Literatur, Roman

Die verdrehte Zunge des Körrt Switters

Foto: Thomas Hummitzsch

Ulrike Draesners neuer Roman nimmt die Flucht und die Jahre des Exils des Dadaisten Kurt Schwitters auf faszinierende Weise in den Blick. »Schwitters« spiegelt in der Entstehung, Komposition und poetischen Gestalt die ambivalente Existenz außerhalb der Muttersprache.

»Immer häufiger zogen Möbel allein um. Als ob Menschen, denen sie gehörten, schon Gespenster wären«, denkt Kurt Schwitters im Herbst 1936, als vor dem Haus der Tossionis mehrere Möbelwagen halten. Der Dichter weiß genau, was dort passiert, er beobachtet es still und tatenlos aus seinem Hannoveraner Merzbau heraus. Seine Passivität kann er dabei selbst nicht ertragen. »Blind stellen, taub stellen, Blümchen malen? Deutscher Eintopf à l’intellectuelle.«

Mit dem Zwangsumzug der jüdischen Nachbarsfamilie, die seit Generationen in Deutschland lebt, beginnt Ulrike Draesners Roman über den Künstler und Schriftsteller Kurt Schwitters. Der Nebel, der über dieser Szene liegt, wird sich bald lüften und es wird nicht allzu lang dauern, bis Schwitters selbst das Land verlassen muss. Genau beobachtet er, wie sich die Gewichte verschieben und der Lärm der Nazis nicht nur das Land und die Menschen, sondern auch die Sprache verändert.

Schwitters verspielte Kunst und Wortwitz galten den Faschisten schon früh als »entartet«, bei seinen Lesungen forderte er sein Publikum auf, auf ein Hitler-Bild zu spucken, statt zu applaudieren. Es ist seine Form, gegen die Normalität von Nazi-Deutschland aufzubegehren. Von »Hundewiderstand« spricht Draesners Figur und schämt sich. »Kurt Wauwau Schwitters wedelt wann und dann, wenn er nur kann.«

Also muss er raus aus diesem Land, will es wohl sogar. Aber nicht aus seinem Merzbau, den er liebevoll »Kathedrale des erotischen Elends« nennt Er ist selbst ein Kunstwerk, das er vor Zugriffen beschützt wissen will. Also beschließt er gemeinsam mit seiner Frau Helma, dass er geht und sie bleibt, um vor der Gestapo zu bewahren, was bewahrt werden kann. Dass die Hannoveraner Villa später ausgerechnet bei einem Luftangriff der Alliierten zerstört wird, auch das erzählt dieser Roman.

Lars Fiske: Herr Merz. Avant Verlag 2013. 112 Seiten. 29,95 Euro. Hier bestellen

Zunächst aber geht Draesners Kurt nach Norwegen ins Exil, wo sein Sohn Ernst bereits seit Jahren lebt und auf ihn wartet. Dort wird er einen neuen Merzbau errichten – Lars Fiske hat über diese Phase mit »Herr Merz« einen grafisch aufregenden, erzählerisch aber eher nüchternen Comic gezeichnet –, aber auch der wird ihn nicht überleben. Denn als die deutschen Truppen Norwegen überfallen, muss er weiter fliehen, nach Großbritannien, wo er in verschiedenen Lagern interniert wurde, bevor er sich in London niederlassen konnte. Dort wird er Edith Thomas kennenlernen, die in Draesners Roman nur unter ihrem Spitznamen Wantee auftaucht. Mit ihr wird er die Liebe, die er – ganz avantgardistisch – immer frei gelebt hat, noch einmal neu entdecken. Ausdruck dessen der letzte Merzbau in Nordengland.

