Anthologie, Literatur

Keine Exil-Autor:innen

Seit 2017 schreiben Autor:innen, die aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen sind, Briefe, Erzählungen und Gedichte über ihre alte und neue Heimat, über das Weggehen und das Ankommen. Bei »Weiter Schreiben« denken sie gemeinsam mit deutschen Schriftsteller:innen über ihr Leben und Schreiben nach, entwickeln Texte und Stimmungen. Zum fünfjährigen Jubiläum des Projekts erscheint ein fast zehnstündiges Hörbuch, das beweist, das Literatur ein Überlebensmittel ist. Kurz vor der großen Release-Party konnte ich mit Annika Reich, der künstlerischen Leiterin des Projekts, über die Bedeutung persönlicher Begegnungen, das Ankommen in der deutschen Literaturlandschaft und die traurige Seite des Projekts sprechen.

Annika, nimm mich bitte fünf Jahre mit zurück. Wie kam es damals zu »Weiter Schreiben«?
Vor zehn Jahren habe ich mit der Malerin Katharina Grosse einen feministischen Zirkel gegründet. Viele von uns haben 2015 am Berliner LAGeSo ankommenden Geflüchteten geholfen. Wir haben dann gemeinsam beschlossen, den Verein WIR MACHEN DAS zu gründen und Projekte zu machen, die zeigen, dass es möglich ist, unsere Welt zu teilen. Ich wollte ein Projekt mit Schriftstellerinnen machen. Ines Kappert vom Gunda-Werner-Institut in der Böll-Stiftung kannte einige syrische Autorinnen, die die Syrien-Tagebücher in der taz schrieben. Die haben wir dann gefragt, was sie brauchen und wollen. Und alle haben gesagt: Wir wollen weiterschreiben.

Und dann kamst Du direkt auf die Idee, Exil-Autor:innen und deutschsprachigen Autor:innen zusammenzubringen?
Nicht direkt. Durch ein anderes Projekt habe ich erfahren, wie viel Misstrauen unter Geflüchteten herrschte. Wir wollten bei MEET YOUR NEIGHBOURS Geflüchtete mit Menschen aus ihren neuen Nachbarschaften zusammenbringen und hingen mehrsprachige Plakate aus. Aber niemand kam. Ich fragte dann in den Unterkünften, was das Problem sei und bekam zur Antwort: Wir kennen euch gar nicht. Woher sollen wir wissen, dass wir euch trauen können? Da wurde mir klar, dass das Projekt sehr eng an persönliche Verbindungen geknüpft, aber auch nachhaltig und langfristig angelegt sein muss. Die Tandems boten einerseits die Chance einer solchen persönlichen Beziehung. Andererseits waren sie ein gutes Werkzeug, öffentlich Interesse zu schaffen. Denn wenn der berühmteste jemenitische Lyriker im Literaturhaus liest, interessiert das leider wenige Menschen. Wenn dieser Lyriker aber mit bekannten deutschsprachigen Autor:innen auftritt, ist das schon viel interessanter.

»Weiter Schreiben« bringt seit fünf Jahren Autor:innen aus Kriegs- und Krisengebieten mit renommierten deutschen Schriftstellerinnen zusammen. Wie findet ihr die Beteiligten?
Ich habe anfangs 17 deutschsprachige Autor:innen angeschrieben, 16 hatten innerhalb von wenigen Tagen zugesagt. Inzwischen habe ich eine ganze Liste mit Autor:innen, die mitmachen wollen. Das ist ein Selbstläufer. Bei den Exil-Autor:innen ist es unterschiedlich. Wir haben eine syrische Kuratorin, die syrische Autor:innen gefunden und angesprochen hat. Die haben uns dann wiederum andere syrische Autor:innen empfohlen. Bei Autor:innen aus anderen Ländern wie Irak, Jemen oder Afghanistan war und ist es schwierig. Da gibt es viel Misstrauen. Für einige afghanische Autor:innen war und ist es zu gefährlich, sich zu organisieren, weil sie nicht wissen, wem sie vertrauen können.

