Literatur, Roman

Dem Weltgeist auf der Spur

Die Reporterin Gabriele Riedle hat einen weiblichen Abenteuerroman über die Abgründe des erzählenden Journalismus geschrieben. Ihr Roman »In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg.« handelt vom Tod des Fotoreporters Tim Hetherington und dem gefährlichen Leben als Krisenreporterin.

Kurz bevor der britische Fotograf Tim Hetherington 2011 in Libyen von einer Granate zerfetzt wurde, twitterte er: »In der belagerten libyschen Stadt Misrata. Rücksichtsloses Granatfeuer durch Gaddafis Streitkräfte. Von der NATO nichts zu sehen.« Man muss nicht viel verändern, um diesen Tweet auf die aktuelle Situation in der Ukraine umzuschreiben. Dort sind bis Anfang April bereits fünf Journalisten getötet worden.

Hetheringtons Tod ging um die Welt und in Gabriele Riedles Roman läuft alles auf diese Ereignisse zu. Die 1958 in Stuttgart geborene Reporterin ist viele Jahre für das Geo-Magazin durch die Welt gereist, um den Menschen in Deutschland zu erklären, was in Krisengebieten wie Afghanistan, Südafrika, Liberia oder Libyen vor sich geht. Die Erfahrungen, die sie dabei gemacht hat, sind in ihren vierten Roman eingeflossen.

Darin erzählt eine namenlose Ich-Erzählerin von ihrem Leben als Krisenreporterin. Von ihrer kleinen Wohnung in Berlin bricht Riedles Alter Ego immer wieder auf, um das Wehen und Walten des Weltgeists in Kabul, Port Moresby, Monrovia, Lagos oder Tripolis zu beobachten. Dabei wird sie mit preisgekrönten Fotografen wie Tim (Hetherington) oder einem gewissen Johan van Hengherr (der wohl eher eine literarische Figur ist) für unbestimmte Zeit zusammengewürfelt, um »In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg« den Geschichten hinter den Schlagzeilen auf den Grund zu gehen.

Gabriele Riedle: In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. Eine Art Abenteuerroman. Die Andere Bibliothek 2022. 264 Seiten. 44,00 Euro. Hier bestellen

Ausgangspunkt ihrer eigenen Weltsehnsucht ist ihr alter Diercke-Weltatlas, der die vom Ende des Kalten Krieges und dem Siegeszug der Globalisierung geprägte Welt schon lange nicht mehr abbildet. Und doch enthält er noch viel von dem, was die Welt heute in ihrer Tiefe prägt. Geologische Informationen, Verkehrswege oder kolonialistische Strukturen. Wie also diese weiterhin gültigen Informationen mit denen der neuen Welt zusammenführen? Vielleicht, indem man die zweidimensionalen Karten zusammenknüllt, denn »dann rückten gewisse Orte zusammen und andere verschwinden in den Knicken und Falten des Papiers«.

Vielleicht sind Journalist:innen heute so etwas wie Kartenzerknüller:innen bei der Firma Diercke. Sie bereisen zweidimensionale Terrains und suchen nach den weiteren Dimensionen, die Erklärungsansätze dafür liefern, warum die Karten allein nicht mehr aussagekräftig sind. Sie begegnen Menschen, führen Gespräche, gehen Erfahrungen und Erlebnissen auf den Grund. So auch Riedles Alter Ego.

In Kabul etwa begegnet sie einem Sohn des ehemaligen afghanischen Königs, der sich als Fotograf verdiente. Unter den Steinzeitislamisten eine verbotene Tätigkeit, weil die Engel keinen Raum mit bildlichen Darstellungen betreten. Für Ausweispapiere sind Fotos aber unerlässlich, weshalb die Taliban diesen königlichen Fotografen »gezwungen hatten zu tun, was getan werden musste, auch wenn es nicht getan werden durfte«. Die Ich-Erzählerin besucht ihn mit ihrem Übersetzer in seinem Nicht-Studio, das Porträt, das dabei entsteht, ist eine Verneigung vor der afghanischen Porträtkunst, die die Kunst von Michelangelo, Robert Capas Kriegsfotografie und das formale Passbild miteinander verbindet.

In Inguschetien trifft die Erzählerin auf die temperamentvolle Aisha, die mit dem Groß-Imam verheiratet ist, und erfährt, wie deren Mann ins Visier von Wladimir Putin und dessen Bluthund Ramsan Kadyrow geraten ist, weil er in seinen Freitagspredigten vom Frieden im Kaukasus träumt. Im liberischen Dschungel spricht sie mit einem ehemaligen Kindersoldaten, den sie General Nacktarsch nennt. Als Teil von Charles Taylors irren Kindertruppen zog er stets nackt in den Kampf. Vor jedem Kampf brachte er den Geistern ein Menschenopfer, am liebsten Kinder. Inzwischen lässt sich Nacktarsch, der »einst leider, leider die Befehle vom Teufel höchstselbst entgegengenommen hatte« im Land als geläuterter Hippie und Prediger feiern.

