Literatur, Roman

Eine eiternde Wunde

Die palästinensische Autorin Adania Shibli beschreibt in ihrem virtuosen Roman »Eine Nebensache« nicht nur ein monströses Verbrechen, sondern zeigt, wie die Wunden der Vergangenheit der Gegenwart im Nahen Osten den Stempel aufdrücken. Nadav Lapids aktuelle Filmsatire »Aheds Knie« steht dem nicht nach.

Irgendetwas juckt am Bein des namenlosen israelischen Offiziers. Auf das Kratzen folgt ein Stich und dann ein höllischer Schmerz. Er fährt hoch, reisst die Decke von sich und schlägt panisch nach dem Wesen, das ihn peinigt. Er wird nicht herausfinden, was ihn da gebissen oder gestochen hat, aber die Wunde verheißt nichts Gutes. Sie wird blau anlaufen, unter der Schwellung wird das Fleisch zu faulen beginnen. Wann immer der Soldat, der in der Negev-Wüste die Verantwortung für eine Einheit trägt, den provisorischen Verband um sein schmerzendes Bein entfernt, macht sich ein Leichengeruch in seinem Zelt breit. Die Entzündung breitet sich in seinem Körper aus, immer wieder schwinden ihm in der drückenden Hitze der Wüste die Sinne, Trugbilder bemächtigen sich seiner.

Adania Shiblis Roman »Eine Nebensache«, dessen englische Übersetzung im vergangenen Jahr für den International Booker Prize nominiert war, setzt im Hochsommer des Jahres 1949 ein. Israelische Truppen haben sich gegen die arabischen Militärverbände im ersten Palästinakrieg durchgesetzt und der Staat Israel nimmt Form an. Im Süden des Landes aber gilt es, die Infiltration durch den Feind zu verhindern. Genau darin besteht die Aufgabe der Einheit, die unter dem Befehl des oben genannten Offiziers steht. »Unabhängig von einzelnen Missionen seien ihre Präsenz und ihre Beharrlichkeit entscheidend dafür, die Gegend zu kontrollieren, die neue Grenzlinie nach Ägypten zu sichern und Infiltrationen vorzubeugen«, erklärt gleich zu Beginn nüchtern die allwissende Erzählstimme im ersten Teil des Romans.

Was das in den Ohren der einzelnen Soldaten heißt, kann man den Gedanken des Offiziers entnehmen, mit denen man wenig später konfrontiert ist. Er versteht seine Mission wie folgt: »Niemand hat mehr Anrecht auf dieses Land als wir, nachdem die Araber es über Jahrhunderte so verkommen haben lassen, das heute nur noch Beduinen und ihre Herden hier leben. Wir dürfen sie nicht dulden; ja es ist unsere Pflicht, sie ein für alle Mal von hier zu vertreiben.«

Adania Shibli: Eine Nebensache. Aus dem Arabischen von Günther Orth. Berenberg Verlag 2022. 120 Seiten. 22,00 Euro. Hier bestellen

Rund um die Gründung des israelischen Staates gibt es viel Geschichte und Geschichten, die palästinensische Autorin Adania Shibli, die sowohl in Deutschland als auch in den palästinensischen Gebieten lebt, fügt eine aus arabischer Perspektive hinzu. Denn der Offizier wird mit seinen Truppen seine Mission nicht nur ernst nehmen, die Kontrolle des ihm überantworteten Grenzstreifens im Süden und die Vertreibungsideologie wird zu einem Verbrechen führen, von dem die palästinensische Ich-Erzählerin im zweiten Teil des Romans Jahrzehnte später aus der Zeitung erfährt. Dabei bleibt sie an einem winzigen Detail hängen. Denn exakt 25 Jahre vor dem Tag ihrer Geburt ist in der Negev-Wüste eine junges Beduinenmädchen von israelischen Soldaten missbraucht und ermordet worden.

