Die Edition »Jahrhundertstimmen« des Hörverlags versammelt nicht nur bekannte und unbekannte Perlen aus den Originalton-Archiven, sondern versteht es, durch die Einordnung der kundigen Herausgeber:innen, ihre Bedeutung im Kontext der Zeit aufzuzeigen.
In einer Zeit, in der künstliche Intelligenz problemlos jede Stimmlage imitieren kann, um Donald Trump feministische Liebesgedichte oder Olaf Scholz eine dröhnende Kriegserklärung in den gefakten Mund zu legen, verfolgt der Hörverlag konsequent ein Projekt, das echte Stimmen aus der Vergessenheit hebt und eine Bühne gibt. Dutzende Stunden kann man mit den Originalton-Editionen des Hamburger Hörbuch- und Hörspielverlags das Ohr auf die Schienen der Zeit- und Literaturgeschichte legen, um das dramatische 20. Jahrhundert in seinen verschiedenen Dimensionen zu verstehen.
Die Originalton-Editionen zur deutschen (Literatur-)Geschichte
Angefangen hatte das Originalton-Programm mit einer zehnstündigen Sammlung von »Lyrikstimmen«, die nichts weniger als ein Standardwerk der Spoken Poetry im deutschsprachigen Raum ist. Sie versammelt Originalaufnahmen von Lyriker:innen aus über einhundert Jahren, von Ilse Aichinger bis Stefan Zweig. Hier entfaltet sich das gesprochene Wort, gereimt, geschüttelt, gejamt und geslamt. Die von den großen Dichtern des 20. Jahrhunderts verfassten und vorgetragenen Zeilen tragen durch ein Jahrhundert – poetisch verdichtet, lyrisch gebrochen und rhythmisch sortiert.
Die Zeitenläufe rauschen und hallen in diesen Versen, die Sprache erhebt sich und singt, sie verstummt und verklingt, stolpert und springt – nie zufällig, sondern bedeutungsvoll gesetzt von Lyriker:innen wie Hugo von Hofmannsthal, Ricarda Huch, Kurt Schwitters oder Karl Kraus, von Gottfried Benn, Mascha Kaléko oder Ingeborg Bachmann, von Nelly Sachs, Marie Luise Kaschnitz oder Rose Auslaender, von Stephan Hermlin, Christine Lavant, Paul Celan oder Walter Hoellerer, Sarah Kirsch, Elke Erb oder Bert Papenfuß, Durs Grünbein, Volker Braun oder Friederike Mayröcker.
Natürlich fehlen in solchen Sammlungen immer einige Namen. Thomas Brasch oder Lutz Seiler sind zwei Namen, den man vermisst, noch mehr aber vor allem weiblich und migrantisch gelesene Poet:innen, wenn sich die Kollektion der Gegenwart nähert. Darauf, dass sich die mal sprachgewaltigen, mal empfindsamen lyrischen Stimmen von Autor:innen wie Monika Rinck, Uljana Wolf, Marion Poschmann, Nora Gomringer, Judith Zander, Brigitte Oleschinski, Dincer Gücyeter oder Farhad Showghi erheben, wartet man vergeblich.
Zugleich bieten die versammelten »Lyrikstimmen« wie auch die später zusammengestellten »Prosastimmen« eine gesamtdeutsche literarische Nabelschau, die die Literaturen aus Ost und West zusammenführt. In der deutschsprachigen Prosa tauchen natürlich Autor:innen wie Hermann Hesse, Alfred Döblin, Thomas Mann, Lion Feuchtwanger, Anna Seghers, Wolfgang Koeppen, Max Frisch sowie zahlreiche Vertreter:innen der Gruppe 47 auf, aber eben auch Walter Kempowski, Uwe Johnson, Günther de Bruyn, Reiner Kunze, Ulrich Plenzdorf, Wolfgang Hilbig, Julia Franck oder Clemens Meyer.