Wäre es nicht leichter gewesen, geflüchteten Autor:innen einfach eine Plattform zu geben, um weiter zu schreiben?
Natürlich hätten wir auch einfach nur Texte übersetzen und publizieren können, aber wir wollten auch eine Öffentlichkeit schaffen. Wir wollten den Diskurs in Deutschland verändern. Menschen, die hierher geflohen sind, sollten zu Wort kommen. Und dafür brauchten wir Menschen, die Türen öffnen und öffentlichkeitswirksam die Trommel rühren können.

Die Tandems sind ein durchaus anspruchsvolles Konstrukt, auch dabei braucht es Vertrauen. Wie stellt Dein Team die Tandems zusammen?
Wir überlegen uns im Team, wer gut mit wem zusammenpasst. Da geht es mal nach Genre, dann ist wieder der Wohnort ausschlaggebend. Oft ist es aber eine Entscheidung aus dem Bauch heraus, wenn ich denke, das könnte passen. Denn das ist das A und O. Wenn sich die zwei Menschen nicht mögen, entsteht nichts.

Weiter Schreiben – Literarische Begegnungen mit Autorinnen und Autoren aus Krisengebieten

Weitermachen, Weiterreden, Weiterschreiben. Das ist der dringliche Appell, den die Texte dieses Bandes senden. Die Anthologie »Das Herz verlässt keinen Ort, an dem es hängt« versammelt Gedichte und Prosatexte, in denen es um Erinnerung und Vergegenwärtigung, Häuser und Wolfsherzen, Verlust und Identität, Liebe und Begehren, Kühlschränke und Küchentische, Hoffnungen und Enttäuschungen. Alle Texte bieten berührende Einblicke in die Biografien der Autor:innen und ihre Vorstellungswelten, die sie mit ihren deutschen Tandempartern, unter ihnen Nino Haratischwili, David Wagner und Saša Stanišić, diskutieren.

Das heißt, Du stehst mit allen Beteiligten vorher in Kontakt?
Es gibt Tandems wie Ahmad Katlesh und Ulrike Almut Sandig, die ich letztes Jahr zusammen gebracht habe. Beide haben schon beim ersten Treffen gesagt, dass sie etwas zu Stimme, Tanz und Performance machen wollen und sofort losgelegt. Bei Annett Gröschner und Widad Nabi war es anders. Diese Begegnung hat mich von Beginn an beeindruckt. Auch weil sich beide getroffen haben, ohne sich verständigen zu können. Ihnen fehlte eine gemeinsame Sprache. Annett Gröschner ist dann mit Widad Nabi durch den Prenzlauer Berg gegangen und hat ihr Orte gezeigt, die ihr wichtig sind, ohne dass sie darüber sprechen konnten. Danach haben beide Texte über diese Spaziergänge geschrieben und konnten sich so einander nähern. Inzwischen machen sie viele Projekte zusammen. Ein drittes Beispiel ist Monika Rinck, die in ihren Tandems sofort angefangen hat, mit englischen Wörterbüchern hin und her zu übersetzen. Nino Haratischwili hat Lina Atfah nur einmal gesehen, bevor sie ihr einen Preis verliehen hat. Damit verbunden war eine gemeinsame Veröffentlichung, auch so etwas entsteht. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie eine solche Zusammenarbeit blühen kann.

Lena Gorelik stellt in ihrem Text fest, dass es schwierig ist, sich in einer dritten Sprache über Literatur zu verständigen. Wie funktionieren diese Gespräche?
Yamen Hussein und Lena Gorelik konnten kommunizieren, weil Yamen schon ziemlich gut Deutsch sprach. Da beide in München wohnten, haben sie sich öfter getroffen. Aber seine Literatur, über die sie sprachen, war auf Arabisch. Sich darüber auf Deutsch zu verständigen, ist nicht einfach. Wir haben auch einige Tandems, die immer eine Übersetzung brauchen. Viele basieren auf Briefwechseln, meines Erachtens das beste Format für diese Tandemarbeit, weil die Interaktion sehr direkt ist. Deshalb haben wir das Programm (W)ORTWECHSELN ins Leben gerufen, bei dem sich die Tandems per Mail, Brief oder Postkarte schreiben, was ihr Leben und ihre Literatur beeinflusst. Alle, die diese Briefe geschrieben haben, haben sich noch einmal ganz anders angenähert. Die Afghanistan-Briefe vor und nach der Machtübernahme der Taliban zwischen Marica Bodrožić in Deutschland und Batool in Afghanistan sind zum Beispiel einfach nur überwältigend. Batool ist Hazara, hat die Frauenproteste in Kabul mit organisiert und arbeitet als Psychologin für Transpersonen. Sie ist mehrfach geflohen, musste untertauchen und verhindern, dass ihr Sohn von den Taliban rekrutiert wurde. Sie hat Dinge erlebt, die kann man sich nicht vorstellen. Einen Brief hat sie aus dem Taxi auf der Flucht geschrieben. Batool und Marica haben auf eine Art und Weise Kontakt gehalten, die mich extrem beeindruckt hat. Später sagte uns Batool, dass die Briefe ihr Anker waren. Sie schrieb, solange da draußen noch jemand meine Briefe liest, bin ich nicht tot.

