Film

Der neue Sex geht unter die Haut

David Cronenberg kehrt mit seinem neuen Body-Horror-Meisterwerk zu seinen Anfängen zurück. Sein Film »Crimes of the Future« zeichnet das Bild einer neuen Menschheit, in der Body Politics eine völlig neue Bedeutung bekommt.

»Liebe? Was ist das? Das natürlichste Schmerzmittel überhaupt«, schrieb der amerikanische Schriftsteller William S. Burroughs kurz vor seinem Tod ins Tagebuch. Burroughs gilt als eine der wichtigsten Inspirationsquellen von David Cronenberg. Dessen Kultroman »Naked Lunch« hat er 1991 bildgewaltig auf die Leinwand gebracht. Wenn der Kanadier nun in seinem neuen Werk eine Welt zeichnet, in der nur noch wenige Menschen Schmerz empfinden können, dann ist das auch eine Welt, in der Liebe ein kostbares, weil überflüssiges Gut ist.

Brecken (Sotiris Sozos) | © 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos

Das erklärt auch die verstörende Eröffnungsszene des Films. Ein kleiner Junge sitzt an einer felsigen Küste, im Hintergrund eine gekenterte Jacht. Aus dem Hintergrund ruft seine Mutter, er solle nicht wagen, den Müll aus dem Meer zu essen. Was wie eine Floskel klingt, ist viel wörtlicher gemeint, als man zunächst ahnt. Als die Mutter später feststellt, dass der Junge Teile des Plastikeimers im Bad verspeist hat, bringt sie ihn um. Die Angst vor dem unerklärlichen Wesen des Jungen ist in dieser nicht allzu weit entfernten Welt größer als die Liebe zum eigenen Kind.

Was Freud dazu sagen würde, wissen wir nicht, aber dass sich Cronenberg diese Frage gestellt haben wird, davon ist auszugehen. Sein Interesse an dem Wiener Psychologen mündete vor Jahren in einem mäßig gelungenen Historiendrama zum Verhältnis von Sigmund Freund und C. G. Jung.

Wie nah an der Gegenwart Cronenbergs kühle SciFi-Version ist, macht eine Anekdote deutlich. Kurz vor der Weltpremiere von »Crimes of the Future« beim Filmfestival in Cannes wurde bekannt, dass im menschlichen Blut erstmals Microplastik gefunden wurde. Wie es dahin gelangt ist, kann man sich zusammenreimen, die Nahrungskette wird keine unwesentliche Rolle spielen.

In der Welt des Kanadiers braucht es keine komplizierten Anreicherungen und Weitergaben mehr. Hier landet das Plastik direkt als Mahlzeit auf dem Tisch. Schön ist das nicht, auch wenn es technisch irgendwie vorangegangen zu sein scheint. Der Fortschritt hat allerdings nicht in einer hübsche Hochglanz-Zukunft geführt, sondern in eine schmutzige Cyberpunk-Welt, in der die Menschen die Kontrolle über ihre Körper verlieren.

Caprice (Léa Seydoux) | © 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos

Denn immer mehr Menschen leiden unter dem »beschleunigten Evolutionssyndrom« und bilden neue Organe mit unbekannten Eigenschaften aus. Saul Tenser, in packender Atemlosigkeit von Viggo Mortensen gespielt, ist einer der bekanntesten dieser Neo-Organ-Erzeuger. Gemeinsam mit seiner geheimnisvollen Partnerin Caprice, verkörpert von Léa Seydoux, veranstaltet er Happenings, bei denen ihm die ehemalige Unfallchirurgin die organischen Spontan-Gewächse bei vollem Bewusstsein entweder tätowiert oder aus dem Leib schneidet. Die Welt mag ein schlimmerer Platz geworden sein, dafür gibt es keinen Schmerz mehr. Inwiefern sich beides bedingt, bleibt offen.

Diese Art Body-Horror gab es bei Cronenberg schon einmal. In einem seiner ersten Filme wuchsen einem Mann ständig neue Geschwüre, die ihm dann aus dem Körper entfernt werden. »Crimes of the Future« lautete damals der Titel, der nun eine Art Zweitinszenierung erfährt. Ein Hautarzt namens Tripod erzählt darin, wie in einer vagen Zukunft erst alle fruchtbaren Frauen einer geheimnisvollen Seuche zum Opfer fallen und die überlebenden Männer versuchen, sich an eine Welt ohne Frauen anzupassen. Unter anderem stellt ein Mann eine Geburt nach, indem er ständig neue Organe wachsen lässt, die ihm dann aus seinem Körper entfernt werden.

Timlin (Kristen Stewart), Cope (Welket Bungué) und Wippet (Don McKellar) | © 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos

Während in der Erstauflage von 1970 die körperliche Veränderung notwendig scheint, weil eine Seuche alle fruchtbaren Frauen dahingerafft hat, handelt es sich nun nur um eine evolutionäre Spielerei, die KULTiviert wird. Denn Operationen gelten als »der neue Sex«, konsequenterweise schneiden sich Saul und Caprice zur Befriedigung gegenseitig mit Skalpellen die Haut auf.