In dieser Lektüre liegt der eigentliche Ausgangspunkt dieses Romans, der keineswegs ein autobiografischer ist, auch wenn die Ich-Erzählerin im zweiten Teil des Romans Adania Shibli sein könnte. Denn die ist im August 1974 in Palästina geboren, also genau 25 Jahre nach den Ereignissen, von denen der erste Romanteil erzählt. Es geht hier aber nicht um eine Form der autobiografischen Literatur, sondern eher darum, woran der oder die Einzelne hängenbleibt, wenn es um Verbrechen und Grausamkeiten geht.

Beduinendorf nahe Hebron

Dies ist eine hochaktuelle moralische Frage, gehen Westeuropäern die Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine viel näher als die Bombardierung von Aleppo und anderen syrischen Städten durch denselben Despoten. Wer da mit geografischer Nähe argumentieren möchte, kommt nicht allzu weit, denn auch das Schicksal der fliehenden Ukrainer:innen geht vielen näher als das der syrischen und afghanischen Flüchtlinge, die zwischen Weißrussland und Polen hin- und hergetrieben werden.

Shibli konfrontiert uns in ihrem schmalen, aber unheimlich dichten und politisch sowie psychologisch tiefgreifenden Roman mit der Tatsache, dass es oft nebensächliche Details sind, die darüber entscheiden, ob wir uns für das Schicksal anderer interessieren oder nicht. Ihre Ich-Erzählerin bleibt eben am Tag der Ereignisse hängen, mit dem ihre eigene Existenz verbunden ist. »Das einzige einigermaßen Außergewöhnliche an jenem Mord, der am Ende einer Gruppenvergewaltigung stand, war gewissermaßen, dass er an einem Tag stattfand, der fünfundzwanzig Jahre später mein Geburtstag sein sollte. Mehr nicht.« Ein nebensächliches Detail, das andere abtun würden, heißt es weiter, »aber mir wird es nie mehr aus dem Kopf gehen, so sehr ich auch versuchen mag, es zu vergessen.«

Also beschließt sie, den Ereignissen auf den Grund zu gehen, mehr zu erfahren, als in dem Zeitungsartikel zu lesen war. Hier kommt nun ein weiteres Detail ins Spiel, das eigentlich nichts mit der Sache zu tun hat und dennoch bedeutend wird. Denn diese Ich-Erzählerin verfügt nur über einen palästinensischen Pass, der im nahöstlichen Krisenkontext so gut wie nichts wert ist. Er beschränkt ihren Bewegungsradius auf den von den palästinensischen Behörden kontrollierten Flickenteppich, Recherchen in israelischen Archiven, zumal kritische, sind da kaum möglich. Sie erhält den israelischen Pass einer Kollegin, mit dem sie sich auf den Weg in Militär- und Privatarchive in den israelischen Gebieten macht. Mit dabei immer das Unbehagen, dass sie sich schon allein mit dem Versuch der Identitätsfälschung zur Kriminellen macht. Aber einmal auf den Weg gemacht, kann sie auch nicht mehr zurück, zu viele Grenzen hat sie schon überschritten.

Filmtipp zum Buch: »Aheds Knie« von Nadav Laid

Ahed Tamimi wurde zur Ikone des palästinensischen Widerstands, nachdem die 16-Jährige einem israelischen Soldat bei einer Militäraktion eine Ohrfeige verpasst hat. Der israelische Filmemacher X will ihr ein filmisches Denkmal setzen. Aber die Suche nach Drehorten, Schauspielern und Finanzierung gestaltet sich schwierig. Kein Wunder, denn politisch brisante Themen sind politisch nicht gewollt. Das erfährt der Regisseur auch, als er in einem israelischen Wüstendorf seinen letzten Film zeigen soll. Nadav Lapid, der 2019 mit »Synonymes« den Goldenen Bären gewonnen hat, hat einen wütenden Kommentar auf die kafkaesken Abgründe der politischen Wirklichkeit im Nahen Osten gedreht. In Cannes erhielt diese stilistisch eigenwillige, messerscharfe Satire den Preis der Jury.

