Was sind Bilder von uns wert, wenn sie uns in uns selbst einschließen? Dieser und anderen Identitätsfragen geht Olivia Wenzel in ihrem überwältigenden Debütroman »1000 serpentinen angst« nach. Ein Gespräch über Alltagsrassismus, die Schwere nach Hanau und den schwierigen Begriff der Heimat.
Olivia Wenzel, Sie erzählen in Ihrem Debütroman die Geschichte einer Frau, die auf mehrfache Weise von Diskriminierungs- und Ausgrenzungs-, aber auch Verlusterfahrungen geprägt ist. Wie viel Biografie steckt in dem Buch?
Ich bin immer überrascht, dass die Frage nach dem Autobiografischen so stark interessiert. Macht es das Buch denn besser, wenn man wüsste, dass alles, was darin steht, 1:1 so passiert ist? Oder anders: Selbst wenn ein Großteil des Erzählten ausgedacht wäre, dann wäre er in Deutschland ja nicht unwahrscheinlich.
Aber Erfahrung wird beim Schreiben doch sicher eine Rolle gespielt haben?
Beim Schreiben habe ich mit mehreren Dateien gearbeitet. Es gab Dateien für die Figuren, dann gab es welche mit Titeln wie »Träume« oder »Surreales«, eine hieß »Random« mit Sachen, von denen ich nicht genau wusste, was ich damit mache. Und dann gab es eine Datei mit dem Titel »Rassismus«, die sich wie von allein gefüllt hat. Da musste ich nicht lange überlegen, was ich reinschreibe.
Das klingt dann aber doch, als stecke da viel Persönliches im Roman.
Ich denke, die Hauptfigur ist eine Variante von mir. Eine Version, die ich gar nicht sein könnte, die aber sehr viel mit mir zu tun hat. Sie ist wie eine düstere Version meiner selbst. Ihre Gefühls- und Gedankenwelt kann ich enorm nachvollziehen. Die Zerrissenheit dieser Figur, dieses verzweifelte Ringen und Kämpfen, ist mir aus meiner Jugend sehr vertraut. Und es gibt auch Tage, an denen ich mich wieder so fühle. Aber das sind zum Glück sehr wenige. Wenn ich permanent ihre Brille aufhätte, könnte ich im Alltag nicht gut leben. Und dass es mir gut geht, ist für mich erstmal Priorität.
Sie sind in Weimar groß geworden.
Damals war das selbstverständlich, aber als ich weggegangen bin, habe ich gemerkt, dass es mir ganz schön zugesetzt hat, im Thüringen der Neunziger aufzuwachsen. Mit 18 Jahren bin ich zum Studium nach Hildesheim gegangen, eine sehr beschauliche niedersächsische Kleinstadt. Als ich da im ersten Semester mit dem Bus gefahren bin, habe ich gemerkt, dass ich innerhalb weniger Wochen einen Grad von Entspannung entwickelt habe, den ich vorher im öffentlichen Raum so nicht kannte. In Weimar habe ich im Bus immer gecheckt, wer da ein- und aussteigt. Ich bin immer als letzte ausgestiegen, habe immer darauf geachtet, möglichst nicht im Neubaugebiet auszusteigen, wo die Nazis wohnen. Diese Mechanismen habe ich erst in der Distanz registriert und gespürt, dass ich in meiner Kindheit und Jugend unter sehr viel Druck stand.
Die Stärke Ihrer Literatur liegt für mich in der Prägnanz, in der Sie diese Druckerfahrungen beschreiben. Es gibt da etwa die Szene in New York, wo Ihre Erzählerin erleichtert eine Banane im öffentlichen Raum isst.
Da kommen drei Sachen zusammen, die ich in dieser Szene verhandeln konnte: schwarz, Ossi, weiblich. Diesen Teil habe ich auch sehr früh geschrieben, als ich noch nicht wusste, dass daraus ein Buch werden würde. Zu dem Zeitpunkt hatte ich eher im Kopf, ein Theaterstück daraus zu machen. So konnte ich noch freier darüber schreiben. Bei der Bananen-Passage merkt man auch, dass sie so frei geschrieben ist, wie das Buch über weite Strecken funktioniert. Ich hangele mich erzählend eher an Objekten oder Begebenheiten entlang und kreise dann assoziierend darum herum, statt einen Plot zu erzählen.
Gab es so etwas wie einen Anlass oder Auslöser, das Buch zu schreiben?
