Film

Politisches Kino und die Ästhetik

Szene aus »Io Capitano« von Matteo Garrone | © 2023 Greta De Lazzaris / XVerleihAG

In den vergangenen Monaten sind einige eindrucksvolle Filme in die Kinos gekommen, die die weltweiten Flüchtlingsbewegungen in den Blick nehmen. Agnieszka Holland erzählt vom Elend an der polnisch-belarussischen Grenze, Brandt Andersen von den verschiedenen, in eine Flucht involvierten Akteuren und Matteo Garrone von der abenteuerlichen Reise zweier senegalesischer Teenager. Dabei verfolgen die Filmemacher:innen unterschiedliche ästhetische Konzepte, um uns die Brutalität der Gegenwart vor Augen zu führen.

Jeden Tag sehen sich Seydou und Moussa auf ihren Handys die Videos von Schwarzen Künstler:innen an, die in Paris, London oder Barcelona durchstarten. Es sind Bilder, die ihren Traum von einem besseren Leben nähren. Um diesen Wirklichkeit werden zu lassen, schuften sie auf den Baustellen von Dakar, um die Reise nach Europa zu finanzieren. Als Seydous Mutter von den Plänen ihres Sohnes erfährt, verpasst sie ihm einen Einlauf, aber nichts kann den Jungen und seinen besten Freund aufhalten. Sie schlagen alle Warnungen in den Wind, verabschieden sich (unter einem Krähen-erfüllten Hitchcock-Himmel) von den Ahnen und brechen eines morgens heimlich gen Norden auf.

Szene aus »Io Capitano« von Matteo Garrone | © 2023 Greta De Lazzaris / XVerleihAG
Moussa und Seydou auf dem Weg nach Europa in »Io Capitano« von Matteo Garrone | © 2023 Greta De Lazzaris / XVerleihAG

Aus dem Traum von einem besseren Leben wird schnell ein Alptraum, der sie an die äußersten Grenzen führt. Matteo Garrone, der mit seiner Verfilmung von Roberto Savianos Camorra-Roman »Gomorrha« das Mafia-Genre neu geschrieben hat, hat für seinen in Venedig mit dem Silbernen Löwen für die beste Regie ausgezeichneten Film auf die Erfahrungsberichte von afrikanischen Jugendlichen zurückgegriffen, die es über das Mittelmeer bis nach Europa geschafft haben. Diese Geschichten seien die einzige Möglichkeit, wahrhaft über die heutige Zeit zu erzählen, ist sich der Italiener sicher.

Die Gegenwart ist grausam, wie Garrone in seinem für den Auslandsoscar nominierten Film zeigt. Mit seinem Film holt er die brutale Wirklichkeit da draußen in die Kinosäle und konfrontiert uns hier mit dem, was wir hinter unseren Handyscreens gern ignorieren – sei es, weil es weit weg ist oder weil es uns Frontex und Co. nicht erzählen. Die Handlung folgt dem Schicksal von Moussa (Moustapha Fall) und Seydou (Seydou Sarr) und legt so Zeugnis über den alltäglichen Horror ab, auf den sich die Verzweifelten dieser Welt in der Hoffnung auf ein besseres Leben einlassen. Schon an der ersten Grenze hat es sich ausgeträumt, da müssen sich die beiden Jungs zwischen Bestechung der Grenzbeamten und dem vorzeitigen Ende ihrer Reise entscheiden. Sie zahlen und lassen sich damit auf ein Wagnis ein, in dem sie nicht mehr als eine Handelsmasse sind.

Garrone zeigt detailliert das skrupellose Agieren der Schleuserbanden – all die kleinen und großen Grausamkeiten, die in den Berichten von Menschenrechtsorganisationen auftauchen und die Flüchtende immer wieder hinter sich bringen. Als auf dem Weg in die Wüste ein Mann vom Jeep fällt, überlassen ihn die Fahrer kaltblütig seinem Schicksal. Andere überstehen den tagelangen Marsch durch die Wüste nicht, bei dem die Jungs über die verdorrten Leichen ihrer unglücklichen Vorgänger steigen müssen. Die, die es schaffen, werden von der libyschen Mafia in Empfang genommen und gefoltert, bis ihre Verwandten sie freikaufen. Hier trennen sich die Wege von Moussa und Seydou. Der eine landet mutmaßlich in den Folterkammern der Mafia, Seydou wird als Zwangsarbeiter verkauft und wird sich seine Freiheit erarbeiten. Er reist weiter in die libysche Hauptstadt Tripolis, wo er sich auf die Suche nach Moussa macht. Er findet ihn schwer verletzt wieder und lässt sich, um ihn zu retten, auf einen windigen Deal ein. Der bringt ihn ans Steuer eines klapprigen Kahns, auf dem er hunderte Geflüchtete nach Italien bringen muss.

