniger Wochen hat er selbst Jonathan Littells »Die Wohlgesinnten« überholt. Vor wenigen Wochen ist er in der deutschen Übersetzung von Romy und Jürgen Ritte erschienen und die Feuilletons jubeln. Die irre Story der Dopplung, die der Franzose hier erzählt, ist schlichtweg preisverdächtig.
Der Roman steht aber auch unter einem besonderen programmatischen Stern. Le Tellier gehört zur Oulipo-Autorengruppe, die Autoren wie Georges Perec, Raymond Queneau, Italo Calvino und Marcel Duchamp gegründet haben. Die Mitglieder der »Werkstatt für Potentielle Literatur« unterwerfen ihr Schreiben speziellen Formzwängen, arbeiten mit strukturellen Vorgaben, festen Bezügen und Zahlenmystik.
Lockdown und Kontaktbeschränkungen haben dazu geführt, dass der Bestseller noch nie vor Publikum präsentiert wurde. Beim Internationalen Literaturfestival in Berlin fand nun die internationale Präsenz-Buchpremiere statt, bei der Le Tellier den oulipotischen Rahmen seines Romans näher erläuterte. Wenngleich mit der Einschränkung, dass es sich bei seinem Roman um »Oulipo light« handele, weil Sprache und Form nicht so stark begrenzt seien wie bei Georges Perec, der ganze Romane ohne bestimmte Buchstaben geschrieben hat.
Um diese Formzwänge besser zu verstehen, folgende kurze inhaltliche Ausführung. In »Die Anomalie« landet ein identisch besetztes Flugzeug in New York einmal im März und einmal im Juni 2021. Die Passagiere beider Flieger sind aber jeweils nur einmal in das Flugzeug gestiegen und haben auch nur einen Flug hinter sich gebracht? So gibt es jede Figur zwei Mal, als Wirklichkeit und als Simulation, die unaufhaltsam aufeinander zulaufen. Ein Fehler in der Matrix? Und welche Rolle spielen die schweren Turbulenzen, in die der Flieger geraten ist? Das können weder die Geheimdienste noch Wissenschaftler oder Religionsgelehrte klären. In dieser irrsinnig packenden und brillant konstruierten Geschichte, in der man den Passagieren und ihren Geschichten folgt, spielt Le Tellier auf faszinierende Weise mit der Vorstellungskraft seiner Leser:innen.
Doppelgänger-Motiv
Durch die zweifache Landung des gleichen Fliegers später gibt es jede:n Passagier:in zwei Mal. Mit dem Aufeinandertreffen der jeweiligen Doppelgänger schafft Le Tellier die maximale Identität mit dem ungleichen Zwilling. Die Doppelgänger sind nämlich nicht vollkommen identisch, die Zeit, in der sie leben, unterscheidet sie. Durch die vergangene Zeit ist Variation möglich, Schwangerschaft, Krankheit, Tod und sogar Wiederauferstehung trennen Original und Kopie. Das ruft das Thema der Selbstkonfrontation auf den Plan, deren verschiedene Formen der Franzose anhand mehrerer Figuren veranschaulichen wollte. Auf einer Skala, die von der Selbstaufopferung für die Doppelgänger-Figur bis hin zur Vernichtung der Kopie reicht, habe er zwanzig mögliche Reaktionen auf diese Selbstkonfrontation identifiziert. Von diesen habe er acht (plus eins) ausgewählt, um sie im Roman an seinem Personal zu beschreiben.
Simulation
Der Roman ruft alternativ zum Doppelgänger-Motiv auch die Frage auf, ob wir nicht alle nur Programme einer höheren Spezies sind? Was in der Science Fiction schon x-mal durchgespielt wurde, macht Le Tellier in der Gegenwart plausibel. Als Grundlage dient ihm die Theorie, dass die Informatik alle dreißig Jahre ein Generationensprung macht, in dem jedes technische Gerät um eine Milliarde mal leistungsstärker wird. Rechnet man das hoch, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Maschinen das Vermögen des menschlichen Gehirns absehbar überholen. Die KI-Forschung gibt einigen Anlass, diesen Gedanken nicht allzu vorschnell zu entsorgen. Der Roman dreht diese Theorie allerdings gegen die Zeitachse und rechnet sie zurück. Und dann kann man wiederum nicht ausschließen, dass unsere Zivilisation als Simulation einer höheren Spezies vor Millionen Jahren geschaffen wurde – als Neanderthaler etwa. Entsprechend schlägt sich dieser Gedanke in der politisch-wissenschaftlich-weltanschaulichen Aufarbeitung der »Anomalie« nieder.