Der Briefwechsel hat mich auch stark beeindruckt.
Man kann es sich nicht vorstellen, welche Bedeutung so ein Austausch haben kann, aber ich höre das immer wieder. Rabab Haidar, die anfangs noch in Syrien war, hat uns berichtet, dass sich in dem Moment, als sie sich mit Ulla Lenze auszutauschen begann, eine Art immaterieller Schutzraum um sie gebildet habe. Ich glaube, das hat etwas damit zu tun, dass das Schreiben ein Teil der Identität ist. Ich bin Schriftsteller:in, ich bleibe gesehen und lebendig. Und ich bin nicht nur Opfer von Assad oder den Taliban, sondern ich bin auch Schriftsteller:in und werde dafür bezahlt, dass ich etwas schreibe.

Wie wirkt der Austausch auf der anderen Seite?
Bei den Lesungen erfahren wir immer wieder, dass die Zusammenarbeit gleichermaßen in beide Richtungen wirkt. »Weiter Schreiben« ist kein Mentoring, sondern ein Austausch. In den wenigen Fällen, in denen Autor:innen das als Mentoring missverstanden haben, ist das nicht lange gut gegangen. Der Umstand, dass die Exil-Autor:innen hier unbekannt sind, heißt ja eben überhaupt nicht, dass sie Hilfe beim Schreiben brauchen. Ganz im Gegenteil, viele der sehr guten Autor:innen haben bislang kaum veröffentlicht – nicht weil sie schlecht sind, sondern weil sie in ihren Ländern aus politischen Gründen nicht veröffentlichen durften oder konnten. Interessant fand ich in dem Zusammenhang, dass mir anfangs oft erzählt wurde, dass die syrischen Autor:innen, die in Syrien bekannt waren, oft Profiteure des Systems gewesen seien.

Wie schließt man denn aus, dass so jemand ins Projekt rutscht?
Wir machen immer eine literarische und eine politische Prüfung, damit wir nicht plötzlich jemanden fördern, der pro-Regime ist. Wir holen uns dann die Expertisen von drei verschiedenen Personen ein. Das sind oft Übersetzer:innen oder unsere Kurator:innen, die recherchieren, andere Autor:innen befragen, Social-Media-Accounts checken und so weiter. Und dennoch kann man nie einhundertprozentig sicher sein. Wir hatten einmal eine in Syrien lebende Autorin, die nachdem unsere politische Begutachtung schon abgeschlossen war, die Seiten gewechselt hatte, ohne das wir das mitbekommen haben. Sie hatte den Chefredakteur einer regimetreuen Zeitung geheiratet. Wir merkten dann, dass sich in der Community etwas zusammenbraute. Das war wirklich heikel. Wir haben uns dann natürlich von der Autorin getrennt.

Ein Hörbuch der besonderen Art

Fast zehn Stunden füllen die interkulturellen und intellektuellen Begegnungen der Autor:innen, die aus dem Alltag reißen, die die Gegenwart einfangen und vielsprachig das Wort feiern. Die bewegen und berühren, aufwühlen und erschüttern, die klüger, aber auch nachdenklicher machen. Die über die Akustik den Geist forttragen, den Blick weiten und das Ohr zur Welt hin öffnen.

