Erzählungen, Literatur, Roman

Amerikanische Standpunkte

Die USA steht Kopf, kaum einer versteht das Land noch. Wo bleibt die Great American Novel unserer Zeit, die sie uns entschlüsselt? Den einen Roman, soviel kann schon verraten werden, gibt es nicht, dafür ist die Gegenwart zu komplex.

Richard Russo: Sh*tshow. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont Buchverlag 2020. 68 Seiten. 10,00 Euro. Hier bestellen

In äußerster Dichte zeigt Pulitzerpreisträger Richard Russo in seinem keine siebzig Seiten schmalen Büchlein »Sh*itshow«, was die Wahl Trumps vor vier Jahren mit der amerikanischen Gesellschaft gemacht hat. Sie handelt von zwei pensionierten Akademikern, für die mit dessen Wahlkampf ein neues Leben beginnt. Auslöser dafür sind menschliche Fäkalien, die erst in ihrem Pool auftauchen, dann das ganze Haus und schließlich die Ehe zwischen David und Ellie vergiften. Russo führt in seinem von Monika Köpfer übertragenen Text, der im Herzen die Ironie eines Franz Kafka trägt, im wahrsten Sinne des Wortes die Beschissenheit der Dinge unter Trump vor (hier die ausführliche Rezension). All jenen, die hoffen, in Russos gut zwei Jahre vor der Trumpwahl verortetem Roman »Jenseits der Erwartungen« eine Erweiterung der Perspektive auf Amerika unter der Fuchtel des »orangefarbenen Mannes« zu finden, sei gesagt, dass diese Geschichte so gut wie nichts mit Trump zu tun hat. Was übrigens nicht heißt, dass sich die Lektüre nicht lohnen würde.

John Niven: Die F*ck-It-Liste. Aus dem Englischen von Stephan Glietzsch. Heyne Hardcore. 320 Seiten. 22,00 Euro. Hier bestellen

Sternchen in Buchtiteln zur US-Lage haben derzeit Konjunktur, was angesichts eines Präsidenten, der wie kein anderer seine politischen Gegner beleidigt, eigentlich eine Farce ist. Dennoch kommt auch das neue Buch von John Niven wie Russos »Sh*tshow« mit Sternchen daher. »Die F*ck-It-Liste« handelt jedoch nicht von den Damen, denen der Mann mit den orangenen Haaren laut eigenem Bekunden nachsteigt, sondern von der Racheliste eines Zeitungsredakteurs, der am Ende seines Lebens abrechnen will. Inzwischen hat Ivanka Trump das Amt übernommen. Politische Korruption und Vetternwirtschaft sind an der Tagesordnung, entsprechend rau das Klima. Der sprachliche Revolver, den Niven in seiner rabenschwarzen Satire abfeuert, gleicht eher einem Modell aus »Mad Max« als einem klassischen Western. Dennoch lohnt sich die Lektüre, allein schon wegen der dystopischen Analyse der Gegenwart (hier die ausführliche Rezension).

Don DeLillo: Die Stille. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 112 Seiten. 20,- Euro. Hier bestellen

Don DeLillo schreibt in seinem neuen Roman noch einmal über die Welt am Abgrund. »Die Stille« ist eine erstaunlich knappe, aber treffende Allegorie auf die zunehmende Sprachlosigkeit in Trumps Amerika, in der er zeigt, wie nah diese zutiefst verstörte und neurotische Gesellschaft am Abgrund wandelt. Der Roman spielt in New York im Frühjahr 2022 – Trump ist tatsächlich ein zweites Mal gewählt worden – und die Stadt wird von einem technischen Shut-Down in Bann gehalten. Durch den Ausfall der Systeme lässt der Amerikaner seine Figuren erst in die Bodenlosigkeit stürzen und dann diverse Verschwörungstheorien zitieren. »Ist es nicht seltsam, dass gewisse Einzelpersonen den Shutdown, den Burn-Out anscheinend akzeptieren?« Das »Weiße Rauschen« aus seinem 1985 mit dem National Book Award ausgezeichneten Roman wird hier von einer nicht weniger angenehmen Stille abgelöst (hier die ausführliche Rezension).

