Kein Film brachte bei dieser Berlinale so viel Energie auf die Leinwand wie Burhan Qurbanis Adaption von Alfred Döblins Roman »Berlin Alexanderplatz«. In dem bildgewaltigen Film schlüpft ein afrikanischer Migrant in die Rolle des Franz Biberkopf, der in Berlin neu anfangen möchte.
Eine rote Signalrakete ist der verzweifelte Hilferuf, den Francis noch in den dunklen Himmel über dem Mittelmeer schickt. Doch statt dass jemand sein Licht sieht und zur Hilfe eilt, sieht man als Zuschauer nun im Licht der Rakete den verzweifelten Kampf, den er und seine Begleiterin in den Wellen kämpfen. Nur Francis wird es ans rettende Ufer schaffen. Ein Leben hat er quasi schon auf dem Gewissen, da sind von Qurbanis knapp dreistündigem Film gerade einmal fünf Minuten von der Uhr gelaufen.
Er nimmt sich selbst das Versprechen ab, »gut zu sein« und seine zweite Chance zu nutzen. Diese bietet sich ihm im Berlin dieser Tage, in einem abgewrackten Asylbewerberheim kommt er unter. Hier entgeht »Francis von Bissau«, der Franz Biberkopf unserer Tage, zunächst den Verführungen des teuflischen Reinhold als Drogenkurrier schnelles Geld zu machen. Stattdessen schließt er sich Otto an, der Arbeiter für die Verlängerung der U-Bahn in Berlin Mitte sucht. Aber auch hier ist Francis nur ein Schwarzarbeiter, der bei der erstbesten Gelegenheit fallengelassen wird. Hier strauchelt er das erste Mal, doch er wird sich wieder aufrappeln, kommentiert die Erzählerin dieser Geschichte, die Prostituierte Mieze. Diese Erzählung aus dem Off gibt dem Film etwas Episches, Universelles, und macht zugleich von Anfang an klar, dass diese Geschichte nicht gut ausgehen wird. Und dennoch folgt man ihr atemlos, Kapitel für Kapitel.
Francis wird sich als nächstes Reinhold anschließen und dessen Drogenkurriere in der Berliner Hasenheide versorgen. Er zieht sogar bei ihm ein und erlöst den gleichermaßen sexsüchtigen wie liebesunfähigen Freak von den Damen, nach denen er sich erst sehnt und die er dann nicht ertragen kann. Ihr Zusammensein ist ein einziger Exzess, wobei Francis nicht nur Reinholds verlängerter Arm in der Unterwelt wird, sondern auch sein verlängerter Schwanz im Bett. Das geht eine Weile gut, doch als sich Francis bei einem Raubzug für Unterweltkönig Pums querstellt, muss er dafür bitter zahlen.
Als er im Krankenhaus wieder aufwacht, muss er schockiert feststellen, dass ihm ein Arm abgenommen wurde. Nur mit Hilfe seiner neuen Freundin Eva und der Edelprostituierten Mieze, die zugleich diese Geschichte aus dem Off erzählt, kommt er wieder auf die Beine. Nachdem er ein zweites Mal gestrauchelt ist, rappelt er sich unter ihrer Pflege wieder auf und spürt erstmals so etwas wie Wärme und Zuneigung. Er geht eine Beziehung mit Mieze ein, die, weil er auch nicht von Reinhold loskommt, ihm und ihr noch zum Verhängnis werden wird.
Qurbani, der in der Pressekonferenz einräumt, das Buch nie genau verstanden zu haben, erzählt Dublins Roman ziemlich getreu und doch völlig neu nach. Den zwanziger Jahren, in denen Döblins Roman spielt, erweist er dabei die Ehre, indem er in Evas Club in den Bögen der U-Bahn zum Alexanderplatz rauschende Kostümpartys stattfinden lässt. Dass diese Geschichte dennoch eine vollkommen neue ist, liegt an der intelligenten Verlagerung der Themen in die Gegenwart.
Durch die Verortung des Döblin’schen Neuanfangs in der Migrantenszene erhält der Film etwas Verheißendes. Herkunft, Gender, Geisteshaltung – all das spielt in Qurbanis Berlin, wenngleich Franz ein Schwarzafrikaner ist und Reinhold ein weißer Europäer, keine Rolle. Hauptdarsteller Welket Bungué bewegte dieser Umstand immer noch sichtlich. Auf der Pressekonferenz sagte er, dass es allen am Set darum gegangen sei, sich von der Reise, auf die sich alle Akteure in dieser Geschichte begeben, inspirieren und antreiben lassen. Es ist eine Reise durch alle Ebenen einer Stadt, die, wenn man sie als ein Mikrokosmos betrachtet, »etwas von einem Traumstaat« habe, so Bungué.