Es sind solche Geschichten, die Riedle als Reporterin gesammelt hat. In ihrem Roman, der im Untertitel als »Eine Art Abenteuerroman« angepriesen wird – eine Anspielung auf den Unterhaltungsfaktor, auf den Krisenjournalisten in ihren Berichten immer wieder achten sollten – reiht sie sie in einem schier atemlosen Rhythmus aneinander. In vier Kapiteln, die grob gesagt in verschiedene Weltregion führen, taucht sie ein in das Dasein als Krisenreporterin. Die Unfassbarkeit der Wirklichkeit, die ihr dabei begegnet, lässt sie dabei immer wieder in Sätzen anklingen, die kein Ende finden oder mit … enden.

So reihen sich diese Anekdoten zu einer »Rhapsodie der von allen möglichen Abfallhaufen zusammengeklaubten Lumpen«. Sie repräsentieren die Sensationsgier der sich hinter Glasfassaden verschanzenden Auftraggeber, bei denen Joseph Conrads Reise ins »Herz der Finsternis« als das Nonplusultra des Krisenjournalismus gelte, berichtete Riedle bei der Buchvorstellung in Berlin. Die Leser:innen, der Markt brauchten schließlich »Zuversicht in diesen schwierigen Zeiten«, »helle Bilder statt dunkle und leuchtende Farben selbst aus den finstersten Gebieten«, mahnt der namenlose Chefredakteur die Ich-Erzählerin. Man ahnt angesichts solcher Forderungen, was es am Relotius-Skandal noch aufzuarbeiten gäbe.

Das Nachdenken über die Umstände, unter denen Krisenjournalismus als erzählender Journalismus stattfindet, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. Es bildet die Metaebene dieses klugen, immer wieder in ironischen und tragischen Wendungen abtauchenden Romans. Dabei setzt die Erzählerin ihr eigenes Tun schon mal mit dem von Ikonen wie Peter Arnett – »the ultimate war horse« – ins Verhältnis oder vergleicht Tim Hetheringtons Schicksal mit dem von Robert Capa. Sie taucht ab in die Kultur des Schreibens und Denkens, verweist auf Goethe, Herder und Hegel, blickt auf Film- und Bildkulturen und wie sie unseren Blick prägen.

Dass die mediale Darstellung des Kriegs mit all seinen Gräueln besonderen Regeln unterliegt, hat Christoph Bangert in seinem verschlossenen Fotobuch »War Porn« gezeigt, in dem er Bilder versammelt hat, die für das Publikum als nicht zumutbar galten. Sein Band erforderte mündige Betrachter:innen, die selbst entscheiden, ob sie die Bilder sehen wollen oder nicht. Dafür hat er sie in unbeschnittenen Doppelseiten verborgen, die man entlang einer Perforation öffnen kann. Es ist eben den mündigen Betrachter:innen überlassen, sich die verborgenen Bilder anzusehen oder nicht.

Aber zurück zu Riedle: Auch sie zeigt ungeschönt, was es heißt, mit den unmittelbaren Eindrücken von Gewalt in all ihren Formen konfrontiert zu sein. »Aufgeputscht durch die harte Drohe Wirklichkeit, ausgelaugt von Hitze und der Überforderung der Seele und des Verstandes« irrt Riedles Alter Ego in diesem atemlosen, verspielten und kulturell tiefgreifenden Text durch eine Welt, in der Steinzeit und Moderne, Krieg und Frieden, Blutvergießen und Latte Macchiato immer nur einen Gedanken voneinander entfernt sind.

»Stets schritten wir mutig voran auf in jeder Hinsicht ungesichertem Terrain, Müllberge, Scheißhaufen, schäbige Hütten, zerschossene Gebäude, fehlende Hände, fehlende Unterschenkel, zu viel Gegenwart, zu viel Vergangenheit, und wer wusste, was sonst noch alles fehlen oder zu viel sein würde, in den nächsten fünf Minuten oder in einer Zukunft ohne jede Kontur.«

Gabriele Riedles eindrucksvoller Roman handelt von Idealen und Selbstzweifeln, von Liebe und von Tod. Er lässt uns verstehen, was es bedeutet, unter all den unmenschlichen Eindrücken und Verlusten Mensch zu bleiben.

Eine kürzere Version des Beitrags ist in der Freitag 18/2022 erschienen.

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