Im Lauf der über 50 Stunden vorgetragener Romanauszüge und Kurzgeschichten, Essays und Prosastücke begegnet man auch Lutz Seiler und Thomas Brasch sowie verkannten Genies wie Günter Kunert oder Jörg Fauser. Und doch fällt auch hier auf, wer es alles nicht in die deutsche Prosasammlung geschafft hat. Neben migrantische Autor:innen, von denen es nur Feridoun Zaimoglu in diese Sammlung geschafft hat, fällt insbesondere das Fehlen von Franz Kafka und Christa Wolf ins Auge.
Auf die Georg-Büchner-Preisträgerin stößt man erst im zweiten Teil der »Jahrhundertstimmen«, der vor wenigen Monaten erschienen und (als erstes Hörbuch überhaupt) für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominiert war. Da hört man, wie sie 1965 auf dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED ihre Stimme gegen die restriktive Kulturpolitik der DDR-Führung erhebt, die Schriftsteller »in eine Defensive drängt, wo sie immer nur beteuern können, „Genossen, wir sind nicht parteifeindlich.“«
Die beiden Hörbücher, die in 24 beziehungsweise 40 Stunden Original-Aufnahmen von politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interventionen zwischen 1900 und 1945 sowie 1945 bis 2000 versammeln führen aus dem Kaiserrein bis ins wiedervereinigte Deutschland. Dabei kann man umwerfende Aufnahmen wie die der Silvesteransprache des Bergwerksbesitzers Adolph Rechenberg, der sich über einen »seelenlosen Apparat« an seine Gäste wandte, um mit ihnen die Jahrhundertwende zu feiern. Sein durch Knistern und Knastern dringendes »Hört! Hört! Hört!« ist nicht nur Appell an die Hörer:innen dieser Edition, sondern ist als akustisches Crescendo Warn- und Weckruf zum Auftakt eines dröhnenden Jahrhunderts.
Was Bildbände für die Augen leisten, schafft diese zweigeteilte Edition für die Ohren: sie lässt uns erfahren, wie das 20. Jahrhundert geklungen hat. Sie ruft die Verdienste des Rundfunks in einer Zeit, in der er vielleicht seinen größten Umbruch erlebt, noch einmal in Erinnerung. So ist diese Sammlung auch eine Hommage an diese revolutionäre Technik, die Stimmen durch die Luft hat fliegen lassen, so dass sie jede:r hat vernehmen könne. Dabei dokumentiert die Sammlung Höhe- und Tiefpunkte der deutschen Geschichte, führt das hetzende Geschrei der Nazis ebenso vor Ohren wie die Berichte von Auschwitz-Überlebenden, die die BBC 1945 über den Äther geschickt hat.
Sie wie man kein:e Literaturwissenschaftler:in sein muss, um sich für die von Christiane Colorio, Michael Krüger und Hans Sarkowicz zusammengestellten Lyrik- und Prosastimmen zu begeistern, sind auch die »Jahrhundertstimmen« so angelegt, dass nicht nur Historiker:innen an ihnen Gefallen finden werden. Die Edition lässt das 20. Jahrhundert akustisch an einem vorbeiziehen. Da ist etwa die Rede des deutschen Kaisers Wilhelm II. zwei Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der Traum von einem Zusammenschluss der Völker durch den Rundfunk, wie ihn Hans Bredow in den zwanziger Jahren träumte, die Kulturkämpfe in der Weimarer Republik, die in zahlreichen Radiobeiträgen aufgezeigt werden, die apokalyptischen Brandreden der Nazis, unterbrochen von den euphorischen Berichten der Olympischen Spiele in Berlin, Thomas Manns Einwürfe aus dem Exil, die alles durchdringende politische Propaganda der Nazis, die das die Kriegsniederlage ankündigende Fluchen und Flehen von den Fronten übertönen sollte, den Kriegslärm – all das bringt der erste Teil dieser spektakulären Edition zum Klingen.