Ayad Akhtar: Homeland Elegien. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsterem. Ullstein Buchverlage. 464 Seiten. 24,00 Euro. Hier bestellen

Ayad Akhtar geht in seinem fulminanten Roman »Homeland Elegien« seinem eigenen Dasein als Amerikaner mit muslimischen Wurzeln auf den Grund. Seine Eltern haben Pakistan in den sechziger Jahren verlassen, um in den USA zu arbeiten. Der Vater – ein ehemaliger Arzt von Donald Trump – legte seine muslimischen Wurzeln radikal ab, die Mutter trägt trotz traumatischer Erinnerungen eine tiefe Sehnsucht nach Heimat in sich. Dieses zerrissene Erbe spiegelt sich in Akhtar selbst, der nun fünfzigjährig seinen Erinnerungen nachgeht, um zu verstehen, was mit seinem Land geschehen ist. »Einem Land, in dem ich, je mehr ich es verstand, desto weniger zu Hause zu sein schien«, wie er seinem Alter Ego im Roman in den Mund legt. Sein Klagegesang ist ein Spiel mit den Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion, denn was genau hier autobiografische Erinnerung und was fantastische Erweiterung ist, lässt sich kaum mehr feststellen. Damit spiegelt Akhtar auch die Gegenwart, in der einfache US-Bürger nicht mehr unterscheiden können, was genau Wahrheit und was Fake ist. Der Roman leitet geduldig und empathisch her, wie Amerika zu dem dunklen Ort werden konnte, der er heute ist (hier die ausführliche Rezension).

Steph Cha: Brandsätze. Aus dem Englischen von Kathrin Witthuhn. Ars Vivendi Verlag 2020. 336 Seiten. 22,00 Euro. Hier bestellen

Steph Chas vierter Roman »Brandsätze« geht einer Geschichte auf den Grund, die fast 30 Jahre zurückliegt. Damals hatte eine koreanischstämmige Ladenbesitzerin ein schwarzes Mädchen erschossen, weil sie ihr fälschlicherweise unterstellte, eine Flasche Milch gestohlen zu haben. Diese Geschichte wird hier aus zwei Perspektiven aufgearbeitet: einerseits von Miriam Park, der Tochter der Ladenbesitzerin, die sich des Mordes schuldig gemacht hat, aber von der Jury freigesprochen wurde, andererseits Shawn Matthews, der Bruder des erschossenen Mädchens. Der Roman handelt von dem katastrophalen Schweigen, das seit den Ereignissen über beiden Familien lasetet und davon, wie es beide Familien zerstört. Gebrochen wird es erst, als es zu einer erneuten Gewalttat kommt. Die Wahrheit, die sich dann Bahn bricht, stürzt alle in einen dunklen Abgrund. Dabei schafft dieser ebenso finstere wie packende Roman eine universelle Wahrheit: Rassismus macht nicht vor Herkunft halt (hier die ausführliche Rezension).

Nana Kwama Adjei-Brenyah: Friday Black. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Penguin Verlag 2020. 234 Seiten. 20,00 Euro. Hier bestellen

