Achtzehn Jahre hat der Literaturwissenschaftler und Wissenschaftslektor Reiner Stach an seiner dreibändigen Kafka-Biografie geschrieben. Er entfaltet darin nicht nur ein Leben, zwischen dessen äußerer und innerer Biografie ein tiefer Graben verläuft, sondern porträtiert darin Kafkas Prag in der Epoche der »Nervosität«. Der unnahbare Franz Kafka wird uns bei Stach plötzlich sehr vertraut.
»Den Mond sah man schon in einiger Höhe, ein Postwagen fuhr in seinem Licht vorbei. Ein schwacher Wind erhob sich allgemein, auch im Graben fühlte man ihn, und in der Nähe fing der Wald zu rauschen an. Da lag einem nicht mehr soviel daran, allein zu sein«, heißt es in Franz Kafkas Erzählung Kinder auf der Landstraße, die in dem Band Betrachtungen vor seinem großen Durchbruch mit Das Urteil erschienen ist. Sie zählen zum Frühwerk des Prager Literaten, das nur wenig gelesen wird. Umso dankbarer war man, dass Ulrich Matthes bei der Vorstellung des dritten und letzten Teils von Reiner Stachs fulminanter Kafka-Biografie im Berliner Ensemble etwas aus diesem Frühwerk zu Gehör brachte. Dieses Frühwerk ist nicht so düster wie der spätere, berühmt gewordene Roman Das Schloss oder die Erzählung Die Verwandlung. Aber auch hier ist schon das Geheimnisvolle angelegt, das sich durch Kafkas Werk zieht. Von einer Stadt im Süden des Dorfes der Kinder, von denen die vorgelesene Erzählung berichtet, heißt es: »Dort sind Leute! Denkt Euch, die schlafen nicht! – Und warum denn nicht? – Weil sie nicht müde werden. – Und warum denn nicht? – Weil sie Narren sind. – Werden denn Narren nicht müde? – Wie könnten Narren müde werden!«
Ja, wie könnten Narren müde werden? Würde man diese Frage an Reiner Stach weiterreichen, wüsste er sicher für einen kurzen Moment nicht, ob sie sich auf sein Objekt Franz Kafka oder auf ihn selbst bezieht. Denn er hat sich 18 Jahre lang dieser, wie er findet, »Jahrtausendfigur« verschrieben, deren Lebensentwurf doch eher »asketisch« gewesen sei, wie eine munter aufgelegte Sigrid Löffler im Gespräch mit Stach anmerkte. Kafkas Biografie falle tatsächlich auseinander in eine unspektakulär äußere und eine aufsehenerregend innere, erklärte Stach. Die äußere Biografie erschöpft sich in einem Beamtenleben hinter dem Schreibtisch in Prag, dem nach 41 Jahren die Tuberkulose ein Ende gesetzt hat. In der Comicbiografie von David Zane Mairowitz und Robert Crumb gibt es das vielsagende Bild einer Prag-Karte mit dem eingekreisten alten jüdischen Viertel Prags und dem jungen Kafka davor, der sagt »In diesem kleinen Kreis ist mein ganzes Leben eingeschlossen.« Die innere Biografie aber ist aus diesem Kreis ausgebrochen. Sie ist geprägt vom ständigen Reflektieren des Überlebens, des tyrannischen Elternhauses, der Technisierung des Alltags und ihrer Konsequenzen für die Arbeitswelt, der Skepsis gegenüber dem Zionismus, dem ambivalenten Verhältnis zur Sexualität und der Angst vor dem Versagen.
Stach hat diese äußeren und inneren Einflüsse auf Kafkas Dasein schon vielfältig in den ersten beiden Teilen Die Jahre der Entscheidungen und Die Jahre der Erkenntnis dargestellt, begründet, hergeleitet. Derzeit reist er mit der Vorgeschichte der ersten beiden Bände durch Deutschland und bringt dem interessierten Publikum mit Die frühen Jahre den Franz Kafka nahe, der die legendäre Nacht vom 22. auf den 23. September 1912 noch vor sich haben soll. In dieser Nacht schrieb er Das Urteil – wie in einem Rausch, wie er sich später erinnern sollte. Diese Nacht steht am Anfang von Stachs vor zehn Jahren erschienenem ersten Band seiner Biographie, in der wir schon die Ironie und den Witz Kafkas kennenlernen durften.
In dem abschließenden Band lernen wir den jungen Franz Kafka kennen, der der Sonderling in einer »Familie aus Gelehrten und Sonderlingen« war. Uns begegnet der durchsetzungsschwache junge Knabe, der aufmerksame Gymnasiast, der meinungsstarke aber unschlüssige Student, der verklemmte Jüngling (dazu auch mehr im Interview mit David Zane Mairowitz), der Beobachter im Caféhaus und Salonist, der promovierte Jurist und formidable Hilfsbeamte, der Sensor der alles ergreifenden Nervosität seiner Zeit und der geduldige Autor, der im Gegensatz zu seinem Freund Max Brod darauf warten konnte, dass sich die lohnenden Worte einstellten.
