Sung-Su Kims Katastrophenfilm »Pandemie« handelt von einem gefährlichen Virus und seiner Ausbreitung. In seiner drastischen Überzeichnung trägt er nicht zur Beruhigung bei.
Wie verarbeitet man als Künstler eine Pandemie? Eine Frage, die sich derzeit sicher viele Kulturschaffende stellen. Der koreanische Regisseur Sung-Su Kim (»Asura«, »Musa – Der Krieger«) hat sich bereits vor Jahren mit dieser Frage auseinandergesetzt, nachdem zahlreiche asiatische Länder in den 2000er Jahren von der Vogelgrippe heimgesucht wurden. Seine Antwort fällt düster aus. In dem knapp zweistündigen Katastrophenfilm stürzt die demokratische Gesellschaft Südkoreas in einen veritablen Kriegszustand mit internationalem Ausmaß.
Auslöser der Pandemie ist eine Gruppe von Flüchtlingen, die in einem Container illegal die Trabantenstadt Bundang unweit der südkoreanischen Hauptstadt Seoul erreichen. Als ihre Schmuggler den Container öffnen, entdecken sie, dass nur einer von einem dutzend Menschen den Transport überlebt hat. Der junge Mann namens Mossai flieht und irrt durch die Stadt. Er ahnt, dass er krank ist, aber nicht, dass ein tödliches Virus in ihm schlummert, dass sich über Aerosole überträgt.
Kameramann Mo-Gae Lee (»A Tale of Two Sisters«, »Prisoners of War«) braucht nur wenige Aufnahmen und ein paar Special Effects, um zu zeigen, wie sich das Virus durch die Luft von einem auf den nächsten überträgt – ein Informationsvideo über die Ausbreitung des Corona-Virus könnte nicht genauer ausfallen. Auch im fiktiven Szenario des Films gibt es einen Lockdown, einschneidende Quarantäne-Maßnahmen werden eingeleitet, der Wettlauf um einen Impfstoff beginnt. Es gibt noch viele andere Details, die an die aktuelle Pandemie erinnern, was zeigt, dass der Film von 2013 gut recherchiert ist.
»Pandemie« ist aber kein Wissenschaftsfilm, sondern Unterhaltungskino, produziert vor sieben Jahren von Tae-sung Jeong (»Die Taschendiebin«, »The Host«, »Snowpiercer«), einem der erfolgreichsten Produzenten des koreanischen Kinos. Nun könnte der Film wiederentdeckt werden. Dabei geht es nicht um ausgewogene Aufklärung, sondern um dramatische Zuspitzung, für die im Film Einzelschicksale sorgen. Mossai, der Superspreader aus dem Container, der scheinbar Antikörper gegen das Virus entwickelt hat, steckt auf seiner Flucht durch die Stadt die sechsjährige Mirre (Min-Ah Park) an, die Tochter der Seuchenspezialistin Kim In-hye (Soo Ae), die kurz zuvor von Rettungssanitäter Jogi (Hyuk Jang) aus einer brenzligen Situation befreit wurde. Diese vier Figuren bewegen sich permanent im Zentrum der Katastrophe, während sich mit zunehmendem Verlauf der Pandemie die Koordinaten des politischen Machtkampfs verschieben.
Will man diesen Film mit der Wirklichkeit vergleichen, muss man zu Tomas Pueyos millionenfach abgerufenem Beitrag »The Hammer and the Dance« zurückgehen, in dem der Stanford-Absolvent im März erklärte, wie die nächsten 18 Monate bis zur Einführung eines möglichen Impfstoffes aussehen könnten. Mit dem Hammer bezeichnete er das unmittelbare Auftreten des Virus, mit dem Tanz die Adaption des Alltags an die Corona-Bedingungen, um mit dem Virus zu leben. Kims Film allerdings handelt nur vom Hammer, auf den dann weitere hammerharte Eindämmungsmaßnahmen der Stadtregierung folgen. Statt »The Hammer and the Dance« müsste man hier als von »The Hammer and the Hammer and the Hammer« sprechen.
Denn die Maßnahmen, die die Stadtregierung von Bundang ergreift, um das hochansteckende Virus in Griff zu bekommen, sind radikal. Die ganze Stadtbevölkerung wird in Quarantäne-Lager gesperrt, wo das Virus ungehemmt wüten kann. Immer mehr Menschen bekommen den symptomatischen Ausschlag und brechen Blut hustend zusammen. In den Lagern gerät die Lage mehr und mehr außer Kontrolle, auch weil Gerüchte die Runde machen, denen zufolge infizierte Personen separiert und heimlich hingerichtet werden. Als das Militär die Regie übernimmt, brechen Panik und Aufstände in den Lagern aus.
Inmitten des sich ausbreitenden Chaos bewegen sich Jogi, Mirre und In-hye. Ein Zufall will es, dass sie in das selbe Quarantäne-Lager kommen. Dort stellt die Seuchenexpertin fest, dass sich ihre Tochter mit dem tödlichen Virus infiziert hat. Aus der rationalen Medizinerin wird eine sorgende Mutter, die nichts unversucht lässt, um ihre Tochter zu retten. Währenddessen eskaliert die Situation im Kontrollzentrum und die Demokratie droht unter die Räder der Sicherheitsmaßnahmen zu geraten.
Fast alles in »Pandemie« ist drastisch überzeichnet. Und dennoch tragen weder das Wissen darum noch die Tatsache, dass es zufällige Parallelen zwischen Film und Gegenwart gibt, zur Beruhigung bei. Selbst der brennende Höllenschlund im Stadion von Bundang, wo die Leichen der Pandemie verbrannt werden, findet eine Entsprechung in den knapp eine Million Toten weltweit seit Beginn der Corona-Pandemie. Corona-Leugner werden genug Versatzstücke finden, um sich in ihren kruden Theorien bestätigt zu fühlen. Dass in der südkoreanischen Stadt am Ende nicht das Recht des Stärkeren regiert, sondern politische Besonnenheit und wissenschaftliche Vernunft für stabile Verhältnisse sorgen, wird sie nicht interessieren.
Dieser Text erschien in ähnlicher Form im Rolling Stone Magazin, Ausgabe 312 | Oktober 2020