Davon handeln auch die dystopischen Erzählungen des Amerikaners Nana Kwame Adjei-Brenyah. Die Abgründe der Gegenwart bilden die Grundlage seiner zwölf unter dem Titel »Friday Black« versammelten Erzählungen: der tief verankerte Alltagsrassismus, die allgegenwärtige Brutalität und der blindwütige Glaube an den Markt. Diese Wirklichkeit packt er bei den Hörnern und treibt sie mit wenigen Worten auf die Spitze. In eine Welt, die möglicherweise in keiner allzu fernen Zukunft liegt. Dem britischen Guardian sagte Adjei-Brenyah, dass er mit seinen Erzählungen dazu beitragen wolle, dass es nicht mehr so lapidar erscheine, wenn Schwarze umgebracht werden. Dafür lässt er die Geister dieser Tradition in seinen Erzählungen heftig mit ihren Ketten rasseln, zu Beginn sogar wortwörtlich. Sein Buch beginnt mit dem Mord an fünf schwarzen Jugendlichen. Unter einem US-Präsidenten Donald Trump, der nicht erst seit dem brutalen Mord an George Floyd Rassisten und Neoliberalen nach dem Mund redet, erhält jede einzelne Zeile des Sohnes ghanaischer Einwanderer eine besondere Prägnanz. Die dystopischen Erzählungen von Nana Kwame Adjei-Brenyah sind originell, kraftvoll und im besten Sinne verstörend. Sie schaffen genau das, was gute Literatur vermag. Sie konfrontieren uns schonungslos mit uns und unserer Zeit. »Friday Black« zeigt eindrucksvoll, wohin Rassismus und ungezügelter Konsum führen können (hier die ausführliche Rezension).

Ben Lerner: Die Topeka-Schule. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Suhrkamp Verlag 2020. 395 Seiten. 24,00 Euro. Hier bestellen

In Ben Lerners Roman »Die Topeka Schule« hat die #MeToo-Bewegung Niederschlag gefunden. Dieser fulminante Text ist im Kern eine Ergründung der toxischen Männlichkeit, die die USA nicht erst seit Donald Trump in ihrem eisernen Griff hält. Adam, die Hauptfigur in Lerners Roman, die sich wie viele Lerner-Figuren aus Versatzstücken der Biografie des Autors zusammensetzt, versucht sich aus dessen Schlinge zu lösen. Die Erfahrungen, die er als Sohn zweier Psychologen-Eltern macht, spielen dabei eine große Rolle. Der von Nikolaus Stingl wunderbar übersetzte Text geht mutig neue Wege in seiner nicht-linearen, psychologischen Konstruktion. Trump selbst kommt hier gar nicht vor, nur die roten Basecaps seiner Anhänger lassen an den Präsidenten denken. Einen besseren Roman über den Typus des wütenden weißen Mannes wird man derzeit kaum finden (hier die ausführliche Rezension).

Wirken DeLillos und Russos Novellen wie präzise Ausschnitte aus der Wirklichkeit, liest sich Nivens Roman wie die Vorhersage einer dunklen Zukunft. Steph Cha und Nana Kwame Adjei-Brenyah steigen auf ganz unterschiedliche Weise in den Abgrund des Rassismus. Ayad Akhtar und Ben Lerner zeigen in ihren Romanen die Komplexität der Verhältnisse auf. Wem dezidierte Rassismuskritik fehlt, dem sei grundsätzlich Colson Whitehead empfohlen, der die amerikanische Gesellschaft in seiner Literatur genauer hinsehen lässt. In diesem Jahr nach »Underground Railroad« für »Die Nickel Boys« zum zweiten Mal mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, thematisiert er immer wieder die Verwerfungen des historischen Erbes von Rassenhass und Sklaverei.

James Sturm: Ausnahmezustand. Aus dem Englischen von Sven Scheer. Reprodukt Verlag. 214 Seiten. 24,00 Euro. Hier bestellen

