Der mit 5.000 Euro dotierte Uwe-Johnson-Förderpreis 2023 wird im September an Domenico Müllensiefen für seinen Wenderoman »Aus unseren Feuern« verliehen. »Der Autor schreibt, als würde er lange schon nichts anderes tun«, heißt es in der Begründung. Der in Leipzig lebende Autor trat mit seinem Debüt in die Fußstapfen von Clemens Meyer, so lebendig und voller Punch ist sein Roman.
»Mit Domenico Müllensiefens Aus unseren Feuern liegt ein Debütroman vor, der Staunen macht: Mit der Romanform weiß er in allen Belangen umzugehen: Aufbau, Spannungsführung, Rhythmus, Komposition. Die Simultantechnik, die er für seine zwei Zeitebenen braucht, beherrscht er souverän und schafft einen beeindruckenden Erzähl-Raum. Der Autor schreibt, als würde er lange schon nichts anderes tun: So souverän ist sein Erzählen, so dicht folgt er seinen Figuren, so präzise sind seine Schilderungen der Arbeitswelt ob auf Elektromontage, in einem Schlachtbetrieb und nicht zuletzt in einem Bestattungsinstitut, dem Arbeitsplatz des Erzählers«, begründet die Jury ihre Entscheidung.
Der Uwe-Johnson-Förderpreis würdigt herausragende literarische Erstlingswerke, in denen sich Anknüpfungspunkte zur Poetik Uwe Johnsons finden und deren Blickwinkel unbestechlich und jenseits »einfacher Wahrheiten« auf die deutsche Geschichte, Gegenwart und Zukunft gerichtet ist.
»Der Autor schreibt, als würde er lange schon nichts anderes tun: So souverän ist sein Erzählen, so dicht folgt er seinen Figuren, so präzise sind seine Schilderungen der Arbeitswelt…«
Uwe-Johnson-Preis
Domenico Müllensiefens Debütroman »Aus unseren Feuern«, der auch auf der Shortlist für den Fontanepreis steht, erzählt von barbarischen Nachwende-Jahren im Osten aus der Perspektive eines jungen Mannes. Der wird im Sommer 2014 als Bestatter zu einem Unfall gerufen. In der Leiche, die neben einem völlig zerstörten Auto liegt, erkennt Heiko seinen Jugendfreund Thomas wieder. Sofort beginnen die Geister der Vergangenheit zu tanzen und die Zeit, als sie gemeinsam mit Karsten ihre Feuer zünden und in einem Clio die Welt erobern wollten, kommt zurück.
Müllensiefen hat in Magdeburg eine Ausbildung zum Systemelektroniker absolviert, ging später ans Leipziger Literaturinstitut und jobbte neben dem Studium als Bestatter. Seine Erfahrungen auf dem Bau und in der Leichenhalle leben detailliert und plastisch in seinen Figuren auf. In all seinen Dimensionen ist sein fulminantes Romandebüt mit dem Arbeitermilieu verbunden. Permanent wird geraucht, gesoffen und gepöbelt, die Arbeit ist ein festes Ritual, bei dummen Fragen gibt’s eine Schelle. Und zugleich ist unter dieser aufgesetzten rauen Schale eine große Zärtlichkeit.
»Mit schrägem Witz, mit Empathie für einen Unglücksraben und einer dubiosen Krimispur zeigt er, was die Transformation der ostdeutschen Gesellschaft bedeutet«
Uwe-Johnson-Preis
Das ruft unweigerlich Clemens Meyers Frühwerk in Erinnerung. Müllensiefens Roman lebt wie dessen Prosa vom sprachlichen Zugang zur Welt. Er (v)erklärt nicht die Zeit, sondern zeigt, was war. Ganz konkret macht er die vielfache Erfahrung der Fremdbestimmung und des Identitätsverlusts der einfachen Leute in Ostdeutschland begreifbar, aus der heraus Wut gegen die etablierte Ordnung erwuchs.
In der proletarischen Verortung sieht die Johnson-Preis-Jury einen zentralen Bezug zwischen Müllensiefens Prosa und Johnsons Werk. »Ich bin überzeugt, dass die einfachen Leute das erheblichere Beispiel abgeben für Lebensverhältnisse in unserer Zeit, nicht allein wegen ihrer Überzahl, auch nicht nur, weil sie in der Verteilung des Nationaleinkommens jenseits allen gerechten Verhältnissen benachteiligt sind; insbesondere, weil sie jede Verschlechterung der Lage unerbittlich ausbaden müssen, ihre Schwierigkeiten mit dem schärfsten Risiko überwinden müssen, ohne das Geldreserven sie auffangen und Privilegien sie schützen«, schrieb Uwe Johnson mit Blick auf sein Personal in seinem berühmtesten Romanwerk »Die Jahrestage«.
»Genau mit diesen Verhältnissen und den entsprechenden Problemlagen sehen sich die Protagonisten in Domenico Müllensiefens Roman konfrontiert. Mit schrägem Witz, mit Empathie für einen Unglücksraben und einer dubiosen Krimispur zeigt er, was die Transformation der ostdeutschen Gesellschaft nach Wende und Wiedervereinigung für die in Leipzig und Umgebung bedeutet haben«, heißt es in der Begründung der Jury weiter.
Wie bei Johnson spiele zudem das Prinzip Erinnerung eine gewichtige Rolle. »In der erinnerten Zeit halten die Protagonisten Heiko, Thomas und Karsten sich für unsterblich – aber niemand gibt ihnen eine Perspektive und erlöst sie von der Langeweile. Was für die jungen Leute gilt, das trifft noch mehr für die Elterngeneration zu, die aus einer arbeiterlichen Gesellschaft in eine kapitalistische mit anderen Maximen katapultiert wird.«
»Domenico Müllensiefen braucht keine Schlagworte für Jugendgewalt und Wut, für die schwindenden Gewissheiten der Erwachsenen oder westdeutsche Karrieren im Osten. Er verwandelt das alles in Literatur…«
Uwe-Johnson-Preis
Es sind ausnahmslos gebrochene Biografien, die einem in diesem Roman begegnen. Das betrifft nicht nur die drei Jungs, von denen Müllensiefen erzählt, deren Wege sich trennen und teils in rechte Kreise laufen, sondern auch die Nebenfiguren. Da ist etwa Jana, Heikos erste Freundin. Sie ist wegen ihrem Vater geblieben, von dem es lakonisch heißt: »Irgendwann waren Stasi, Staat und Frau weg, dieses Loch füllte jetzt der Alkohol.« Oder Mandy, Heikos heimlicher Schwarm aus Schulzeiten, die von einem Tag auf den anderen in den Westen verschwand. Jahre später sitzt Heiko bei einem Bewerbungstraining der Arbeitsagentur neben ihr. Er erfährt, wie sie im Westen belächelt und hintergangen wurde, so dass ihr nur der demütigende Rückzug in die Heimat blieb.
Die Geschichte schreiben immer die Sieger, Müllensiefen setzt dem die Geschichten seiner Figuren entgegen. Er verklärt sie nicht als larmoyante Wendeopfer, erhebt sich aber auch nicht über ihre Erfahrungen. Sie alle kämpfen in einem System, dessen Spielregeln sie erst im Ring erlernen. Dabei bekommen ausnahmslos alle auf die Fresse und teilen auf ihre Weise aus.
[…] fragen lassen, ob sie bei ihrer Lektüre die Indies aus den Augen verloren hat. Autor:innen wie Domenico Müllensiefen, Joshua Groß, Anne Weber, Zara Zerbe, Katharina Winkler, Matthias Gruber, Michel Decar, Slata […]