Draesners Roman ist keine Biografie und auch kein Künstlerroman, sondern eine Annäherung, wie sie selbst schreibt. »Nichts wird beschrieben, denn das hieße, es existierte außerhalb des Romans, alles ist neu gesehen, hergestellt in Sprache und dem, was bei der Lektüre aus ihr entsteht.« Das gibt ihr die Chance, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die sonst zum Schweigen verdammt sind, wie etwa Helma Schwitters, die in Hannover zahlreiche Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen muss, während sich ihr Mann anderweitig vergnügt.

So schaut Draesner durch ihre Figur hindurch auf die Frau, die ihm alles ermöglicht und gerade deswegen am meisten verloren hat. Dem Gemütszustand der zurückgelassenen Frau widmet sie ein eigenes Kapitel, in dem sie schildert, wie sie sich durch das Werk ihres Mannes wühlt und zwischen Empörung und Liebe hin und her geworfen wird. So bekommt Schwitters eine dezidiert weibliche Seite, die bei aller Verbitterung dennoch selbstbewusst, ja sogar ein wenig trotzig ist. »Du nimmst eine meiner Schürzen mit, dann musst du nicht so viele jagen!«, gibt sie ihm noch mit auf den Weg, bevor er Deutschland verlässt. Wiedersehen werden sie sich nicht, Helma stirbt noch vor Kriegsende an Krebs.

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt. btb Verlag. 560 Seiten. 11,99 Euro. Hier bestellen

Wie es Menschen im Exil ergeht und wie sie dort das, was sie normalerweise zusammenhält, im Innersten zerreißt, hat die vielseitige Autorin bereits in ihrem hochgelobten Roman »Sieben Sprünge vom Rand der Welt« anhand der schlesischen Familien Grolmann und Nienaltowski beschrieben. In ihrem neuen Roman spürt man, wie ihr dieses fundierte Wissen die Freiheit gibt, mit der Sprache zu spielen.

Dies wird vor allem im zweiten Teil deutlich, der sich mit Schwitters Leben in England auseinandersetzt. Hier wirft Draesner mit großem Vergnügen fehlerhaftes Englisch und englisches Deutsch in die Luft, um die Sprachverwirrung ihrer Figur fern der Heimat zu spiegeln. »Shtayen dee boyma dish in deezem vahlt?«, »Gipst ess eine Keller in der Naht« oder »Kahn ish freeshtich hahben?« sind nur zwei Beispiele, die Draesners Hauptfigur mal phonetisch, dann wieder orthografisch deuten möchte, um daraus ein neues dadaistisches Kunstwerk zu schaffen.

Dabei profitiert Draesner, die als Writer in Residence unter anderem einige Zeit in Oxford verbracht hat, von der eigenen Erfahrung der Sprachverwirrung. Das macht die sanfte Wehmut, mit der Schwitters sein Vergnügen, aber auch seine Verzweiflung am babylonischen Durcheinander beobachtet, so authentisch. Dass die Jury des Deutschen Buchpreises diesen klug verspielten Text nicht einmal für die Longlist vorgesehen hat, ist kaum zu verstehen. Die Juroren für den Bayerischen Buchpreis haben da offenbar genauer hingesehen, »Schwitters« ist neben Dorothee Elmingers »Aus der Zuckerfabrik« und Iris Wolffs »Die Unschärfe der Welt« in der Endauswahl.

Schwitters Existenz außerhalb der Welt seiner Muttersprache, sein Dasein in zwei Sprachen, spielte für den Roman, wie er nun vor einem liegt, eine wichtige Rolle. Im Nachwort schreibt die Autorin: »Schwitters wurde auf Englisch geschrieben, ins Deutsche übersetzt. So der Plan. Er scheiterte. Schwitters auf Deutsch erwies sich als ausgesprochen bockig. … Das Ergebnis ist ein deutscher Kurt, der unter einem englischen Kurt schwimmt und andersherum (witternder Schwitters! Süßigkeiten witterte er von weitem, er nahm zu – in England allerdings auch wieder ab).« Das klingt selbst schon ein wenig nach Dada, was man als Anzeichen dafür deuten könnte, wie tief Draesner in die (Sprach)Welt ihrer Figur eingetaucht ist.