Es hat sich sehr lange sehr viel angesammelt, manches davon habe ich in Theaterstücken verhandeln können. Ich habe beispielsweise ein Theaterstück geschrieben, in dem der Freitod eines jungen Mannes behandelt wird. Oder mein Theaterstück »mais in deutschland und andere galaxien«, erzählt die Ostbiografie eines jungen schwarzen Mannes. Und dann war ich tatsächlich zu Trumps Wahl in den USA. In der Wahlnacht war ich in New York, nicht so, wie das im Buch geschildert wird, sondern merkwürdigerweise auf der Wahlparty von Hillary Clinton. Am nächsten Tag war ich an einer Universität in North Carolina, um über meine Theaterstücke zu sprechen. Ich habe mich dort mit vielen Afroamerikaner*innen unterhalten und deren Verzweiflung gespürt. Da haben Leute in meinem Alter geweint, das war eine sehr intensive Stimmung. In der Zeit habe ich auch zufällig einmal Ta-Nehisi Coates getroffen, der damals mit »Zwischen mir und der Welt« in aller Munde war. Und so sind viele Sachen zusammengekommen, die mich wie auf Serpentinen zu dem Roman geführt haben.
Sind denn Black History und Postkolonialismus Themen, die Sie besonders interessieren?
Ich glaube, dass mich das zwangsläufig anzieht, seit ich angefangen habe, mich mit schwarzen Identitäten zu beschäftigen. Aber es ist nicht so, dass ich mich permanent damit auseinandersetze, ich habe eher phasenweise viel darüber gelesen. Damals habe ich gemerkt: Es tut zum Beispiel gut, mal was von Audre Lorde zu lesen.
Warum tut Ihnen das gut?
Weil es ganz oft Erfahrungen gibt, die ich noch gar nicht begriffen oder verbalisiert habe und dann lese ich, wie jemand anderes Rassismus beschreiben oder kritisieren würde, und es trifft auch auf mich zu. Das ist gewissermaßen heilsam. Ich habe beispielsweise lange die Formulierung »internalisierter Rassismus« nicht gekannt. Dann habe ich davon gelesen und verstanden, dass genau der sich vollzogen hat, wenn ich als Kind die Straßenseite gewechselt habe, sobald mir ein »afrikanisch« aussehender Mann entgegen kam.
Wie lebt man denn als nicht weiß gelesene Deutsche in diesem Land und auf diesem Kontinent, wo Nationalismus, Abschottung und die Angst vor dem Fremden zunehmen, wo Schutzsuchende mit Tränengas abgewehrt oder zum Selbstmord animiert werden und Rechtsradikale den Schutz der Sicherheitsbehörden genießen?
Gerade wird es zunehmend schwer im Alltag, diese Sachen auszublenden, weil sie sich häufen. In dem Berlin, in dem ich unterwegs bin, vielleicht noch am wenigsten, aber natürlich passiert das dennoch ständig. Allein die ganzen Faschos, die nach Neukölln gehen und dort Häuser und Autos anzünden. Und ich erlebe es immer noch oft, dass Menschen schnell zu rassistischen Beleidigungen greifen, das ist krass. Früher hätte ich das heruntergeschluckt, aber mein Gefühl sagt mir, dass ich in solchen Situationen mehr eskalieren muss.
Nach Hanau ist die Situation sicher auch noch einmal besonders.
Ich finde es sehr schwer, das auszuhalten, und für mich funktioniert es am besten, wenn ich immer mal wieder alle Medien meide. Denn wenn ich jeden Tag in meiner Bubble alles lese, was passiert, dann ist das für mich kaum zu ertragen. Gleichzeitig kommt mit dem Rechtsruck etwas an die Öffentlichkeit, was unterschwellig schon lange brodelt. Das ist meines Erachtens nicht nur medial verstärkt.
Ändert das etwas für Sie?
Jetzt, wo mein Buch ein bisschen Aufmerksamkeit bekommt, ertappe ich mich bei dem Wunsch, dass es nicht zu viel Aufmerksamkeit bekommt. Weil ich mich nicht auf irgendwelchen Todeslisten wiederfinden möchte. Das ist ja eine reale Gefahr. Und die kann ich im Moment nur bewältigen, indem ich sie gezielt ausblende.
Das ist natürlich absurd, dass Sie aus Angst nicht so viel Aufmerksamkeit für Ihr Buch haben wollen.