Dieser Simulationsansatz wirft zahlreiche Fragen auf, die in den Figuren-Kapiteln die Ausformung der Persönlichkeiten stören würden. Daher hat Le Tellier diesen Ansatz und seine Folgen für die Welt vollständig in das Kapitel »Merediths Fragen« gepackt, das in der Frage gipfelt: »Warum sollen sich diese genialen Spaßvögel nicht ausgedacht haben, dass jedes religiöse Programm den falschen Gott anbetet?« Dieses Konzeptkapitel ist ein radikales Beispiel für die programmatische Anlage des Romans, weil es alle Fragen zur zugrundeliegenden Philosophie der Handlung aufwirft, um in den anderen Kapiteln Platz für das literarische Programm zu schaffen.
Personal
Statt zuerst sein Personal zu finden, hat Le Tellier zunächst die zu beschreibenden Reaktionen auf die Doppelgänger-Konfrontation festgelegt. Auf Basis dieser Konstellation – wir erinnern uns, acht (plus eins) – bildet er sein personales Tableau. Für jede Figur steht damit ein beschränktes Seitenkontingent zur Verfügung, um zu zeigen, wie sie auf die Konfrontation mit dem Selbst reagiert.
Das Personal repräsentiert wiederum die Gesellschaft und bildet Paare, die sich diametral gegenüberstehen. So gibt es etwa einen weißen Auftragskiller und eine schwarze Anwältin, einen in die Jahre gekommener Architekt und seine junge Geliebte, einen schwarzen Rapper und einen weißen Schriftsteller usw. Man fühlt sich ein wenig an die Serie »Sense8« der Wachowski-Schwestern erinnert. Dazu kommt, dass manche Figuren kleine Botschaften enthalten. So schleppt Auftragskiller Blake im Namen den englischen Naturmystiker William Blake mit sich herum, Autor Viktor Miesel kann nicht nur namentlich den Erfolg für sich verbuchen, sondern enthält auch eine anagrammatische Anspielung an den französischen Filmpionier Georges Méliès.
Gattung
Jeder der Figuren ist eine bestimmte Gattung zugeordnet. Auf dem begrenzten Raum werden die Stilmittel dieser Gattungen ausgereizt, wenngleich die Grenzen durchlässig bleiben müssen, um einen flüssigen Text zu ermöglichen. Ursprünglich erwog Le Tellier wohl auch einen tabellarischen Anhang, aus dem hervorgegangen wäre, welche Gattung zu welcher Person gehört und was diese Gattungen ausmacht. Er hat darauf verzichtet. So bleibt es den Leser:innen, die Gattungen zuzuordnen. Aber um das Prinzip an dieser Stelle exemplarisch zu plausibilisieren: Die Erzählung um Auftragskiller Blake kommt im Stil eines Kriminalromans daher, die Tragödie des Flugkapitäns David Markle enthält keinen einzigen Scherz.
Struktur
Le Tellier hat seinen Roman wie ein Kabel aufgebaut. Jede Figur stellt einen Draht dar, die nebeneinander angeordnet sind, wobei das Mathematiker-Paar Adrian und Meredith als diejenigen, die die theoretische Grundlage des Romans transportieren, den roten Faden darstellen, der Auftragskiller Blake den schwarzen usw. Zusammengehalten wird all das von Viktor Miesel, dem Schriftsteller, der ein Buch namens »Die Anomalie« schreibt und damit den Mantel bildet, der sich um alle Drähte legt. Und in diesem Roman im Roman heißt es dann mit Verweis auf die Handlung des Romans, den man in den Händen hält: »Es ist eine Anmaßung, so zu tun, als herrschten wir im Raum, wo wir doch nur den Kurven geringsten Kraftaufwands folgen. Grenzen der Grenzen. Kein Flug wird uns je den Himmel entfalten.«
Stilistik
Der Franzose fährt die ganze Palette an Textsorten auf, die man sich denken kann. Was auch immer man sich als gedruckten Text vorstellen kann, E-Mails, Briefe, Artikel, Reportagen, Befragungen, Protokolle, Romane, Logbücher, religiöse Schriften, wissenschaftliche Abhandlungen, Gedichte, Songs, WhatsAp-Nachrichten, er hat sie in seinen Text verarbeitet.