»Weiter Schreiben – (W)Ortwechseln« erscheint nun als Hörbuch mit Musikeinspielungen. Warum genau Hörbuch?
Wir sind begeistert von der Art und Weise, auf welchem Niveau viele der Autor:innen rezitieren können. Das ist im arabischen Sprachraum eine ganz eigene Kunst und Tradition. Wir fanden es außerdem wichtig, dass man diese Sprachen im Original hört. So eine verfemte Sprache wie das Arabische in einem künstlerischen Kontext zu hören, macht was mit den Zuhörenden. Das ist ein Vergnügen, das wir festhalten wollten. Da tönt etwas durch. Das erleben wir auch bei den Lesungen. Teilweise werden zehn Minuten lang Texte auf Arabisch oder Persisch gelesen. Zwei Drittel der Gäste verstehen kein Wort, aber man sieht, wie sie dieses akustische Erlebnis genießen.

Im Untertitel steht »Literarische Begegnungen mit Exil-Autor*innen«. Manche der Autor:innen sind in ihren Heimatländern und schreiben von dort. Was für ein Verständnis von Exil steht dahinter?
Das ist tatsächlich nicht trennscharf. »Exil-Autor:innen« ist ohnehin ein problematisches Wording. Viele Autor:innen lehnen dieses Label ab. Sie wollen syrische, afghanische, kurdische oder irakische Autor:innen sein, keine Exil-Autor:innen. Mit so einem Stempel fühlen sie sich auf die Flucht reduziert. Wir wollen zeigen, dass es diesen Bruch gab, aber auch zeigen, dass es eine literarische Kontinuität gibt und an das Werk anschließen. Gleichzeitig brauchen wir als Projekt aber ein Wort, mit dem wir erklären können, was wir machen. Wir sprechen oft über dieses Dilemma, dass wir ein Label schaffen, das eigentlich nicht gewollt, aber notwendig ist. Ich habe dafür noch keine Lösung.

Hörprobe aus dem Briefwechsel von Batool und Marica Bodrožić

Du bist auf dem Hörbuch zwar nicht vertreten, aber als künstlerische Leitung immer mit allen in Kontakt. Was machen diese Begegnungen mit Dir und Deinem Schreiben?
Mir hat es zunächst im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlagen. Ich konnte den Raum des Schreibens für mich nicht mehr aufrechterhalten. Mir kam mein Schreiben nicht mehr relevant genug vor. Dann gab es einen Moment, da bin ich fast geplatzt. Ich habe ein Coaching gemacht und mir lauter Regeln gegeben. Das hat erstaunlich gut funktioniert. Und dennoch erschüttert mich diese Arbeit in meinem Selbstverständnis als Deutsche, als Europäerin, als privilegierte Person. Deshalb bin ich froh, dass ich diese Arbeit machen kann. Sie hat mein Leben auf den Kopf gestellt und bereichert.

Wie wichtig ist es, neben dem Existenziellen auch das Schöne und Leichte zum Klingen zu bringen?
Sehr wichtig. Wenn wir uns treffen, sprechen wir genauso oft über Filme und Musik, die Liebe oder das Essen wie über die extremen Schwierigkeiten, in denen die meisten der Autor:innen sich immer noch befinden. Das verläuft in Wellen. Eine Zeitlang läuft alles gut und dann kommt wieder ein schrecklicher Termin bei der Ausländerbehörde, beim Jobcenter oder eine weitere Katastrophe im Herkunftsland. Es ist oft genug existenziell. Dazwischen braucht es Ruhephasen. Exil-Autor:innen sind keine Nachrichtenagenturen ihres Landes, sie wollen wie alle anderen Menschen auch witzig sein dürfen oder übers Kochen reden. Vor Corona haben wir oft gemeinsam gekocht und viel Zeit miteinander verbracht. Das war wichtig, denn es geht letztendlich immer wieder um Vertrauen, selbst beim Lektorat.

Wieso beim Lektorat?
Am Anfang hatten wir empörte Autor:innen am Telefon, die das Lektorat als Zensur empfunden haben. Die haben uns und den Lektor:innen gesagt, dass wir unsere Finger aus ihren Texten nehmen sollen. Da habe ich mich mit jeder einzelnen Autorin und jedem einzelnen Autor hingesetzt und bin die Texte mit ihnen Zeile für Zeile durchgegangen. Das war natürlich ungemein zeitintensiv, aber das brauchte es, um Vertrauen aufzubauen. Bei Autor:innen aus dem Irak oder Afghanistan ist das nicht ganz so extrem, aber für syrische Autor:innen ist das Lektorat eine spezielle Geschichte.