»Sex ist bei Cronenberg überall, und zwar nicht als Metapher, sondern als buchstäblicher Trieb, der Männer wie Frauen dazu bringt, die dunkelsten Ecken lustvoll zu erkunden«, schrieb Spiegel-Filmkritikerin Hannah Pilarczyk in ihrer Kritik. Das gilt auch für sein neues Werk, das durchdrungen ist von einer flirrenden Spannung, die zwischen Anziehung und Befremden entsteht.

Timlin (Kristen Stewart) und Caprice (Léa Seydoux) | © 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos

In der body-positiven Szene der »biomorphologischen Konzeptkunst« wird Saul als subversiver »Künstler der inneren Landschaft« verehrt, dessen Körper der Katalog seiner Kunst ist. Weil der Organismus aber Organisation braucht, um Mensch bleiben zu können, wird sein Treiben von der staatlichen Registratur für neue Organe aufmerksam verfolgt. Schließlich soll die menschliche Evolution auch auf einem sterbenden Planeten nicht aus dem Ruder laufen. Dabei überschreiten die leitenden Beamten Timlin und Wippet – beide in ihrer schwer greifenden Faszination von Kristen Stewart und Don McKellar gespielt – immer wieder die Grenzen des Erlaubten und entwickeln eine obsessive Leidenschaft für Tensers Inszenierungen.

Die kunstvollen Happenings erregen aber auch die Aufmerksamkeit dunkler Mächte. Da ist zum einen eine Untergrundorganisation, an deren Spitze der von Scott Speedman verkörperte Hippie Lang Dotrice dafür kämpft, den menschlichen Körper an die zerstörte Umwelt anzupassen und damit das Überleben der Menschheit zu sichern. Auf der anderen Seite schaut die staatliche Ermittlungsbehörde New Vice Unit genau hin, deren skrupelloser Ermittler Cope, eindrucksvoll gespielt von »Berlin Alexanderplatz«-Shootingstar Welket Bungué, hinter der Körperkunst-Szene eine Verschwörung vermutet.

© 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos

Bei einer Performance tritt ein Mann mit Ohren am ganzen Körper auf, Augen und Mund sind zugenäht. Aus dem Off tönt eine Stimme, dass es Zeit sei, zuzuhören – in Verbindung mit dem Bild hat das eine überwältigende Wirkung. Auf den Happenings kursieren zunehmend Gerüchte über einen illegalen »Innere-Schönheit-Wettbewerb«, mit dem um Akzeptanz für die Neoorgan-Wesen geworben werden soll. Tenser aber geht es um Wut, um Rebellion und Ablehnung. Da kommt ihm ein ebenso unmoralisches wie verlockendes Angebot nur Recht.

All das ist packend inszeniert und umwerfend gespielt, dennoch fehlt dem Film die erschütternde Radikalität von Julia Ducournaus in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnetem Body-Horror-Meisterwerk »Titane«, das deutliche Referenzen zu Cronenbergs facettenreichen Spiel mit Body-Horror aufweist. Böse Zungen behaupten, dass Ducourneau den Preis stellvertretend für Cronenberg eingeheimst hat, der bislang keinen der großen Filmpreise gewinnen konnte.

Cronenbergs Film fasziniert vor allem dort, wo es nicht um die Handlung, sondern um die Inszenierung geht. Die Ausstattung ist einem Horror-Kabinett entnommen, passend zur Zeit ist sie ganz funktionsorientiert. Das gebärmutterartige OrchidBett passt sich der Liegeposition seiner Nutzer:innen an, der BreakFaster-Stuhl assistiert in seiner amorphen Form bei der Einnahme von Mahlzeiten und unterstützt durch Bewegungen das Kauen und die Verdauung. Upgedated wird das organische Lifestyle-Interieur mit einer »LifeFormWare«, bei der der Name Programm ist.

Timlin (Kristen Stewart), Saul Tenser (Viggo Mortensen), Wippet (Don McKellar) und Caprice (Léa Seydoux) | © 2022 SPF (Crimes) Productions Inc. & Argonauts Crimes Productions S.A., Photo Credit Nikos Nikolopoulos

Bei einer Performance liest man »Body is Reality« auf einem Screen, es bleibt aber bei der Behauptung dieser Körperpolitik. Denn wie genau diese dystopische Wirklichkeit aussieht, was die Menschen antreibt und ob sie nicht vielleicht doch etwas Liebe in sich tragen, bleibt in »Crimes of the Future« offen.

David Cronenberg: Crimes of the Future. Mit Viggo Mortensen, Léa Seydoux, Kristen Stewart. 107 Minuten. Weltkino Filmverleih.

Eine kürzere Fassung des Textes ist bereits im Rolling Stone erschienen.

1 Kommentare

  1. […] und Jean Genet eingebracht. Dabei steht dieses Literatur vor allem für sich selbst. Kathy Acker, William S. Burroughs und Bret Easton Ellis verehren ihn als letzten Outlaw der amerikanischen Literatur. […]

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