Es ist eher Sorge, keine Angst. Vor einer Weile habe ich kurz Kübra Gümüşay getroffen, deren Buch »Sprache und Sein« ja gerade intensiv diskutiert wird. Sie meinte damals: »Je erfolgreicher Du wirst, desto schwerer wird es.« Gümüşay hat schon mehrere Morddrohungen bekommen, jetzt sind es vielleicht noch mehr. Das finde ich unvorstellbar auszuhalten.
Was bedeutet der Begriff »Heimat« für Sie? Wo fühlen Sie sich zuhause?
Der Heimatbegriff ist wegen seiner Vergangenheit kein Begriff, den ich benutzen würde. Zuhause sein, mich zugehörig fühlen, sind da schon eher treffende Kategorien. Die wiederum sind für mich nicht an einen Ort gebunden, sondern sind in erster Linie ein Gefühl. Zuhause bin ich bei meinen Wahlverwandtschaften und Freund*innen, bei mir selbst, wenn es mir gut geht, und auch bei meiner Familie.
Und was ist Thüringen für Sie?
Thüringen ist für mich ein beklemmender Ort, den ich mit vielen negativen Erlebnissen verknüpfe. Wenn ich da bin, geht es mir immer erst einmal ziemlich schlecht. Nach drei Tagen geht es wieder besserund ich merke, dass viele Menschen sehr freundlich sind, dass die Region charmant ist und ich es mag, wenn die Leute auf dem Marktplatz Dialekt reden. Ich laufe auch einfach wirklich gerne durch den Goethe Park. Also es ist nicht alles schlecht, aber wenn ich ankomme, dann bin ich wie eine Touristin in meiner eigenen Vergangenheit. Wenn ich es schaffe, diese Vergangenheit hinter mir zu lassen und mich nicht wie die unsichere 16-Jährige zu fühlen, die ich mal war, dann geht’s mir gut. Und dann würde ich zwar auch nicht sagen, dass das meine Heimat ist, aber auf jeden Fall ein Ort, der mein Zuhause sein könnte, wenn ich es unbedingt wollte.
Wollen Sie das denn noch, angesichts der aktuellen Ereignisse und dem Einfluss der AfD?
Schon, weil es wäre doch bescheuert, aus diesem Grund wegzugehen und denen das Feld zu überlassen. Ich gehe zwar nicht mehr zurück in den Osten, aber ich freue mich über jede Person, die das macht und Widerstand leistet.
Sie kommen aus dem Osten, wollen aber nicht mehr dahin zurück. Wie zerrissen sind Sie denn in Ihrer Identität?
Zerrissen fühle ich mich nicht, ich habe Frieden mit mir selbst. Aber ich habe multiple Identitäten, je nachdem, wo ich gerade bin. Wenn ich meinen Vater in Sambia besuche, bin ich sicherlich eine ganz andere Person als jetzt hier mit Ihnen. Ich habe manchmal das Glück, dass ich an anderen Orten dazugehören kann, anders als das vielleicht weißen Deutschen möglich ist. Ich habe auch enorm viele Privilegien, kann jederzeit überall hin. Deshalb fühle ich mich wirklich nicht zerrissen. Aber manchmal fühle ich mich ohnmächtig, gefangen in den Zuschreibungen, die mir entgegengebracht werden. Letzte Woche kam ich beispielsweise in einem Café mit einem sehr freundlichen, alten Mann ins Gespräch. Wir unterhielten uns über dies und das, dann fragte er mich, wo ich eigentlich herkäme. Diese uralte Frage, hinter der immer wieder steckt: »In meiner Vorstellung sind Deutsche weiß – warum bist du nicht weiß?« Ich war natürlich gleich genervt, sagte aber freundlich, natürlich, dass ich aus Deutschland käme. Da antwortete dieser alte Mann, nein nein, er meine genetisch, wo ich denn genetisch herkäme. Er war wirklich sehr nett, charismatisch, sprach zwischendurch Englisch und las seine Tageszeitung bei einem Kaffee. Also das war jemand, der augenscheinlich Wert auf Bildung legt. Und der dennoch überzeugt ist, dass es okay sei, mich so etwas zu fragen. Das ist ja keine Frage nach Identität, sondern einfach ein fremdmarkierender Stempel.
Sind solche Situationen nicht wahnsinnig anstrengend?