Der Roman ist zudem voller intertextueller Bezüge. Über 50 Zitate sind darin verteilt, in einem Dutzend Kapitelanfängen hat Tellier Ähnlichkeiten zu anderen Werken von Autor:innen wie Seneca, Friedrich Nietzsche, Franz Kafka, Fjodor Dostojewski, Louis Aragon oder Romain Gary eingebaut, indem er Auszüge und Zitate leicht verfremdet oder mit einem zusätzlichen Aspekt erweitert hat. Als Beispiel nannte er im lcb Senecas Satz »Müde Menschen sind streitsüchtig.«, den er um den Zusatz »Erschöpfte erheblich weniger« ergänzte. Ein anderes Beispiel ist die Abwandlung von Tolstois berühmten Satz »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich. Jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise«, der bei Le Tellier wie folgt klingt: »Alle ruhigen Flüge sind einander ähnlich. Jeder turbulente Flug ist es auf seine Weise.« Literatur-Liebhaber:innen können sich hier austoben und auf Zitate-Suche gehen.
Fehlerteufel
Als eine weitere der selbst auferlegten Regeln nannte Le Tellier sein Vorhaben, in jedem Kapitel einen Fehler absichtlich einzubauen. Schließlich heißt der Roman ja auch »Die Anomalie«. Das Komische sei, dass er unbeabsichtigt zusätzliche Fehler gemacht habe, räumte der Romancier ein. Wer gern nach Irregularitäten sucht, wird hier seine helle Freude haben.
Zahlenmystik
Bei den Zahlenspielen in »Die Anomalie« begibt man sich in die Tiefen der Oulipo-Community, in der Zahlen nur eine, aber auch keine unwesentliche Rolle spielen. Mit Zahlen zitiert Le Tellier fleißig weiter. Die Zeit, die zwischen der Landung der beiden Flugzeuge vergeht, umfasst 106 Tage. Dies entspricht, in Anspielung an Georges Perecs Text »53 Tage«, zwei Mal 53. In dem Flieger sitzen 243 Passagiere, auch das eine Anspielung an Perec und seinen Text der »243 Cartes Postales«. Numerologen freuen sich gewiss auch über die Tatsache, dass 243 die 5. Potenz von 3 ist. Mit all diesen Zahlenspielen sendet der Romancier ein schelmisches Augenzwinkern in die Oulipo-Community.
Sand
Le Telliers Roman überzeugt bis zur letzten Seite. Diese fällt durch ihren besonderen Satz auf, denn der Text läuft dort in der Form einer halben Sanduhr aus. Die Buchstaben sind dabei zu Sandkörnern geworden, von denen einige offenbar schon durch den schmalen Hals gerieselt sind. Zumindest fasert der lesbare Text Ort nach unten hin aus.
Dass man da im Finale »sand bis zum ende« lesen kann, scheint nur ein sprachlicher Verweis auf die Form. Vor allem stehe dieser Lückentext für die Potenzialität der Literatur. Durch das Füllen der Lücken könne sich hier jede:r Leser:in das eigene Ende gestalten. Noch spielerischer betrachtet könnte man das Buch auf den Kopf stellen und den Sand zurücklaufen lassen. Und diese Zeit und Raum durcheinanderwirbelnde Geschichte begänne von vorn.
Von Perec lernen…
…heißt, nicht alles aufzuheben. So einen Roman könne man nur schreiben, wenn man sich ein Auftragsbuch (neudeutsch würde man wohl Pflichtenheft sagen) schreibt, an dem man sich orientieren kann, räumt der Franzose bei der Buchvorstellung ein. Im Gegensatz zu Georges Perec, der sein Auftragsbuch nicht vernichtet hat, weshalb heute alle Nerds abgleichen, ob er auch wirklich all seine selbst auferlegten Regeln eingehalten hat, hat Le Tellier sein Auftragsbuch vernichtet. So bleibt dieser Roman ein vergnügliches Mysterium, das jede:r für sich immer wieder neu erobern kann. Die Entdeckung weiterer Oulipo-Phänomene ist dabei alles andere als ausgeschlossen.
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