Das Gefühl, sich einer Bedrohung auszuliefern, gefangen zu sein in einer Welt, die von anderen diktiert wird, und keine Worte für diese Emotionen zu finden, zieht sich durch den von Günther Orth aus dem Arabischen flüssig übertragenen Roman. Orientierung auf ihrer Reise in die Negev-Wüste, in der übrigens auch Nadav Lapids neue, hochpolitische Satire »Aheds Knie« spielt, geben ihr Google Maps und verschiedene historische Karten, anhand derer sie die Ereignisse nachzeichnen und verorten will. Aber sie stellt fest, dass die historischen Karten nutzlos für die geografische Orientierung sind, denn die dort verzeichneten arabischen Dörfer gibt es schon lange nicht mehr. Sie bieten ihr – und uns Lesern – aber eine historische Orientierung, weil sie die Leerstellen, die die aktuellen Karten aufweisen, mit Leben füllt.

»Mein Auge springt von einem palästinensischen Dorf zum nächsten; sie alle wurden zerstört, nachdem man ihre Bewohner in jenem Jahr vertrieben hatte. Ich kenne manche Namen, weil Kollegen und Freunde von dort kommen, Lifta etwa, al-Qastal, Ain Karem, al-Maliha, al-Jura, Abu Shosha, Saris, Annaba, Jemzu und Deir Tarif. Die meisten Namen aber sind mir so unbekannt, dass es ein Gefühl des Befremdens in mir auslöst: Khirbet al-Amur, Bir Ma’in, al-Burj, Khirbet al-Buwaira, Beit Shanna, Salbit, al-Qubab, al-Kanisa, Kharruba, Khirbet Zakaria, al-Barriya, Deir Abu Salama, al-Na’ani, Jindas, al-Haditha, Abu I-Fadhl, Kasla und viele andere. Ich blicke wieder auf die israelische Karte. Ein riesiger Canada Park liegt jetzt da, wo all diese Dörfer einmal waren.«

Der Checkpoint Qualandia zwischen Jerusalem und Ramallah, durch den auch Shiblis Erzählerin muss

An solchen Details macht sich diese flirrende Erzählung fest, die nicht große Antworten liefert, sondern nach den Einzelheiten und Ambivalenzen sucht, an denen sich die Krise im Nahen Osten tagtäglich festmachen lässt. Je länger die Reise dauert, desto näher bringt es die Erzählung um das Verbrechen im ersten Teil mit der Recherche zusammen. Der Gestank nach Benzin, das Heulen der Hunde, die drückende Hitze und das Abrücken von allem Vertrauten rauben auch der Ich-Erzählerin ihre Sinne. Mehr und mehr rückt die Wunde in den Mittelpunkt, die den namenlosen Offizier in der Negev-Wüste plagt. Die ihn aber auch nicht daran hindert, sich an einem Verbrechen zu beteiligen. Denn auch er wird sich an der jungen Palästinenserin vergehen und schließlich ihre »Beseitigung« anordnen.

Adania Shibli macht diese Wunde nicht zur Ausrede, sondern zum Symbol zweier schicksalhaft verbundenen Parallelgesellschaften, der israelischen und der palästinensischen. Sie steht für die Wunde Palästina, die, 1948 geschlagen, seither vor sich hin fault, immer wieder aufreißt, neu beginnt, sich zu entzünden, zu nässen und zu eitern. Selbst wenn diese Wunde irgendwann einmal heilen sollte – und aktuell sieht es nicht danach aus, als rückte dieser Moment näher –, wird das nicht spurenlos sein.

Auf ihrer Suche nach Details stößt Shiblis Erzählerin in der Negev-Wüste auf eine Beduinin. Sie nimmt sie ein Stück mit. »Das Mädchen von damals wäre jetzt in etwa so alt wie sie, hätte man es nicht ermordet«, denkt sie. Fragen, was sie damals erlebt hat, wagt sie sich aber nicht. Zu viel Angst hat sie vor der Wahrheit. Viel näher, als in diesem virtuosen Roman, kann man ihr dennoch nicht kommen.

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