Film

Eine traurige Gestalt

Um das seltsame Wesen namens Mensch zu verstehen, kann es nicht schaden, neue Perspektiven einzunehmen. Der mehrfach ausgezeichnete polnische Regisseur Jerzy Skolimowski beweist das in seinem in Cannes prämierten Film »EO« eindrucksvoll.

Es dauert nur wenige Sekunden, schon hat der tierische Hauptdarsteller in Jerzy Skolimowskis neuem Film alle Aufmerksamkeit. Dabei macht der Esel, der dem Film seinen Titel gibt, nicht viel. Stoisch beobachtet er, was in dem Wanderzirkus, zu dem er gehört, vor sich geht, manches muss er auch über sich ergehen lassen. Bei der Zirkusartistin Kasandra (Sandra Drzymalska) scheint das Tier in guten Händen zu sein, liebevoll kümmert sie sich um den geduldigen Freund. Ein neues Gesetz gegen Tierleid interessiert sich dafür jedoch nicht. EO‘s Existenz im Zirkus verstößt gegen einen der Paragraphen, genauer hinsehen will niemand. Kasandra muss sich von ihrem treuen Begleiter verabschieden. Es ist der Beginn einer Odyssee, die in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde.

Kasandra und EO haben ein inniges Verhältnis | © Aneta&Filip Gębscy

Der inzwischen 85-jährige Skolimowski ist einer von Polens erfolgreichsten Regisseur:innen, der auf ein facettenreiches Leben zurückblicken kann. Schon kurz nach dem Filmstudium arbeitete er als Autor mit Regisseuren wie Roman Polanski und Andrzej Wajda zusammen. 1965 präsentierte er seine erste Regiearbeit, zwei Jahre später gewann er mit der musikalischen Komödie »Le Départ« mit Jean-Pierre Léaud in der Hauptrolle bei der Berlinale den Goldenen Bären. Noch im selben Jahr drehte er den Spielfilm »Hände hoch!«, der aufgrund seiner starken Kritik am Stalinismus von der polnischen Zensur verboten wurde.

Der polnische Nouvelle-Vague-Regisseur verließ Polen, drehte fortan in Frankreich, Deutschland und in den USA. Dabei stützte er sich meist auf literarische Vorlagen. Sein 1978 in Cannes ausgezeichneter Horrorfilm »Der Todesschrei« basierte auf einer Kurzgeschichte von Robert Graves, in Venedig gewann er 1985 mit seiner Adaption von Siegfried Lenz‘ Roman »Das Feuerschiff« mehrere Preise. 1991 kam es zu Konflikten bei der Verfilmung von Witold Gombrowicz‘ Kultroman »Ferdydurke«, woraufhin sich der Pole für mehr als 15 Jahre aus dem Regiegeschäft zurückzog. 2010 sorgte er noch einmal mit dem Actionthriller »Essential Killing« für Aufmerksamkeit.

Mit »EO« konkurrierte Skolimowski im vergangenen Jahr in Cannes um die Goldene Palme und in Hollywood um den Auslands-Oscar. In dem leisen, aber spektakulären Film, angelehnt an einen Klassiker des französischen Kinos, begleitet seine Kamera einen Esel auf seiner Reise, die ihn von Polen bis nach Italien führt. Aus dem Zirkus wird EO in einen Reitstall gebracht, wo sich der Esel zwischen edlen Sportpferden wiederfindet, deren Leiden viel größer ist als seines jemals war. Die Kamera begibt sich dabei immer wieder in die Position des deutlich kleineren EO, so dass hier der Eindruck von Hierarchien entsteht, wie sie Menschen in der Gegenwart ständig begegnen. Als es auf dem Reitgut zu einem Zwischenfall kommt, wird der stoische Esel auf einen abgelegenen und ziemlich heruntergekommenen Bauernhof gebracht. Doch auch dort wird er nicht glücklich.

EO begibt sich auf eine Odyssee durch die moderne Welt | © Aneta&Filip Gębscy

Nach einem kurzen Wiedersehen mit Kasandra nimmt EO sein Schicksal in die Hand und macht sich aus dem Staub. Er taucht ein in die natürliche Wildnis, wird Zeuge einer nächtlichen Treibjagd und flieht in einen nahegelegenen Ort, wo er wider Willen zum tragischen Maskottchen des örtlichen Fußballvereins wird. Ab hier scheinen die Wege des Tieres vorgezeichnet, doch der 84-jährige Regisseur holt noch einmal aus. Er fängt in seinem an Don Quijote erinnerndem Gleichnis die dunklen Abgründe des menschlichen Daseins ein, lässt EO auf einen jungen italienischen Priester (Lorenzo Zurzolo) und eine eitle Gräfin (Isabelle Huppert) stoßen, bevor er sich zwischen hunderten Rindern auf dem Weg zur Schlachtbank wiederfindet.

Angelegt als Neuinterpretation von Robert Bessons Kultfilm »Zum Beispiel Balthasar« ist Skolimowskis neuer Film eine berührende Mahnung an das schwierige Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Bessons Film hatte der polnische Regisseur kurz nach dem Kinostart in den sechziger Jahren entdeckt und zu Tränen gerührt. »Seitdem habe ich im Kino keine einzige Träne mehr vergossen. Robert Bresson verdanke ich also die feste Überzeugung, dass es nicht nur möglich ist, ein Tier zu einer Filmfigur zu machen, sondern dass es auch eine Quelle für Emotionen sein kann.«

Jerzy Skolimowski: EO. Mit Sandra Drzymalska, Isabelle Huppert, Lorenzo Zurzolo. Rapid Eye Movies 2023. 88 Minuten.

Dazu tragen auch die spektakulären Bilder bei, die Michał Dymek mit seiner Kamera eingefangen hat. Sie rufen in ihrer empathischen und unmittelbaren Perspektive große Gefühle hervor. Das experimentelle Spiel auf der Tonspur verändert zudem nachhaltig den Blick. Mehr und mehr schlüpft man in diesem cineastischen Gleichnis in die Perspektive dieser traurigen Gestalt und findet die Verlorenheit der menschlichen Existenz in dem Schicksal des unschuldigen Esels gespiegelt. Wirklich großes Kino, dass nun auch für das Heimkino vorliegt.