In seiner Biografie rückt Stach auch einige Unstimmigkeiten in der bisherigen Kafka-Forschung gerade. So verteidigt er etwa Klaus Wagenbach und dessen Kafka-Biografie gegenüber dem Vorwurf einiger Zeitgenossen Kafkas, dass dieser das Altstädter Gymnasium als Hort von Unterdrückung und Autoritarismus überzeichne. Hugo Bergmann, Hans Kohn und Guido Hirsch hatten Wagenbachs entsprechende Auffassung – unter anderem schrieb er, dass an der Schule ein »verknöcherter, konservativer k. u. k. Schulgeist« geherrscht habe – als unzutreffend kritisiert, zu der man nur gelangen könne, wenn man an die damaligen Verhältnisse die gegenwärtigen ethischen und pädagogischen Maßstäbe anlege. Dies sei »an der historischen Wirklichkeit vorbei« und überdies »naiv«, schreibt Stach nun, da die öffentlichen Beschwerden über die pädagogischen Maßnahmen der Zeit dokumentiert und bekannt seien, vor allem aber, weil gar nichts anderes bleibt, als die damaligen Verhältnisse an den gegenwärtigen zu messen. »Welche anderen als die heutigen Maßstäbe und Kenntnisse sollte man denn anlegen, um die damalige pädagogische Praxis und deren psychische Auswirkungen zu beurteilen?«
Entsprechend viel Zeit nimmt er sich für Kafkas Lehrzeit in Schule und Studium, eben weil dort viele der Unsicherheiten und Traumata Kafkas ihre Wurzeln haben. So konnte er die Fassade des Vorzugsschülers nur schwer aufrecht halten. »Keine bloß körperliche, eine geistige Hetzjagd« sei der Leistungsdruck des Vaters für ihn gewesen, meint Stach nach der ausführlichen Betrachtung der ersten Schuljahre. In den Folgejahren im Gymnasium erhielt Kafkas Urangst, im Leben versagen zu können, nicht Mäßigung, sondern Antrieb. Stach las im Berliner Ensemble eine Anekdote aus seiner Biografie, in der er von einem Dumme-Jungen-Streich berichtet. Mit seinen Freunden soll Kafka vor der Griechisch-Prüfung zum Abitur der Haushaltshilfe des »Griechischpaukers Lindner« schöne Augen gemacht haben, um an die Aufgaben zu kommen. Es gelingt den Jungen, die Prüfung geht gut aus, aber Kafka empfindet nicht Triumph oder stille Zufriedenheit, sondern in ihm toben das Schuldgefühl und die Angst, als Blender enttarnt zu werden.
Noch Jahre später schrieb er an Felice Bauer: »Mir ist als hätte ich nichts erlebt, als hätte ich nichts gelernt, ich weiss tatsächlich von den meisten Dingen weniger als kleine Schulkinder und was ich weiss, weiss ich so oberflächlich, dass ich schon der zweiten Frage nicht mehr entsprechen kann.« Und Stach ergänzt, dass aus dieser Perspektive »jede besondere Prüfung nur eine Etappe der viel umfassenderen permanenten Prüfung durch das Leben selbst [war], drohte doch die Enthüllung des großen Nicht-Wissens schon beim geringfügigen Anlass.« Kafkas Angst, im Leben auf- und aus der Schule zu fliegen, weil er zu den »Unfähigsten oder jedenfalls Unwissendsten« gehören könnte, ließ ihn sein Leben lang nicht los. Stach sieht darin auch einen Grund für das sorgsame Schreiben Kafkas, in dem jedes Wort wohlgesetzt war, damit sich das Leben »im Schreiben realisieren« könne. So lässt sich Kafkas Sprache erklären, die im selben Moment luzide und düster wirkt und hinter der ein großes Geheimnis ruht.