Die Kamera von Paolo Carnera (»Bad Tales«, »The White Tiger«) ist dabei immer nah an den Figuren dran, die von den Newcomern Seydou Sarr – in Venedig mit dem Newcomer-Preis ausgezeichnet – und Moustapha Fall stark verkörpert werden. Weitet sich der Blick, fängt die Perspektive in großen Panoramen die Verlorenheit dieser jungen Männer in einer Welt ein, die sie ihrer Träume beraubt. Die tragen die Jungs bald nur noch in Form schmutziger Trikots europäischer Fussballvereine mit sich herum.

Szene aus »Io Capitano« von Matteo Garrone | © 2023 Greta De Lazzaris / XVerleihAG
Magischer Realismus in »Io Capitano« von Matteo Garrone | © 2023 Greta De Lazzaris / XVerleihAG

An Carneras majestätischen Landschaftsaufnahmen stören sich so manche Kritiker:innen, sie widersprächen in ihrer Überwältigung dem ernsten Anliegen des Filmes. Gleiches wird den Elementen des magischen Realismus angekreidet, mit denen der Film arbeitet. Beide Urteile sind aus meiner Sicht eilfertig und eindimensional. Zum Einen stehen den epischen Landschaftsaufnahmen Schreckensbilder aus den Verließen der libyschen Mafia gegenüber, zum Anderen greift der Film mit seinen träumerischen Elementen die spirituelle Dimension des afrikanischen Kinos auf.

In der geäußerten Kritik schwingt zudem eine selbstgerechte westliche Sichtweise mit, die sich auf andere ästhetische Konzepte nicht einlassen will. Ganz nach dem Motto: wenn das Elend zu schön aussieht, kann es so schlimm nicht sein. Aber das Elend, vor dem die Menschen aus dem globalen Süden fliehen, ist kein visuelles, sondern ein existenzielles. Würde man davon nur in dystopischen Bildern erzählen, geriete ein weiterer Aspekt der Wirklichkeit ins Abseits. Flüchtende lassen nicht nur das Elend zurück, sondern auch eindrucksvolle Landschaften, die mit Leben gefüllt sind.

Szene aus »Io Capitano« von Matteo Garrone | © 2023 Greta De Lazzaris / XVerleihAG
Eine der harmlosen Szenen aus dem libyschen Knast in »Io Capitano« von Matteo Garrone | © 2023 Greta De Lazzaris / XVerleihAG

Darüber hinaus schein diese Kritik auch willkürlich. Als bei der jüngsten Berlinale das visuell bestechende tunesische Drama »Who Do I Belong to« von Meryam Joobeur gezeigt wurde, begeisterte sich die internationale Filmkritik vor allem an den traumwandlerisch-surrealen und symbolisch aufgeladenen Aufnahmen von Vincent Gonneville. In dem Fall standen die überwältigenden Aufnahmen des kanadischen Kameramannes der bedrückenden Geschichte einer Familie, die vom Islamischen Staat zerrissen wird, ebensowenig der Botschaft des Films im Weg wie vor Jahren beim Festivalgewinner »Seefeuer« von Gianfranco Rosi.

Visuell bestechend ist auch Agnieszka Hollands multiperspektivisches Drama »Green Border«. In kristallklaren Schwarz-Weiß-Bildern erzählt die polnische Oscar-Kandidatin darin von der Flüchtlingskrise im Polnisch-weißrussischen Grenzgebiet. In dieses hatte der belorussische Diktator Alexander Lukaschenko im Herbst 2021 zahlreiche syrische Flüchtlinge geschleust, um die EU zu erpressen.

Das polnische Kino ist immer wieder gut für überraschende Perspektiven, man denke an Jerzy Skolimowskis ungewöhnliche Fabel über die Verlorenheit des Menschen in der Moderne »EO«. Agnieszka Holland gehört zu den renommiertesten Filmemacherinnen ihres Landes, erst recht, wenn man auf den politischen Film schaut.

