Dorothee Elmingers »Aus der Zuckerfabrik« ist ein magisches Gedanken- und Erlebenslabyrinth, in dem selbst souveräne Leser:innen die Übersicht verlieren.
»Es ist mein Körper, der da liegt, zwischen den verstreuten Dingen anderer, der zutiefst verwickelt ist in alles, was passiert, und das, was ich zuvor als Material abgelegt habe«, notiert sich die Erzählerin von Dorothee Elmingers viel gelobter Montage »Aus der Zuckerfabrik«. Vielleicht ist das der Satz, der die Haltung dieser Erzählerin – von der gar nicht so genau klar ist, ob sie überhaupt erzählt oder ob wir sie nicht eher auf einer Reise begleiten – spiegelt.
Man kann sie sich fast plastisch vorstellen, wie sie da liegt, ausgestreckt auf dem Boden, noch von der Süße der Sexualität benommen und doch schon mitten in dem Material, das sie umgibt. Material von der Geschichte des Zuckers, die unweigerlich eine Geschichte der Sklaverei ist. Die zweifelsohne mit der Geschichte des Kapitalismus verbunden ist. Dessen Reflektion zwangsläufig in die Soziologie führen muss. Die angesichts der Gegenwart den Rassismus unserer Tage nicht ausblenden kann.
Und mitten in diesem Material- und Stoffchaos, dass die Erzählerin mit sich trägt, dessen Einzelheiten sie im Kopf hin und her wirft, während das ganz normale Leben – die Liebe, der Schmerz, die Einsamkeit – weiterläuft, dreht sich diese Figur im Kreis, blickt fiktiven und echten Biografien nach, sinkt hinab in Tagträume, um an anderen Orten oder in anderen Zeiten wieder aufzuwachen.
Das klingt alles furchtbar verschachtelt und kompliziert und ist es irgendwie auch, aber vielleicht ist es auch ganz leicht, wenn man sich vor Augen führt, man säße im Kopf der Erzählerin und würde die Welt mit ihren Augen sehen. Oder durch ihre Gedanken denken. Oder beides. Wie würden wir diese Welt wahrnehmen? Wahrscheinlich alles andere als linear, wenngleich sich die Dinge chronologisch ereignen. Nur bleiben wir nicht bei den Dingen beziehungsweise natürlich bleiben wir das, nur viel länger, als die Chronologie es zulässt.
Da haben wir eben noch den Zucker in den Kaffee gekrümelt, um uns auf dem Weg in die Bibliothek an den Aufsatz über die Zustände auf der Zuckerrohrplantage in Philadelphia zu erinnern. Dort bleiben wir hängen und wechseln Ort und Zeit, verfolgen plötzlich die Schicksale auf dieser Plantage, bis der Gedanke an Karl Marx von außen dazwischenfunkt, vielleicht weil wir gerade am Karl-Marx-Denkmal vorbeigegangen und den Alten im Unterbewusstsein wahrgenommen haben. Von dem gehts zum Urvater der modernen Ökonomie Adam Smith, der von Zucker nicht genug bekommen konnte, obwohl er wusste, unter welch unmenschlichen Bedingungen er produziert wurde.
»Du bist aus Zucker, du bist zart«, diese Assoziation, mit der Männer Frauen wortwörtlich zum Zuckerersatz gemacht haben, kommt plötzlich von der Seite in die Gedanken geschossen, weil sie Frauen zu sklavenähnlichen Wesen macht, und da waren wir doch losgegangen. Aber was macht das alles mit dem eigenen Begehren. Kann man, wenn man das System erst einmal begriffen zu haben scheint, noch unvoreingenommen Lust empfinden? Ein Feldversuch könnte Antworten liefern. Gesagt, getan.
Nein, genau so steht es nicht in Elmingers Roman, und doch, so ähnlich kann man das dort lesen. »Aus der Zuckerfabrik« ist ein magisches Assoziations- und Erlebenslabyrinth, in dem selbst souveräne Leser:innen die Übersicht verlieren können (sollen). Und damit ist dieser sprunghafte, assoziativ arbeitende Text stilistisch nah an der Wirklichkeit, in der sich alles – Nachrichten, Job, Familie, Gefühle, Wirtschaft, Gesellschaft, Geschichte, Bewusstsein, Unterbewusstsein – aneinander- und übereinanderlegt und dabei keine Rücksicht nimmt auf Kohärenz oder Schlüssigkeit.
Zudem spielt in ihrer Materialsammlung das Schicksal des ersten Schweizer Lottomillionärs Werner Bruni eine gewisse Rolle. Dessen Schicksal hatte vor ein paar Jahren für Aufsehen gesorgt, nachdem er seinen Gewinn wieder verloren hatte, darüber schrieb und dennoch bettelarm gestorben war. Die tragikomische Geschichte dieses Mannes, der irgendwann in seinem Leben genau dort ankommt, wo die Geschichte des Zuckers ihre Anfänge nimmt, flicht die Schweizer Autorin in ihre Geschichte ein, stößt dabei auf Widersprüche und kommt zu dem Schluss, dass die öffentlich bekannte Geschichte, die die Boulevardpresse aufgeschrieben hat, nicht die sein könne, die sich ereignet hat.
Diese Skepsis gegenüber dem Material, das ihre Erzählerin wälzt, prägt auch diese Recherche, als die es die Autorin lieber auf den Buchtisch gelegt hätte. Glaubt man dem Text, forderte jedoch der Lektor, dass »Aus der Zuckerfabrik« das Label Roman bekommen solle. In einem anderen Fall, Clemens Setz neuem Buch »Die Bienen und das Unsichtbare« hat der herausgebende Verlag bei einer ähnlich herausfordernden Melange aus Fakten und Fiktion auf den Zusatz Roman verzichtet. Der Text hat es dank dieser Zuordnung sowohl auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis als auch auf die des Bayerischen Buchpreises geschafft. Dort konkurriert ihr Buch nun mit Ulrike Draesners eindrucksvollem »Schwitters«-Roman und Iris Wolffs Roman »Die Unschärfe der Welt«, der im rumänischen Siebenbürgen spielt.
Einfach zu lesen ist das Buch jedoch nicht. Es gibt zahlreiche intertextuelle Bezüge, Zitate von Deborah Levy, Ellen West, Pierre Bordieu und vielen anderen – gern auch mal in der Originalsprache – öffnen die Lektüre. So springt man von Absatz zu Absatz durch Zeiten, Räume und Haltungen und versteht erst im Laufe der Komposition, dass es hier weniger um Zucker als vielmehr um die Logik des Kapitals, und was es aus den Menschen macht, geht. Die Stärke des Textes liegt darin, dass Elminger eben nicht Antworten liefert, sondern Fragen aufwirft – gerade auch mit ihren Assoziationsketten, die dieses Journal einer Suche ebenso verwirrend wie lesenswert machen.
[…] Belletristik sind Iris Wolffs »Die Unschärfe der Welt«, Ulrike Draesners »Schwitters« und Dorothee Elmingers »Aus der Zuckerfabrik« […]