Ulrike Draesner: Schwitters. Penguin Verlag 2020. 471 Seiten. 25,- Euro. Hier bestellen

In außergewöhnliche Sprachwelten taucht die 58-Jährige gern ein, denn neben ihren eigenen Romanen gönnt sie sich den Luxus, andere Texte ins Deutsche zu übertragen. Ein Zufall wollte es, dass sie gerade weniger mit ihrem Roman als mit ihren Übersetzungen der Gedichte von Louise Glück im Mittelpunkt steht, der Anfang Oktober zur Überraschung vieler der Literaturnobelpreis 2020 zugesprochen wurde. Von Glück war zu diesem Zeitpunkt kein einziges Buch erhältlich. Die beiden einzigen Übersetzungen »Wilde Iris« und »Averno« stammen von Draesner.

Im Kontext ihrer Übersetzungen spricht Ulrike Draesner von »einer Art Echokammer«, in der sie arbeite. »Das Echo fällt, je nach Werk, unterschiedlich aus.« Das gilt auch für ihre Übersetzung von Kurt Schwitters Leben für die und in der Kunst nach seiner Flucht aus Deutschland. Was das konkret heißt, hat die in Berlin und Leipzig lebende Autorin im Gespräch mit dem Magazin für übersetzte Literatur Tralalit offen gelegt.

Schwitters sei eine polyglotte Gestalt gewesen sagt sie dort. »Der Roman ist voller Wortspiele, weil Schwitters auf Englisch immer wieder Fehler macht. Diese Stellen funktionieren nicht im deutschen Text, deshalb war schnell klar, dass der deutsche Roman anders aussehen würde. Zudem sind Teile des deutschen Romans, die mir erst beim Übersetzen durch die erneute Beschäftigung mit dem Stoff deutlich wurden, wiederum in den englischen Text eingeflossen. Das Übersetzen war also eine Mischung aus dem, was man klassischerweise unter Übersetzen versteht, und originärem neuen Schreiben. Schwitters Identitäten in den beiden Sprachversionen sind wie zwei Puzzlestückchen – wenn man die zusammenfügt, erkennt man das Ganze. Es gibt daher auch kein Original. Man kann nicht sagen, dass der eine Roman vor dem anderen da war, weil sie mehrfach über die Sprachgrenze hinweg miteinander verwoben wurden. Erst in ihrer Unterschiedlichkeit, mit einem je anderen Anfang und Ende, ergeben sie die gesamte Geschichte des Mannes, der Kurt Schwitters und Körrt Switters war.«

Diese Geschichte kann man nun nachlesen. Das Verdienst dieses begeisternden Textes besteht darin, dass er weder den biografischen Eckdaten hinterherläuft noch sich sonderlich für die Kunst seiner Figur interessiert. Vielmehr dekonstruiert der Roman die Figur in dadaistischer Weise selbst, indem er sie zur Echokammer werden lässt, in der sich nicht nur die Stimmen anderer brechen. So wirkt dieser klug komponierte Roman selbst wie ein Merzbau, in dem sich die Zeiten, Orte und Stimmen fügen in »ein aus Würfeln, Tetraedern, Kuben geometrisch sich auftürmendes Labyrinth mit dramatischem Lichtfall, Fensterschlitzen, Draperien, Nischen«. In diesem Labyrinth kann man sich verlaufen und so manche Besonderheit entdecken, aber genau darin besteht ja sein Reiz.

8 Kommentare

  1. […] Buchpreis als auch auf die des Bayerischen Buchpreises geschafft. Dort konkurriert ihr Buch nun mit Ulrike Draesners eindrucksvollem »Schwitters«-Roman und Iris Wolffs Roman »Die Unschärfe der Welt«, der im rumänischen Siebenbürgen […]

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