Szene aus »Green Border« von Agniezka Holland | © Agata Kubis, Piffl Medien
Bashirs Familie und die afghanische Ärztin Leila fliehen durch das sumpfige Grenzgebiet zwischen Polen und Weisrussland in »Green Border« von Agniezka Holland | © Agata Kubis, Piffl Medien

Ihr Schwarz-Weiß-Drama »Green Border« wurde neben Garrones Film in Venedig gezeigt und gewann dort den Spezialpreis der Jury. Er beginnt mit Bildern aus der Luft, die die sumpfigen Wälder in der polnisch-belorussischen Grenzregion zeigen und wechseln dann in einen Passagierflieger, in dem Bashir (Jalal Altawil) und Amina (Dalia Naous) mit ihren zwei Kindern und deren Großvater sitzen. Das Flugzeug bringt die syrische Familie, der sich die afghanische Ärztin Leila (Behi Djanati Ataï) anschließt, nach Minsk, von dort wollen sie zu ihren Verwandten in Schweden weiterreisen. Doch wie viele andere Flüchtlinge stranden sie im sumpfigen Grenzgebiet, wo sie nicht nur der widrigen Natur, sondern auch der Willkür und Brutalität der Grenzschützer beider Seiten ausgeliefert sind.

Einer der polnischen Grenzschützer ist Jan (Tomasz Wlosok), ein junger Mann, der für sich und seine schwangere Freundin gerade ein Haus baut. Er muss in heimlichen Nacht- und Nebelaktionen die Flüchtlinge zurück in die Arme von Lukaschenkos skrupellosen Truppen treiben. Was er dabei sieht und erlebt, lässt ihm keine Ruhe, auch wenn er nur ein kleines Rädchen im großen Spiel der Mächte ist. Dass Holland dieses rechtswidrige Verhalten der ehemaligen rechtskonservativen Regierung international auf die Leinwände brachte, hat sie in ihrer Heimat zur persona non grata gemacht.

Szene aus »Green Border« von Agniezka Holland | © Agata Kubis, Piffl Medien
Szene aus »Green Border« von Agniezka Holland | © Agata Kubis, Piffl Medien

Dabei zeigt sie auch ein anderes Polen, ein menschenfreundliches, mit dem man in die Zukunft blicken könnte. Zu diesem Polen zählt die Psychologin Julia (Maja Ostaszewska), die in der Einsamkeit der Grenzregion einen Schicksalsschlag verarbeiten will. Sie schließt sich einigen Aktivisten an, die die Flüchtlinge in den Wäldern mit dem Nötigsten versorgen. Dabei trifft sie auf Bashirs Familie, die längst ums nackte Überleben kämpft und Julia vor eine folgenreiche Entscheidung stellt. Im Porträt der Aktivist:innen, die die Schreie und Schüsse aus den nahe gelegenen Wäldern nicht länger ignorieren wollen, wird der Film ein Triumph der Menschlichkeit.

Der neue Film der polnischen Regisseurin, die mit »Bittere Ernte«, »Hitlerjunge Salomon« und »In der Finsternis« jeweils für einen Oscar nominiert war, ist ein genau recherchiertes und zutiefst humanistisches Meisterwerk, das tief in den Abgrund der europäischen Grenzpolitik schaut. Holland rückt die Schwächsten in diesem Machtspiel ins Licht ihrer Kamera, ohne voyeuristisch zu sein.

Szene aus »Green Border« von Agniezka Holland | © Agata Kubis, Piffl Medien
Amina mit ihrer Tochter in »Green Border« von Agniezka Holland | © Agata Kubis, Piffl Medien

Die Schwarz-Weiß-Optik löst die Bilder von der konkreten Wirklichkeit. Dahinter steckt die Idee, »dem Film dadurch einen dokumentarischen Charakter verleihen zu können und zugleich eine metaphorische Dimension, ein Gefühl der Zeitlosigkeit«, wie die polnische Regisseurin dem epd erklärte. Tatsächlich werden Assoziationen zum Schicksal der osteuropäischen Juden im Dritten Reich wach; vor allem im Umgang der polnischen Grenzer mit den Geflüchteten.

Der Amerikaner Brandt Anderson hat in seinem Episodenfilm »The Strangers Case«, der auf der Berlinale seine Premiere feierte, ebenfalls das Schicksal von Geflüchteten in den Blick genommen. Die Rahmenhandlung seines Films bildet die Flucht der syrischen Kinderchirurgin Amira (Yasmine Al Massri). Wir sehen sie in den ersten Szenen in einem amerikanischen Krankenhaus, wo sie als Putzfrau arbeitet.

Yasmine Al Massri in Brandt Andersons »The Strangers Case« | © Philistine Films

Danach taucht der Film in die Vergangenheit der Ärztin ein. In fünf Kapiteln erzählt er von ihrer Flucht und den verschiedenen Figuren, denen sie auf ihrem Weg nach Amerika begegnet ist. Das erste Kapitel ist ihrem Leben im kriegsumtosten Syrien gewidmet. Anderson zeigt den schwierigen Krankenhausalltag im Bürgerkrieg, wo Amira von Rebellen bedroht wird. Zugleich erzählt er vom Wunsch nach Normalität, etwa wenn sie mit ihrer Familie den Geburtstag ihres Vaters feiert. Doch Leichtigkeit gibt es in einem Krieg nicht, das Haus wird von einer Bombe getroffen. Die Ärztin und ihre Tochter überleben den Angriff wie durch ein Wunder und beschließen, aus dem Land zu fliehen.