An dieser Stelle sei ergänzend auf die Studie Franz Kafka des Historikers Saul Friedlander hingewiesen. Wie der berühmte Prager Literat ist auch Pulitzer- und Friedenspreisträger Friedländer in der Stadt an der Moldau geboren. Seit seiner Jugend ist er begeisterter Kafka-Leser, die Entdeckungen seiner jahrzehntelangen Lektüre von Kafkas Werken hat er nun versammelt. Ausgehend von Kafkas Schreiben ergründet Friedländer dessen ambivalentes Verhältnis zu den Eltern, bei denen er nahezu sein Leben lang wohnt. In der Figur des Gregor Samsa präsentiert er uns Kafka als ebenso geliebtes und ödipal liebendes, aber auch als abstoßendes »Wesen«: Samsas Mutter fällt bei dessen Anblick in Ohnmacht, der Vater streckt ihn mit einem Apfel, der »förmlich in Gregors Rücken« eindrang, nieder und verurteilt ihn damit zum Tod. Aus dieser Konstellation leitet Friedländer mit Bezug auf Briefe und Werkverweise auf das schwierige Verhältnis zwischen Sohn und Eltern über. Ulrich Raulffs Studie zum Nachleben Stefan Georges Kreis ohne Meister drängt sich dem Lesenden immer wieder vor das innere Auge. Friedländers Werk ist die Rekonstruktion des Kafka’schen (um nicht kafkaesk zu sagen) Innenlebens aus seinem Werk heraus.
Der Schauspieler Ulrich Matthes hat vor einigen Jahren Das Schloss und Die Verwandlung eingelesen, er kennt Kafkas Sprache und ihre Herausforderungen gut. Ihn zu lesen sei schwer, erklärte er, weil man immer die Balance zwischen der großen Konkretheit der Worte und dem riesigen Echoraum hinter ihrer Bedeutung finden müsse. Nur wenn man diese Balance treffe, werde die »unschmuhafte Realität« von Kafkas Literatur deutlich.
Ähnlich verhält es sich mit Stachs biografischer Arbeit, die viel mehr ist als »nur« eine Kafka-Biografie, weil Stach den Fokus weitet und so erst den Echoraum schafft, in dem Kafkas Leben einzuordnen ist. Er bringt uns die gesellschaftlichen und städtebaulichen Verhältnisse Prags sowie die europäischen Entwicklungen der aufziehenden Moderne nahe, nimmt sich Zeit für grundsätzliche psychosoziale Wirkungsaspekte dieser öffentlichen und der privaten Umstände und spiegelt an diesen Kafkas Verfasstheit in Zeit, Raum und sozialer Situation. Dabei versucht Stach nicht, mit psychologisierenden Brücken Lücken zu schließen, die er nicht faktisch schließen kann. Er lässt bewusst die weißen Flecken farblos.
Ein großer weißer Fleck ist mit den Tagebüchern von Max Brod, die in dessen Nachlass in Israel weder Öffentlichkeit noch Forschung zugänglich sind, benannt. Sie wären bedeutsam gewesen für die biografische Erkundung von Kafkas frühen Jahren, denn Brod kannte Kafka schon als 19-Jährigen. Stach musste weitgehend ohne sie arbeiten, zu Kopien von drei der frühen Tagebücher soll er aber Zugang gehabt haben.
Den größten weißen Fleck, nämlich das nie zu Lösende, Rätselhafte in Kafkas Literatur lässt Stach selbstbewusst am Ende stehen. Er schildert eine Situation im Sanatorium Erlenbach am Zürichsee, wo eine alte schwerhörige Dame im Zimmer sitzt, das sich Kafka zum Schreiben gewählt hat. Nach einer Weile steht diese auf, verlässt den Raum, kommt mit einem Becher Milch zurück und wendet sich an den jungen Autor mit der Frage: »Was schreiben sie da eigentlich?«
Diese Passage zeigt, dass Stach in seinem Werk auch keine Angst vor Ironie und Leichtigkeit hat – ein Aspekt, mit dem sich Sachbuchautoren durchaus schwer tun. Immer eloquent, aber nie hochgestochen bringt er uns das Leben dieser seiner »Jahrtausendfigur« nahe, die wir mit dieser Biografie ein großes Stück besser verstehen lernen können. Die gut zweitausend Seiten, die er dafür verwendet, sind überaus ökonomisch, denn sie sind nicht nur in vielerlei Hinsicht informativ, sondern stellen ein Lesevergnügen sondergleichen dar. Darüber hinaus ist Reiner Stachs dreibändige Biografie kein Sockel, auf den er Kafka hebt, und auch kein Schaukasten, in dem er ihn ausstellt. Diese Biografie ist das Sofa, auf dem er Kafka Platz nehmen und sprechen lässt. In dem Raum, in dem Kafka auf diesem Sofa sitzt, hängt er die Aufnahmen und Bilder, die es braucht, um Kafkas geäußerte Befindlichkeiten verstehen zu können, an die Wand. Und wir Leser sitzen in unseren Sesseln, lauschen den Worten nach, die wir lesen, und betrachten die Bilder an den Wänden. Dann plötzlich beginnen wir psychologengleich in dem Gelesenen zu lesen und zu verstehen. Und der rätselhaft ferne, immer auch irgendwie spröde und unnahbare Franz Kafka ist uns so nah wie nie zuvor.
Homepage von Reiner Stach: www.reinerstach.de
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