Weiter Publizieren

Seit 2019 erscheint das Magazin einmal im Jahr – dank des THE POWER OF THE ARTS Preises, mit dem »Weiter Schreiben« 2018 ausgezeichnet wurde. In der ersten Ausgabe ging es um »Häuser – Gärten – Ruinen«, in der zweiten um »Hühner – Katzen – Messenger«, die dritte widmet sich unter dem Titel »Salzt uns!« der Kulinarik. Das Magazin ist ein Ort, an dem Autor:innen und Künstler:innen aus Kriegs- und Krisengebieten weiter schreiben, weiter publizieren, weiter gelesen und gesehen werden können – auf schönem Papier, schön gestaltet und einem bestimmten Thema gewidmet.

Eine der syrischen Autor:innen ist Rabab Haidar, mit der Du für Euer Magazin über die Veränderung von Tiermetaphern in der syrischen Literatur gesprochen hast.
Ich fand das wahnsinnig interessant. Sie hatte mir bei einem Essen beiläufig gesagt, dass in einem Text, den wir gerade veröffentlicht hatten wieder so ein zerzauster, postrevolutionärer Wolf aufgetaucht sei. Da hab ich gestutzt und gefragt, was sie damit meint. Sie erklärte mir, dass die Wölfe in der Literatur seit dem Krieg ganz anders aussehen würden. Und nicht nur die Wölfe, sondern auch die anderen Tiere. Und mit ihnen das Frauenbild. Kaum eine syrische Autorin würde heute noch von Gazellen oder Tauben schreiben, wenn sie eine Frau beschreiben wollte. Rabab Haidar zum Beispiel arbeitet jetzt viel mit dem Bild der Wölfin. Die Sprache verändert sich nach gesellschaftlichen Eruptionen enorm.

Saša Stanišić spricht in seinem Beitrag auf dem Hörbuch über das Lachen, das man aus diesen Begegnungen hinaus in die Welt tragen sollte. Musstet ihr eine Balance zwischen Schmerz und Leichtigkeit, Tränen und Lachen finden?
Nein, das passiert von alleine. Dieser Balanceakt ist in jeder Lesung anwesend. Einerseits ist da eine Neugier an authentischen Erlebnissen im Publikum, andererseits wollen wir, dass es nicht die ganze Zeit um Krieg und Unterdrückung geht. Denn in den Texten geht es auch um Erotik oder Heinrich Böll. Uns ist wichtig, dass die Autor:innen nicht auf ihr Schicksal und ihre Erlebnisse festgenagelt werden. Deswegen moderieren wir fast alles selbst oder mit sehr vertrauten Moderator:innen.

Es gibt Tandems, in dem alle Beteiligten Fluchterfahrung haben. Etwa das Tandem von Saša Stanišić und Salma Salem. In anderen Konstellationen ist auf der deutschsprachigen Seite zumindest die Erfahrung von Migration und Fremdheit vertreten, etwa bei Abdalrahman Alqalaq und Katerina Poladjan, Samuel Mágó und Olga Grjasnowa oder Lina Atfah und Nino Haratischwili. Passiert in diesen Konstellationen noch einmal etwas Anderes?
Es geht vielleicht weniger schief, auch weil da ein tieferes Verständnis für die Situation existiert. Ich wusste zum Beispiel von Anfang an, dass ich Batool nur mit einer Autorin zusammenbringen kann, die wirklich weiß, was es bedeutet, in Gefahr zu sein. Ich musste jemanden finden, sehr feinfühlig ist und den Kontext Krieg kennt– und zwar nicht nur theoretisch. Da kam mir Marica Bodrožić in den Sinn.