— Berlinale (@berlinale) February 26, 2020„If you look to Berlin as a microcosm, you will see that there is a glimpse of a dreaming state.“
Highlights from today’s Press Conference for „Berlin Alexanderplatz“ with director #BurhanQurbani and #WelketBungué. pic.twitter.com/8jLM602Anf— Berlinale (@berlinale) February 26, 2020
Welket Bungué glänzt hier in seinem physischen Spiel, Albrecht Schuch spielt seine Rolle als Mephisto in großartiger Ambivalenz und Jella Haase überzeugt als dessen liebesfähige Antipodin. Joachim Król ergänzt das Böse in diesem Film in der Rolle von Pums, während Annabel Manding als Eva die gute Seite stärkt. Und zwischen diesen Polen – Reinhold und Pums als Teufel sowie Mieze und Eva als Liebende – wird der eingewanderte Franz alias Francis hin- und hergeschleudert.
Seinen Höhepunkt findet das ohne Zweifel in einer Schlüsselszene, in der Francis selbst neue Drogenkurriere anwerben will. In dem Flüchtlingsheim, in dem er einst als Refugee ankam, will er nun andere für diese Jobs gewinnen, die er »Neuankömmlinge« nennt. Wer kennt ihre einfachen Wünsche und sagt: »Schaut mich an. Ich bin hier: schwarz, stark, furchtlos. Ich trage eine teure Jacke, ich fahre ein deutsches Auto, ich habe eine deutsche Freundin. Ich bin der deutsche Traum. Ich bin Deutschland.«
In dieser Szene läuft alles zusammen, was ihn zerreißt, der Wahn, die Wut, die Verzweiflung, die Müdigkeit und auch, ja, die Hoffnung, nicht mehr hoffnungslos sein zu müssen. Mieze sagt an einer anderen Stelle zu ihm, dass er aus zwei Personen besteht. Da sei »der eine, den ich so sehr liebe, und der andere, der alles kaputt macht. Der liebt mich nicht, der liebt den Tod.«
Die Ausschläge einer solchen Zerrissenheit sind extrem, der Sound des Films trägt enorm zur vibrierenden Energie, wie man sie zuletzt bei Sebastian Schippers One-Shot »Victoria« auf der Berlinale erlebt hat, bei. Dabei korrespondiert das Sound-Design mit den exzentrischen Farben, in die der Film immer wieder getaucht wird.
Berlin als Stadt wird bei Qurbani zu einem eigenen Akteur, der Gefahr, Verführung und Wärme zugleich ausstrahlt. So, wie die Stadt hier inszeniert und ausgeleuchtet wird, hat das etwas von magischem Realismus, mit dem man sich dem Sog der Stadt und des Films kaum entziehen kann.
[…] gingen, war das durchaus überraschend. Und das nicht nur, weil mit den Akteur:innen aus Burhan Qurbanis »Berlin Alexanderplatz« oder Ilker Çataks »Es gilt das gesprochene Wort« wirklich gute Konkurrenten im Rennen waren, […]
[…] Burhan Qurbani: Berlin AlexanderplatzIn Burhan Qurbanis bildgewaltiger Adaption von Alfred Döblins berühmten Roman schlüpft ein afrikanischer Migrant in die Rolle des Franz Biberkopf, der in Berlin neu anfangen möchte. Mehr und mehr gerät Francis dabei auf die schiefe Bahn, doch am Ende muss er teuer dafür bezahlen. Durch die Verortung des Döblin’schen Neuanfangs in der Migrantenszene erhält der Film, getragen von einem überwältigenden Cast, etwas Verheißendes. In vielfacher Hinsicht ein Meisterwerk des neuen deutschen Kinos. Hier unsere ausführliche Kritik. […]
[…] Hier meine ausführliche Kritik. […]
[…] wird Brasch in grandioser Manier von Albrecht Schuch. Als sei ihm die Rolle – wie schon die des teuflischen Reinhold in Burhan Qurbanis Döblin-Verfilmung »Berlin Alexanderplatz« oder die des weltverlorenen Lebemanns Labude in Dominik Grafs Kästner-Interpretation »Fabian oder […]
[…] Neuanfang oder: Ich bin Deutschland […]
[…] zusammenführt. In der deutschsprachigen Prosa tauchen natürlich Autor:innen wie Hermann Hesse, Alfred Döblin, Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Wolfgang Koeppen, Max Frisch sowie zahlreiche […]
[…] vertraut« gewesen, räumte er im Interview ein. Deutsche Autoren wie Joseph Roth, Franz Kafka, Alfred Döblin, Hans Fallada, Ernst Jünger, Irmgard Keun, Wolfgang Koeppen, Herta Müller oder Durs Grünbein hat […]