Wer offen für die Neunte Kunst ist, findet in James Sturms Comic »Ausnahmezustand« eine wunderbare Erweiterung der literarisch-psychologischen Ergründung der amerikanischen Seele. Im Mittelpunkt steht Mark, dessen Ehe ins Trudeln gerät, als Trump nach dem Präsidentschaftsamt greift. Mark ist ein Handwerker, der mit zahlreichen Jobs ums Überleben kämpft. Sein wichtigster Auftraggeber, ein Anhänger Clintons, bleibt ihm allerdings Geld schuldig. Immer wieder vertröstet er Mark mit scheinheiligen Erklärungen, während er auf Facebook sein Leben in Saus und Braus zelebriert. Im Stich gelassen und finanziell kurz vor dem Ruin muss Mark sein Leben in den Griff kriegen und seine Ehe retten. Im Gespräch macht Sturm deutlich, dass sein Comic eine Allegorie auf die USA ist. »Ausnahmezustand« sei »eine Geschichte über eine große Kluft, die sich sowohl zwischen diesem Paar als auch zwischen den Menschen in diesem Land auftut?« Sein Comic ist eine Untersuchung der Wut, die Trump möglich gemacht hat, aber auch der Wege aus dieser Wut hinaus. »Um eine Gemeinschaft zu bleiben, müssen wir an verschiedenen Fronten handeln. Es braucht Veränderungen im System, aber auch Menschen, die auf die Straße gehen. Und diese Arbeit an den verschiedenen Fronten braucht Ausdauer. Sie muss so lange gehen, bis dass der Tod uns scheidet.«

Darcy van Poelgeest, Ian Bertram, Matt Hollingsworth: Little Bird. Aus dem Amerikanischen von Peter Schadt. Cross Cult 2020. 210 Seiten. 35,00 Euro. Hier bestellen

Diesem realistischen Abbild steht die SciFi-Oper »Little Bird« des Kanadiers Darcy van Poelgeest geradezu diametral gegenüber. Sie erzählt von einer Zukunft, in der ganz Nordamerika in Flammen steht. Ein religiöses Regime, das an Margaret Atwoods »Bericht der Magd« erinnert, hat den Kontinent fest im Griff. Der zerstörerischen Wut der alten weißen Männer und ihrer hochtechnisierten Armee stellen sich die letzten freien Menschen entgegen, angeführt von der titelgebenden Heldin, die indigene Wurzeln hat. Und schnell stellt sich die Frage, ob das Ende der Zeiten angekommen ist oder nur ein neues Kapitel der Unterwerfung aufgeschlagen wird. Die Geschichte betont die konservatv-reaktionären Kräfte, die unter Trump Rückenwind bekommen haben. Toxische Männlichkeit, Rassismus und Menschenverachtung sind an der Tagesordnung. Das alles ist umgesetzt in einer betörenden Grafik, die an die besten Zeiten des großen Mœbius erinnert. Grelle Farben, reiches Steampunk-Dekor, psychologische Tiefe – umgesetzt von dem in New York lebenden Zeichner Ian Bertram und dem vielfach ausgezeichneten Coloristen Matt Hollingsworth. Ihre Geschichte des Kampfes um Elder’s Hope ist eine grandiose Allegorie auf die nordamerikanische Geschichte und Gegenwart.

2 Kommentare

  1. […] bis 1964, es geht um Wohnen, Drogen und Korruption, aber natürlich auch um das große Thema des zweifachen Trägers des Pulitzer Prizes Colson Whitehead – Rassismus. »Harlem Shuffle« ist schneller, böser und humorvoller als Colson Whitehead […]

  2. […] Dabei findet sie mir ihrer Literatur in den USA nur höchste Anerkennung. Schon ihr Debütroman »State of Grace« war 1974 für den National Book Award nominiert, ihr zweiter Roman »The Quick and the Dead« stand 2001 auf der Shortlist für den Pulitzer Prize, ihre Essay-Sammlung »llI Nature: Rants and Reflections on Humanity and Other Animals« konkurrierte im selben Jahr um die National Book Critics Circle Awards. 2008 wurde sie zum Mitglied der American Academy of Arts and Letters gewählt, 2021 erhielt sie den renommierten Literaturpreis der Library of Congress. Da steht sie nun in einer beeindruckenden Reihe neben Autor:innen wie Toni Morrison, Philip Roth, E.L. Doctorow, Louise Erdrich, Marilynne Robinson, Denis Johnson, Richard Ford oder Colson Whitehead. […]

Kommentare sind geschlossen.