Der Leipziger Domenico Müllensiefen tritt mit seinem Debütroman »Aus allen Feuern« in die Fußstapfen von Clemens Meyer. Daniel Schulz «Wir waren wie Brüder« und Hendrik Bolz literarisierte Erinnerungen »Nullerjahre« weiten den Blick auf die Nachwendezeit im Osten Deutschlands.
Thomas Meier, Karsten Albrecht und Heiko Persberg sind eine Gang. Konkret hängen sie gemeinsam auf dem Schulhof ab, glotzen am Baggersee heimlich den Bikinis hinterher oder träumen von einer eigenen Karre. Irgendwann in einem Sommer Ende der Neunziger kommen sie auf die Idee, ihre Schulbücher abzufackeln. Als das rauskommt, bestellt der Direktor ihre Eltern ein. So eine Bücherverbrennung ist schließlich keine Kleinigkeit.
Die Eltern der Jungs interessieren sich aber nicht für die pädagogischen Maßnahmen von Dr. Rademacher, sie haben genug eigene Sorgen. Karstens Mutter fehlt das Geld, um die Bücher zu ersetzen, Thomas Vater hat keine Lust, sich von einem Wessi die Welt erklären zu lassen (»Ihr kommt hier rüber, macht es euch in unseren Betrieben bequem, verkauft uns Schrott, fickt unsere Weiber und dann faselst du was von wiedervereinigt?«) und Heikos Vater stellt in den Raum, dass die Bücher in drei Jahren möglicherweise sowieso zensiert würden. Warum man Schulbücher zensieren sollte, fragt verdutzt der Direktor, woraufhin Herr Meier vollends der Kragen platzt. »Was Persberg sagen will, du Witzfigur, ist, dass sich hier jederzeit alles ändern kann.«
Diese Szene zu Beginn von Domenico Müllensiefens Debütroman enthält alles, was man zum gestörten Verhältnis zwischen Ost und West wissen muss. Der Hochmut, die Selbstverständlichkeit und das Desinteresse des Westens sowie die Umbrucherfahrung, die Demütigung und Wut des Ostens. Jede Stimmlage, jeder Ton und jedes Wort passen hier wie die Faust aufs Auge. Es ist lange her, das in der deutschsprachigen Literatur jemand den Menschen so genau auf’s Maul geschaut hat.
»Aus allen Feuern« ist die Geschichte von Heiko, der im Sommer 2014 als Bestatter zu einem Unfall gerufen wird. In der Leiche, die die Polizei aus einem völlig zerstörten Clio gezogen hat, erkennt er Thomas wieder. Und die Frage kommt auf, wie es dazu kommen konnte, dass er vor dem toten Freund aus alten Tagen kniet. Und schon beginnen die Geister der Vergangenheit zu tanzen und die Zeit, als sie ihre Feuer zünden wollten, kommt zurück.
Müllensiefens Debüt reiht sich ein in die literarische Aufarbeitung einer Zeit, die Christian Bangel die »Baseballschlägerjahre« nannte. taz-Journalist Daniel Schulz und der Rapper Hendrik Bolz haben ihrerseits lesenswerte Romane zur rechten Subkultur auf dem Land vorgelegt. So erzählt Schulz’ namenloser Ich-Erzähler vom Aufwachsen zwischen Plattenbau und Parkplatz in einem Kaff bei Potsdam. Die Ahnungslosigkeit seiner Generation trifft auf die Perspektivlosigkeit der Eltern, deren Landschaften nicht wie versprochen blühen, sondern erst einmal eingehen. Wo aber Halt und Orientierung fehlen und die Langeweile regiert, sammelt sich der Hass auf das Unbekannte.
Hass und Gewalt sind auch in Hendrik Bolz autobiografischem Rückblick »Nullerjahre« allgegenwärtig. »Das Bösartige, das Fiese, das Gemeine« regieren in der Plattenbausiedlung in Stralsund, in der der Sänger groß geworden ist. Der Bordsteinkick verspricht hier mehr Adrenalin als eine feuchte Fummelei im Dunkel einer Disko. Bolz, Jahrgang 1988 und damit der jüngste der hier genannten Autoren, fühlt sich von der sterbenden DDR »auf die Welt geworfen« und »zerrieben im Chaos der kollidierenden Systeme« der ausgehenden Neunziger Jahre, die geprägt waren von kalten Transformationsprozessen, und luftleeren wie rechtsfreien Räumen. Drogen, Gewalt und Resignation bilden einen gleitenden Übergang zum Gangsterrap, der laut beschweigt, was nicht benannt werden darf.
Müllensiefens »Aus unseren Feuern« spielt nicht auf dem Land, sondern in Leipzig, wo der Autor seit Jahren lebt, arbeitet und schreibt. Diese Tätigkeiten zu trennen, ist wichtig, denn vor dem Schreiben war das Arbeiten, das nun wiederum sein Schreiben prägt. Der 1987 in Magdeburg geborene Autor hat eine Ausbildung als Systemelektroniker absolviert, ging später ans Leipziger Literaturinstitut und jobbte neben dem Studium als Bestatter. Seine Erfahrungen im Arbeitermilieu hat Müllensiefen an seine Figuren weitergereicht. Heiko jobbt erst in der Schlachterei von Thomas’ Vater, wird dann eine Ausbildung zum Elektriker durchlaufen und später als Bestatter die Leiche seines Freundes präparieren.
