Film

Ein Film wie ein Tanz

Filmstill aus »So Long, My Son« von Wang Xiaoshuai | © Piffl Medien

Wang Xiaoshuai erzählt in seinem chinesischen Fortschrittsmärchen »So long, my son« vom unaufhörlichen Vorbeifließen der Zeit. Seine beiden Hauptdarsteller sorgen dafür, dass dies zu einem emotionalen Spektakel wird.

Als mit der Auszeichnung von Helena Zengel und Albrecht Schuch kürzlich beide Darstellerpreise der Deutschen Filmakademie an das Drama »Systemsprenger« gingen, war das durchaus überraschend. Und das nicht nur, weil mit den Akteur:innen aus Burhan Qurbanis »Berlin Alexanderplatz« oder Ilker Çataks »Es gilt das gesprochene Wort« wirklich gute Konkurrenten im Rennen waren, sondern auch, weil das Drama bei den Darstellerpreisen der Berlinale 2019 gar keine Rolle spielte. Die räumten die beiden Darsteller:innen aus Wang Xiaoshuais »So Long, My Son« (dt. »Bis dann, mein Sohn«) ab. Der dreistündige Film, in dem die Geschichte Chinas anhand der Schicksalsschläge, die ein Ehepaar erfährt, nacherzählt wird, ist nun im Streaming zu sehen.

Xiaoshuai ist den meisten aufgrund seines Welterfolgs von »Beijing Bicycle« ein Begriff, mit dem er 2001 bei der Berlinale einen Silbernen Bären gewann. »So Long, My Son« ist der erste Teil einer geplanten Trilogie über seine chinesische Heimat. Der Film führt aus den 1980er Jahren bis heute und zeigt, wie sich die Volksrepublik China seither verändert hat. Aber im Grunde erzählt der Film nur am Rande von der Einkind-Politik, den politischen Repressionen und den Wirtschaftsreformen im Land. Im Mittelpunkt stehen das Ehepaar Yaojun und Liyun, die von einem tragischen Schicksalsschlag zusammengehalten werden.

In Episoden setzt Xiaoshuai, der 2008 mit dem Familiendrama »In Love We Trust« den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch gewann, in seinem Film das Leben das Ehepaares zusammen. Nach den glücklichen Jahren, in denen sie gemeinsam in einer Fabrik arbeiten und sich einen vertrauten Freundeskreis aufbauen, folgen die Jahre der Familiengründung. Zeitgleich mit einem befreundeten Paar bekommen sie einen Sohn. Die beiden Jungen werden beste Freunde, wachsen wie Brüder auf und verbringen jede freie Minute miteinander. Als Liyun ein zweites Mal schwanger wird, rät ihr nicht nur die Freundin davon ab, das Kind zu bekommen. Denn in China herrscht die Ein-Kind-Politik des Zentralkomitees, weshalb sich die junge Frau zur Abtreibung überreden lässt. Eine fatale Entscheidung, wie man längst weiß, denn der Film setzt mit einem tragischen Unglück ein, in dessen Folge Yaojun und Liyun verwaist sind.

Doch die Geschichte ist gnadenlos, nimmt keine Rücksicht auf schon erlittene Verluste. Nach dem emotionalen Tiefschlag folgt schon bald der wirtschaftliche, denn mit der Öffnung der chinesischen Wirtschaft erhält der Kapitalismus Einzug und die Fabrik, in der beide aktiv sind, wird geschlossen. Unmenschlich, wer all das aushält, ohne Ablenkung zu suchen. So tritt zwischen beide eine verhängnisvolle Affäre, die das Vertrauen tief erschüttert. Doch weiter dreht das Lebensrad, Versöhnung und Wiedergutmachung führen zu einer Adoption, die doch nichts reparieren kann, was schon in Scherben liegt. Die (Lebens)Müdigkeit, die in einem solchen Leben zwangsläufig eintritt, ist den Figuren im Gesicht abzulesen.

Wang Jingchun und Yong Mei spielen dieses durch Schicksalsschläge verbundene Paar mit großer Sensibilität. Sie halten in ihrem Spiel die vielen Zeit- und Handlungsebenen, auf denen der Film drei Stunden lang hin und her springt, zusammen. Denn Xiaoshuai erzählt diese Geschichte nicht chronologisch, vielmehr folgt er den Emotionen seiner Figuren. Über das Gefühl erzählt er vom unaufhörlichen Vorbeifließen der Zeit. Dass ihm das auf so grandiose Weise gelingt, liegt vor allem auch an den beiden Hauptdarsteller:innen, die den Schlüssel in diesem humanistischen Fortschrittsmärchen darstellen, mit dem Xiaoshuai durch 30 Jahre chinesischer Geschichte tanzt. Wang Xiaoshuis »So Long, My Son« ist weder Indie- noch Mainstream-Kino, sondern schlicht und ergreifend ganz großes Kino.

Wang Xiaoshuai: Bis dann, mein Sohn. Piffle Medien. 13,90 Euro. Hier bestellen.
Als Stream bei Amazon, itunes, Joyn (Maxdome), Google Play, Videoload, Rakuten, Vodafone, Videobuster, Vimeo verfügbar.

Die Maßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie werden nachhaltig unseren Alltag verändern. Die Kinos sind wie alle Kultureinrichtungen besonders von der Krise betroffen. Bei ihnen ist allerdings mehr als bei Museen oder Clubs fraglich, ob das Publikum, das jetzt mit Streaming-Angeboten abseits des Mainstreams verwöhnt wird, jemals in dem Maße zurückkommen wird wie zuvor. Denn sind die Möglichkeiten der Direktvermarktung durch Streaming und Video on Demand durch die Produktionsfirmen und Verleihe erst einmal etabliert – und genau das passiert derzeit –, ist die Büchse der Pandora für die Kinos geöffnet. Zumindest wen es um das internationale Kino abseits der deutschen Filmförderung geht, die noch so etwas wie eine Kinopflicht vor der Onlinevermarktung vorsieht.

Ob sich das halten lassen kann, bleibt abzuwarten. So lange bleibt nur, an die Besonderheit des Kinobesuchs zu erinnern, an das Dunkel des Raums, die gespannte Stille, mit der sich eine Welt vor dem eigenen Auge entfaltet, in die man gemeinschaftlich ganz versinkt. Der Umstand, das nun Filmperlen in die Wohnzimmer gespült werden, ist ein trügerisches Glück. Nichts spricht dagegen, es zu genießen, wenn wir danach wieder in die Kinos zurückkehren, für die diese Filme gedreht wurden.