Lagst Du mit Deinem Bauchgefühl auch mal daneben?
Ja natürlich. Ich mache das seit fünf Jahren, aber mache immer noch viele Dinge falsch. Zum Glück haben wir syrische Kolleginnen im Team wie die Autorin und Kuratorin Dima AlBitar Kalaji, die mir dann erklären, was ich falsch verstanden habe, was mir bei aller Einfühlung an Erfahrung fehlt. So wollte ich zum Beispiel eine Autorin nach Berlin einladen, die gerade erst nach Frankreich geflohen ist. Dima war dagegen und erklärte mir, dass die Autorin gerade erst aus ihrem Land rausgekommen war und allein der Grenzübertritt von Frankreich nach Deutschland Panik auslösen könnte. Auf die Idee wäre ich gar nicht gekommen. Aber es war dann absolut einleuchtend. Nicht nur deshalb bin ich froh, dass wir Syrerinnen im Team haben, die mich bei meiner Arbeit unterstützen.

Daniela Droescher und Freshta Ghani tauschen sich darüber aus, warum schreibende Frauen so gefährlich sind. Nimmst Du das Projekt auch als ein feministisches Projekt wahr?
WIR MACHEN DAS ist von der Haltung her intersektional feministisch. Wir sind ein weiblich geführtes Team und suchen ganz gezielt zuerst nach Autorinnen. Das ist unser Fokus, aber wir sind da nicht starr. Wenn wir einen tollen Autor finden, dann ist der uns willkommen. Aber wir versuchen schon, Frauen stärker zu fördern, weil sie es schwerer haben und hatten.

Bei »Weiter Schreiben« geht es auch darum, auf Deutsch zu publizieren und in der hiesigen Literaturwelt anzukommen. Wie kommen die Verlage hier ins Spiel?
Mit den Verlagen läuft es fantastisch. Ungefähr die Hälfte unserer Autor:innen haben inzwischen Buchverträge oder erscheinen demnächst. Natürlich geht immer noch mehr, aber ich hätte nie gedacht, dass es so gut funktioniert. Als wir angefangen haben, haben uns die Übersetzer:innen aus diesen Sprachen völlig verzweifelt gesagt: Vergesst es. Wir versuchen seit Jahrzehnten, die besten arabischen Autor:innen hier unterzubringen, aber wir schaffen es einfach nicht. Dass uns das jetzt gelingt, hat, glaube ich, ganz wesentlich mit dem Tandem-Prinzip zu tun. Wenn die Tandempartner:innen zu ihren Verlagen gehen oder ein Vorwort oder Nachwort schreiben, dann ist das schon anders eingebettet. Im Herbst erscheint zum Beispiel von dem hoch talentierten, jungen syrischen Dichter Sam Zamrik das Debüt bei Hanser Berlin. Das ist schon eine tolle Geschichte. Da haben vier oder fünf der anderen Tandempartner:innen mit übersetzt. Und wenn Autor:innen wie Monika Rinck, Nora Bossong, Ulf Stolterfoht und Sylvia Geist mit übersetzen und man mit diesen Namen zu einer Agentur und die dann zu einem Verlag geht, ist das schnell eine andere Nummer.

»Eine poetische Zumutung«

Ob in Damaskus oder in Berlin, egal in welcher Sprache – Schreiben ist für Sam Zamrik überlebenswichtig. Mit seinem im Oktober erscheinenden Gedichtband stellt sich ein Lyriker vor, der durch viele Höllen geschritten ist und fast alles verloren hat, bis hin zur eigenen Identität. Den Verlusten steht ein unantastbarer Reichtum gegenüber: eine Sprache, die viele Tonlagen kennt, von Hohelied-Feierlichkeit bis zu Heavy-Metal-Härte. In mal barocken, mal lakonischen Bildern findet Zamrik Ausdruck für Krieg und Flucht, für Heimatlosigkeit und Einsamkeit, das Nichtvorkommen und Nichtgesehenwerden.

In der hiesigen Literaturwelt ankommen hieße auch, zu Wettbewerben wie den Bachmanntagen eingeladen zu werden. Oder Preise auszuloben. Wünschst Du Dir hier mehr Engagement der etablierten Literaturstrukturen?
Bei den Buchmessen waren wir schon öfter vertreten, aber auch da haben wir wieder dieses Labeling-Problem. Wenn wir bei der Buchmesse die Exilliteratur vertreten sollen, sind viele unserer Autor:innen nicht gern dabei. Die Probleme liegen meines Erachtens aber auch woanders. Unseren Autor:innen werden einfach unheimlich viele bürokratische Steine in den Weg gelegt, so dass es sehr schwierig ist, ein Leben mit dem Schreiben aufzubauen. Selbst die, die in renommierten Verlagen veröffentlichen, haben immer noch das Problem, dass sie vom Jobcenter irgendeine Fortbildung aufgebrummt bekommen oder keine Wohnung finden. Diese Alltagsprobleme bleiben, die beseitigt keine Literaturförderung.