An schlechten Tagen finde ich das unerträglich und es lässt mich verzweifeln, an guten Tagen kann ich darüber lachen und es beiseite wischen. Ich muss aber auch sagen, dass es nicht permanent spürbar ist, zumindest hier in Berlin. Ich wache ja nicht jeden Tag auf und denke, dass ich eine schwarz gelesene junge Frau in Berlin bin, die den gesamten Tag über damit konfrontiert ist. Aber leider gibt es auch viele Tage, an denen es genauso ist.
Die Erzählerin in Ihrem Roman schildert zahlreiche alltagsrassistische Erfahrungen, in denen ich auch Ihre Erfahrungen herausgelesen habe. Wird man unfreiwillig zur Expertin für rassistisches Verhalten und rassistische Strukturen?
Ich hatte kürzlich bei einem Interview das Gefühl, zwei Stunden lang darüber Auskunft geben zu müssen, warum es in Thüringen so viele Nazis gibt. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich wirklich versuche, das zu erklären, obwohl das gar nicht meine Aufgabe ist. Die gesellschaftliche Mitte hat versagt, die Medien ebenso, weil sie das Thema so pushen, der AfD so viel Raum geben. Warum soll ich da plötzlich als Botschafterin von Thüringen auftreten? Ich finde das manchmal verdrießlich. Es ist ja schon schlimm genug, dass wir uns die ganze Zeit ansehen, wie viel Shit da draußen passiert, aber dass man dann auch noch mich heranzieht, um das zu erklären, ist völlig daneben. Als könnte man das nicht ohne mich machen.
Als würde Rassismus nicht von jedem jeden Tag wahrgenommen.
Ich habe mich vor zwei Jahren mal mit einer jungen blonden Berliner Journalistin darüber ausgetauscht, ob sie schon mal Rassismus erfahren oder mitbekommen habe, und sie verneinte das. Da habe ich gedacht, dass man mindestens sehr ignorant durchs Leben gehen muss, um Realitäten so wahrnehmen zu können. Viele weiße Menschen machen es sich auf diese Art bequem, weil sie bislang nicht gemeint waren. Und auch wenn das seit Walter Lübcke anders ist, liegt darin meines Erachtens das Hauptversagen, also in dieser merkwürdigen Passivität der Mitte und der Unfähigkeit, Rassismus als das zu erkennen und zu benennen, was er ist. Letztens habe ich erlebt, wie ein junges Mädchen, das gebrochenes Deutsch sprach, im Rossmann Windeln mit der Karte ihrer Mutter kaufen wollte. Die Verkäuferin ließ sie die Windeln nicht kaufen und erzählte dem Mädchen und seinen kleinen Geschwistern etwas davon, wie die Dinge hier in Deutschland laufen würden:, und sagte: »Entweder Du kommst mit Bargeld wieder oder mit Deiner Mutter; du hast Glück, dass ich nicht die Polizei rufe.« Dann wollte ich die Windeln bezahlen, das ließ die bockige Verkäuferin aber nicht zu. Ich sagte dann, dass das Schikane sei, was sie da mit dem Mädchen mache – ich habe ganz bewusst nicht gleich von Rassismus gesprochen –, schließlich ging es um Windeln und nicht um ein 50-Euro-Parfum oder ernsthaften Kreditkartenbetrug. Daraufhin wurde die Verkäuferin richtig laut und schnauzte mich an, sie sei keine Rassistin, sondern würde sie ja wohl kaum hier in diesem Viertel arbeiten. Hinter mir standen zehn Leute, die keinen Ton gesagt haben. Ich wette, die Hälfte der Leute fand das auch nicht cool von der Kassiererin, aber sie machten halt den Mund nicht auf, vielleicht, weil sie das nie mussten. Weil sie nie gemeint oder bedroht waren, weil ihre Kinder sich noch nie anhören mussten, wie die Dinge hier in Deutschland laufen. Das sind Situationen, da ärgere ich mich mehr über die schweigende Mehrheit als über die Täter*in.
Ihre Protagonistin macht die Erfahrung, anders oder fremd zu sein. Sie flieht vor diesem Gefühl in die USA und nach Vietnam. Inwiefern hilft die Fremde, sich weniger fremd zu fühlen?
Wenn ich nicht Deutschland bin, mache ich die Erfahrung, dass mir das, was ich in Deutschland extrem problematisch finde, ein bisschen egaler wird. Dass ich irgendwo als fremd gelesen oder fremd markiert werde, dem kann ich nicht entgehen, aber wenn ich mich davon entferne, kann das, was mich belastet, an Gewicht verlieren.