Der zweite Teil setzt direkt mit der Nachkriegszeit ein, etwa in einem Rundfunkfeature, in dem Menschen in Köln und Berlin auf der Straße befragt werden. Die politischen Ereignisse – von der Berlin-Blockade über den Aufstand am 17. Juni 1956, die Europäische Einigung, den Mauerbau, die Auschwitz-Prozesse, den Prager Frühling, die Studentenproteste und den deutschen Herbst, Nato-Doppelbeschluss, Aufrüstung, die Wende- und Nachwendezeit – werden in unzähligen Reden und Debatte eingefangen, finden sich aber auch in den kulturellen und geisteswissenschaftlichen Debatten der Zeit wieder. Soziale Fragen werden dabei ebenso diskutiert wie die großen Theorien.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten war für viele Wissenschaftler:innen verbunden mit Berufsverbot, Bedrohung und Verfolgung. Viele sahen sich gezwungen, Deutschland zu verlassen und zu versuchen, im Exil eine neue Existenz aufzubauen. In Interviews aus den Jahren 1959 und 1960 sprechen 35 Exilant:innen wie Hannah Arendt, Th. W. Adorno, Max Delbrück, Walter Gropius und viele mehr in den USA über die Gründe ihrer Vertreibung und den Neuanfang, über Fluchtwege und Helfer, über neue Hoffnung und Scheitern.
Unter dem Stichwort »Lebensformen« hört man Stimmen wie Walter Gropius, Ludwig Marcuse, Hannah Arendt und andere Intellektuelle, von denen einige auch in dem von Annette Vogt und Hans Sarkowicz herausgegebenen Hörbuch »Vertreibung des Geistes« zu Wort kommen. Dieses erweitert den Blick der »Jahrhundertstimmen« ebenso geistreich wie das ARD-weite Archivradio, das seit dem 1. April 2024 historische Tonaufnahmen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zur Verfügung stellt. Das Archivradio deckt einen Zeitraum von mehr als 160 Jahren ab, die Aufnahmen werden redaktionell ausgewählt und durch eine Ansage eingeordnet.
Die versammelten »Jahrhundertstimmen« gewinnen vor allem durch die einordnende und kommentierende Leistung ihrer Herausgeber:innen. Die Erklärungen des Historikers Ulrich Herbert, des Autors und Verlegers Michael Krüger und des Journalisten Hans Sarkowicz wird im zweiten Hörbuch von den Erläuterungen der Autorin Ines Geipel ergänzt, die vor allem die Hintergründe der ostdeutschen Debatten aufzeigt. Ohne die Heranführungen an oder die Nachworte zu den Originalaufnahmen dieser Expert:innen sowie der ordnenden Hand von Christiane Collorio, die schon die Zusammenstellung der literarischen Stimmen federführend verantwortet hatte, wären diese meist tragenden, ernsten und selten spielerischen »Jahrhundertstimmen« nur halb so viel wert.
Die Verbindung von O-Tönen und Einbettung in ihre Zeit, die in den beiden Hörbüchern herausragend umgesetzt wird, verlängert das Projekt einer deutsch-deutschen Geschichtsschreibung auf die auditive Ebene. Atmosphären, Stimmungen und Emotionen treten so viel deutlicher zu Tage als in den schriftlichen Archiven dieser Welt. Zugleich bekommen diese Aufnahmen eine im besten Sinne literarische Kraft, weil sie eine Imagination der Verhältnisse ermöglichen, wie es sonst nur herausragende Fiktionen leisten können. Diese phänomenale Edition mit knisternden, knackenden und rauschenden Aufnahmen macht zumindest vorübergehend eine Zeitzeugenschaft für die Ohren möglich. Mehr kann man nicht erwarten.
»Die Wahrheit ist für den Menschen zumutbar«, sagte Ingeborg Bachmann 1959 in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden für ihr Hörspiel »Der gute Gott von Manhattan«. Im Zeitalter von KI und Fake News ist die Wahrheit dem Menschen nicht nur zumutbar, sondern unabdingbar. In der mehrfach ausgezeichneten Edition der »Jahrhundertstimmen« wird diese Wahrheit auf der Tonspur ausgerollt.