So ist der Roman in all seinen Dimensionen im Milieu der einfachen Leute angelegt, was unweigerlich Clemens Meyer und seine frühen Romane in Erinnerung ruft. »Aus unseren Feuern« lebt wie dessen Prosa vom sprachlichen Zugang zur Welt. In all seinen Dimensionen ist diese Erzählung mit dem Arbeitermilieu verbunden. Es wird geraucht, gesoffen und gepöbelt, die Arbeit ist ein festes Ritual, bei dummen Fragen gibt’s eine Schelle. Und zugleich ist unter dieser aufgesetzten rauen Schale eine große Zärtlichkeit. Dieser Roman (v)erklärt nicht die Zeit, sondern zeigt, was war. Ganz konkret macht er die wiederholte Erfahrung der Fremdbestimmung und des Identitätsverlusts der einfachen Leute in Ostdeutschland begreifbar.
Der Fussball als Sport der Arbeiterschicht spielt dabei eine besondere Rolle. Noch 1987 spielte etwa Lok Leipzig vor 110.000 Zuschauern im Zentralstadion gegen Bordeaux im Europacup und verlor erst im Finale gegen Ajax Amsterdam, angeführt von Marco van Basten. Im Jahr darauf war der SSC Neapel mit Diego Maradona zu Gast. Dann kam die Wende, der Ausverkauf der ostdeutschen Vereine und ihre Demütigung durch die Bundesliga. Lok Leipzig kamen fortan nicht mehr aus Amsterdam oder Neapel, sondern aus Saarbrücken, Mannheim oder Darmstadt. Das dies nicht folgenlos bleiben konnte, hätte man sich eigentlich denken können.
Den Puls der Stadien und den Beat der Zeit spürt man auch Bolz literarischer Reflektion des eigenen Erlebens an. »I can’t stop raving. I can’t stop raving. I can’t stop raving. I can’t stop raving.« beginnt die Erzählung, um dann einzusteigen in eine Kapsel, die eine Zeitreise in die 90er verspricht. Und hält, mitsamt all der Fernseh-Trash-Kultur, die in ihrem herablassenden Gestus vielleicht einiges dazu beigetragen hat, dass im verlorenen Osten eine neue Generation selbsternannter »Herrenmenschen« meinte, auf offener Straße alles zu jagen, was in ihren Augen anders und fremd schien, während die stumme Mehrheit zusah.
Schulz, Jahrgang 1979, zeigt mit seinem langhaarigen Alter Ego nicht minder eindrucksvoll, wie verloren seine Generation durch die 90er getaumelt ist. Er erzählt ohne moralische Wertung, wie aus aufgesetzten Gesten extreme Haltungen wurden und er lange nicht wahrhaben wollte, dass die Freunde aus Kindertagen längst waschechte Nazis waren. Sein Alter Ego wird sich in die linke Szene begeben. Und bald schon heißt es »Ich habe meinen ersten Nazi erwischt.« Mit diesem verbalen Aufwärtshaken beginnt das Romandebüt des taz-Reporters, das als eines von fünf Debüts für den Aspekte-Literaturpreis nominiert ist.
Es sind allesamt gebrochene Biografien, die einem in den Texten von Bolz, Schulz und Müllensiefen begegnen. Müllensiefens Roman ragt in seiner Lebendigkeit aber heraus. Das betrifft nicht nur die Zeichnung der drei Jungs, deren Wege immer weiter auseinander laufen, sondern auch die Nebenfiguren. Da ist etwa Jana, Heikos erste Freundin, der er als Stift im Supermarkt begegnet. Über ihren Vater, der Teil der DDR-Nomenklatura war, heißt es lakonisch: »Irgendwann waren Stasi, Staat und Frau weg, dieses Loch füllte jetzt der Alkohol.« Oder Mandy, seine Schulhof-Liebe, die von einem Tag auf den anderen in den Westen verschwand. Jahre später begegnet ihr Heiko bei einem Bewerbungstraining der Arbeitsagentur wieder. Er erfährt, wie sie im Westen wegen ihrer Sprache gedemütigt und von den Typen hintergangen worden sei, so dass ihr nur der Rückzug in die Heimat blieb. Angesichts dieser Einblicke wünscht man sich dringend den Roman einer ostdeutschen Jugend aus weiblicher Perspektive.
Müllensiefen zeichnet seine Figuren aber nicht als larmoyante Opfer, sondern als Kämpfer in einem System, dessen Regeln sie erst im Ring kennenlernen. Alle bekommen in dieser Welt auf die Fresse. Manche werden klug draus, Sieger werden sie deshalb aber nicht.
Teile des Textes sind bereits als Rezension von Domenico Müllensiefens Roman »Aus unseren Feuern« im Freitag erschienen.
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