Das Leben Ihrer Erzählerin ist durch mehr als die Fremdheitserfahrung geprägt. Die Männer sind alle abwesend, die Mutter kämpft mit sich selbst, die Großmutter neigt zu Rassismus. Darüber hinaus ordnet sich die Erzählerin gleich mehreren marginalisierten Gruppen zu. Warum haben Sie die Figur so angelegt?
Das ist beim Schreiben entstanden. Ich merke aber, dass ich das oft gefragt werde. Als wäre es ein Alleinstellungsmerkmal, weiblich, queer, ostdeutsch und schwarz zu sein. In meinem Umfeld ist das ganz normal. Aber ja, ich habe etwas geschrieben, was bisher weder in der Öffentlichkeit noch in der Literatur oft vorkommt.
Ihr Roman führt immer wieder auf den Bahnhof, ein Ort des Vorübergehenden, des Transits. Und an diesem Ort steht das Herz der Erzählerin, eingeschlossen in einen Automaten. Ein Zufall?
Beim Schreiben habe ich mich gefragt, warum sich so viele Sachen an öffentlichen Transitorten und so wenig im privaten Raum abspielen. Ein Freund hat mir mal gesagt, dass der Text viel in der Gedankenwelt spielt und wenig körperlich ist. Und das stimmt, man macht tatsächlich wenig sinnliche Erfahrung. Die Ich-Erzählerin schaut sich sehr von außen an beziehungsweise tritt aus sich heraus und erzählt alles aus einer merkwürdigen Distanz zu sich selbst. Das ist einerseits unkörperlich und andererseits spiegelt sich das vielleicht in diesen Orten, an denen man niemals privat oder intim sein kann.
Im Vorwort zum dritten Teil heißt es, dass es einfacher ist, über Verlust als über Liebe zu sprechen. Im Roman geht es um beides, auch weil das eine erst durch das andere spürbar wird. Wie haben sie das beim Schreiben wahrgenommen?
Ich finde, dass es schon auch viel um Trauer und Verlustbewältigung geht. Ich habe mal in einem miserablen Tatort vor paar Jahren aufgeschnappt, dass Trauer Liebe ist, die heimatlos geworden ist. Das finde ich eigentlich ganz gut, weil es dieses Gefühl, dass man nicht weiß, wohin mit der übrig gebliebenen Liebe, die keinen Platz mehr hat, gut beschreibt.
Setzt man sich mit Ihren Theaterstücken auseinander, stellt man fest, dass Sie eine Faszination für das Verlassen einer irdischen Perspektive haben. Figuren begeben sich da ins All oder befragen das Universum, um herauszufinden, wie sie leben wollen.
Ich mag es, beim Schreiben surreal oder albern zu werden, auch mal ins Absurde zu gehen. Deshalb liebe ich das Theater, da habe ich viel Freiheit und muss nicht ständig psychologisch kohärent bleiben. Ich kann da auch sehr verschrobene, krude Sachen machen. Ich habe beispielsweise mal ein Stück über zwei Menschen im Elektrofachhandel geschrieben, die zufällig unsterblich werden und in diesem Geschäft ihr Leben verbringen. Ich mag solche Experimente. Im Roman war dafür nicht so viel Raum, da war ich sehr viel ernster.
Ist Ihnen dieses ernstere Schreiben schwerer gefallen?
Das ist sehr schwer gewesen und hat mich Kraft gekostet. Sonst habe ich sehr viel mehr Spaß am Schreiben, erlebe lustige Sachen mit mir selbst, lache häufig und fühle mich danach deutlich besser. Beim Roman habe ich dagegen auch manchmal geweint. Am Ende des Tages ging es mir meist einfach nicht gut. Ich habe zwischendurch immer wieder gedacht, dass es psychisch zu viel für mich ist. Aber dann war auch klar, dass ich das Manuskript zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeben musste, dass es keinen Weg zurück gab.
Dialog spielt nicht nur in Ihrem Sprechtheater eine Rolle, sondern auch in Ihrem Roman, der wie eine permanente Selbstbefragung angelegt ist. Warum diese Form?