Dabei wird ihnen Mustafa (Yahya Mahayni) helfen, ein Soldat, der im Mittelpunkt des Folgekapitels steht. Er wird das Auto an der Grenze stoppen, in dem die Ärztin und ihre Tochter sitzen. Von seiner Loyalität zum Regime ist da aber schon nicht mehr viel übrig, nachdem er bei der Exekution von Regimegegnern einen Teenager erschießen musste. Anderson setzt in den Syrien-Kapiteln auf extreme Bilder, die Brutalität des Krieges und die Skrupellosigkeit des Regimes führt er ohne Scheuklappen vor Augen. Hier schließt er an Filme wie an Waad Al-Khateabs mutige Dokumentation »For Sama« und Philippe van Leeuws augenöffnendes Drama »Insyriated« an, die auf ihre Weise mit einem überwältigenden Realismus arbeiten.

Der ungeschönte Blick auf die Tatsachen prägt auch das dritte Kapitel, in dem ein Schmuggler in der Türkei im Mittelpunkt steht. Marwan ist mit seinem Sohn in der Türkei gestrandet, hier nun verdient er sich als gnadenloser Schleuser sein Brot. Anderson macht es seinem Publikum nicht zu einfach und zeichnet den von Omar Sy gespielten Schmuggler als komplexe Figur, der sanften Fürsorge für seinen Sohn steht die Brutalität gegenüber, mit der er seiner abhängigen Kundschaft begegnet. Sein Job bestehe darin, Menschen gegen Geld in ein Boot zu setzen. »Ob sie es schaffen oder nicht, ist uns egal«, sagt er kaltblütig an einer Stelle.

Omar Sy in Brandt Andersons »The Strangers Case« | © Philistine Films

Der syrische Dichter Fathi (Ziad Bakri) und seine Familie gehören zu denjenigen, die auf Marwan angewiesen sind. Der weiß das nur zu gut und zwingt den Familienvater, an seiner Stelle das völlig überfüllte Schlauchboot in griechische Gewässer zu steuern. Die dortige Küstenwache kennt diese Strategie schon. Stavros (Constantine Markoulakis), einer der Kapitäne, hat schon tausende geflüchtete Menschen vor dem sicheren Tod gerettet. Dennoch sind es nicht die Überlebenden, sondern die Toten, die ihn in seinen Träumen aufsuchen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wird er Fathis in Seenot geratenes Boot aus dem Wasser ziehen, alle retten kann er nicht.

In der aufgedrängten Verantwortung für die Überfahrt ähneln sich die Filme von Brandt und Garrone, auch in den Ereignissen auf See. Und doch wird das unterschiedlich inszeniert, auch weil andere Boote zum Einsatz kommen. Bei Brandt handelt es sich um ein simples Schlauchboot, bei Garrone um einen rostigen Kutter. Deshalb fällt bei dem Italiener die Überfahrt auch fast friedlich aus, während sich auf dem Boot Dramen abspielen. Anderson hingegen zeichnet die nächtliche Flucht über die Seegrenze als drastischen Überlebenskampf inmitten stürmischen Seegangs, für Dynamiken im Boot hat er keine Zeit. Er schließt seinen Film mit einer moralischen Coda, die nach all dem Leid und Elend das Potenzial in den Mittelpunkt stellt, das die Geflüchteten in die westlichen Gesellschaften mitbringen.

Interessanterweise bleiben alle drei Filme vor beziehungsweise an den europäischen Grenzen. Die in ihnen liegende Anklage richtet sich gegen die Fstung Europa, nicht gegen die Europäer:innen. Ästhetisch setzen dabei alle drei Filmemacher:innen auf Bilder der Überwältigung. Man darf dahinter den Gedanken vermuten, dass die dokumentarischen Bilder, die wir alle kennen, niemanden mehr schockieren. Es braucht, ähnlich wie in der Bebilderung Ukraine-Krieges, ästhetische Herangehensweisen, die die nackten Tatsachen in einen visuellen Rahmen zeigen, der über die alltäglichen Bilderfluten hinausgeht. Ein Frame, der die Normalität und das Extreme, das Schöne und das Hässliche, die Träume und die Realität in einem Neben- und Miteinander zeigt.