Literaturförderung beseitig leider auch keine Kriege. Wie schlägt sich der brutale Krieg in der Ukraine bei »Weiter Schreiben« nieder?
Wir haben gerade mit »Weiter Schreiben Mondial« ein neues Projekt gestartet. Da schreiben sich Autor:innen in Krisen- und Kriegsgebieten Briefe mit geflohenen Autor:innen, die in Deutschland leben. Also die Exil-Autor:innen aus dem »Weiter Schreiben«-Projekt bringen wir mit Autor:innen aus Burkina Faso, Angola, Iran, Ägypten oder Belarus zusammen. Und wir haben entschieden, in dieses Projekt vier ukrainische Autorinnen aufzunehmen. Das Traurige an unserem Erfolg ist ja: Mit jeder Krise wird die Liste der Autor:innen, die in unser Projekt wollen, länger. Auf der stehen auch viele türkische und kurdische Autor:innen, Autor:innen aus Belarus, Russland und Polen.

Ich nehme angesichts der existenziellen Bedrohung in der Ukraine auch so etwas wie eine Radikalisierung von Autor:innen wahr. Wie geht Ihr im Projekt mit radikalen Ansichten um? Und auch hier sehe ich schon das Warnschild Zensur leuchten.
Das ist natürlich eine sehr heikle Frage. Wir sind bisher nur einmal oder zweimal an den Punkt gekommen, wo wir einen Text nicht veröffentlicht haben, weil wir den nicht verantworten oder mit dem wir nicht umgehen konnten.

Der Syrer Fady Jomar schreibt an Ulrike Almut Sandig: »Ich pflanze unsere ins Exil geschickten Sämlinge ein.« Ist es das, was Weiter Schreiben sein will, ein fruchtbarer Boden, auf dem etwas blühen kann?
Es geht nicht ums Geben, sondern darum, dass wir die Räume, die uns zur Verfügung stehen, teilen. Wir sind also nicht die Erde, sondern eher ein Türöffner. In den ganzen hierarchischen Ebenen des Gebens oder des Ermöglichens gibt es so viele Fallstricke, die die wir alle stark reflektieren. Ich habe zum Beispiel nie das Gefühl, dass ich etwas gebe und nichts zurückbekomme. Ganz im Gegenteil, diese Arbeit hat mein Leben unglaublich bereichert.

Was wünscht Du Dir für das Projekt in den nächsten fünf Jahren?
Der größte Wunsch wäre, dass es das Projekt nicht mehr geben muss. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Also wünsche ich mir, dass wir uns wieder mehr sehen und zusammen sein können. Vielen ging es nicht gut in der Pandemie-Zeit. Das Eingesperrt-Sein zu Hause hat einige an Situationen erinnert, die traumatisch waren. Und ich wünsche mir, dass sich mit der neuen Regierung auch die Art und Weise, wie mit geflüchteten Syrer:innen oder Afghan:innen umgegangen wird, verbessert. Ich wünsche mir, dass die Politik dafür sorgt, dass Menschen aus Syrien, Afghanistan, Irak und anderen Ländern hier einfacher ankommen können.

Annika, vielen Dank für das Gespräch.

Weiter Schreiben – (W)Ortwechseln. Mit Saša Stanišić, Salma Salem, Ali Abdollahi, Max Czollek, Dima Al-Bitar Kalaji, Julia Schoch, Ulrike Almut Sandig, Fady Jomar, Tanja Dückers, Galal Alahmadi, Lena Gorelik, Yamen Hussein, Nora Bossong, Rasha Habbal, Kristine Bilkau, Omar Al-Jaffal, Olga Grjasnowa, Samuel Mago, Rabab Haidar, Ulla Lenze, Nino Haratischwili, Lina Atfah u.v.a., der Hörverlag, 9 Std. 51 Min. 27,00 Euro. Hier bestellen.

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