Mir war es anfangs nicht so klar, aber es kommt erstmal davon, wie ich schreibe. Wenn ich anfange, zu schreiben, höre ich zunächst Stimmen, von denen ich oft noch gar nicht weiß, was das für Charaktere sind und wohin die gehören. Deshalb bin ich wohl auch erst einmal Theaterautorin geworden. Ich habe mich aber auch gefragt, wie ich über Gewalt schreiben kann, ohne sie zu reproduzieren. Diese dialogische Form, die eine Distanznahme zum Text erlaubt, hilft mir dabei, diese Frage zu beantworten.
Vielfalt taucht bei Ihnen immer wieder auf. Sie machen Theater, Musik und Literatur. Finden Sie auch in der Kunst kein Zuhause oder fühlen Sie sich auch hier überall ein bisschen heimisch?
Mit Anfang 20 habe ich gehadert, was ich machen will. Ich dachte immer, dass ich eine Sache richtig gut können muss und nicht ich alles ein bisschen. Diesen Gedanken habe ich inzwischen losgelassen, weil ich spüre, wie sich alles gegenseitig befruchtet. Wenn ich an dem Buch gesessen und gedacht habe, dass ich mich nicht schon wieder in all diesen Schmerz hineindenken will, dann konnte ich mich kurz ans Klavier setzen und Luft holen. Und jetzt freue ich mich, dass ich nächstes Jahr wieder ein bisschen mehr Musik und Theater machen kann. Außerdem habe ich auch bald wieder einen Workshop mit Jugendlichen, darauf freue ich mich jetzt schon.
Was gibt Ihnen die Arbeit mit Jugendlichen?
Sie gibt mir Hoffnung, Zuversicht und Einblicke in ihre Gedankenwelt. Ich erlebe da oft intensive und ehrliche Begegnungen, wie sie mit Erwachsenen gar nicht möglich wären. Und mich begeistert, dass junge Menschen of Colour in den ganzen Diskursen mindestens auf dem gleichen Stand sind wie ich, weil sie viel früher angefangen haben, sich damit auseinanderzusetzen. Diese Generation tauscht sich mit einer ganz anderen Selbstverständlichkeit über solche Themen aus. Ich habe beispielsweise mit den Ohren geschlackert, als mir ein 19-Jähriger in einem Workshop erklärte, was er an white feminism blöd findet. Nämlich dass dieser das intersektionale Moment verpasst habe. So etwas finde ich gut. Und entsprechend lerne ich von den Jugendlichen auch verdammt viel.
Ihnen wurde für »1000 serpentinen angst« der Literaturpreis der Stadt Fulda für das beste Debüt zuerkannt. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Nun, finanzielle Sicherheiten schätze ich sehr (lacht). Es gab eine Zeit, da hätte ich so einen Preis als eine Art Schmerzensgeld von Deutschland an mich verstanden. Insofern stimmt mich eine derartige Auszeichnung erstmal versöhnlich. Aber natürlich freue ich mich in erster Linie einfach darüber und hoffe, dass der Preis die Reichweite des Buchs erhöht. Denn ich freue mich über jede Person, die das Buch liest. Mir passiert es jetzt oft, dass Leute sagen, dass sie das Buch ihren Eltern schenken, damit die mal sehen und hören, »wie das so ist«. Ich hoffe, dass dieses Feedback nicht zu mir zurückkommt. Denn ich will nicht bei den Erfahrungen dabei sein, die die Leute beim Lesen machen. Aber dass sie sie machen, finde ich gut.
Am Ende wünscht sich Ihre Erzählerin eine unverbindliche Art des Zusammenseins, »in liebevoller Ignoranz, ohne eine Anstrengung zu unternehmen, uns auszutauschen, uns zu verstehen, uns von etwas zu überzeugen«. Steckt darin vielleicht auch Ihre Utopie für die globale Gesellschaft?
Nein, eine Utopie für eine globale Gesellschaft habe ich nicht, wenngleich ich mir wünsche, dass es uns gelingt, das Konzept von Nationalitäten aufzugeben und eine Weltgemeinschaft zu werden. Ich mag einfach sehr, wenn man Zeit miteinander verbringt, ohne sich intellektuell auszutauschen. Meine Erfahrung mit der Musik und dem Theater zeigt mir, dass das, was einen wirklich berührt, oft nonverbal ist. Deshalb finde ich es eigentlich am Schönsten, wenn man entspannt und still miteinander eine gute Zeit hat.
Olivia Wenzel, vielen Dank für das Gespräch.
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