Der Preis für den Roman des Jahres geht an den österreichischen Autor Tonio Schachinger. Sein ausgezeichneter Roman »Echtzeitalter« taucht in die Internats- und Gamerszene ein und überzeugte die Jury, weil er mit feinsinniger Ironie die politischen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart spiegele.
Tonio Schachingers Roman »Echtzeitalter« ist gleichermaßen ein Internats- und Gamingroman und genau diese Kombination scheint die Jury für den Deutschen Buchpreis 2023 überzeugt zu haben. Der Roman des Jahres sei ein Gesellschaftsroman, der das Aufwachsen seines Helden Till an einer Wiener Eliteeinrichtung beschreibt, an der die künftigen Leistungsträger:innen mit reaktionärem Drill und bildungsbürgerlichen Idealen aufs Leben vorbereitet werden. Aus dieser repressiven Umgebung flüchtet sich die Hauptfigur in die Welt des Gaming.
»Mit feinsinniger Ironie spiegelt Schachinger die politischen und sozialen Verhältnisse der Gegenwart: Aus gebildeten Zöglingen spricht die rohe Gewalt. Die Welt der Computerspiele bietet einen Ort der Fantasie und Freiheit. Auf erzählerisch herausragende und zeitgemäße Weise verhandelt der Text die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort der Literatur.«
Schachinger ist nach Arno Geiger und Robert Menasse der dritte Österreicher, der den mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Buchpreis erhält. Sein Erfolg kommt durchaus überraschend, wenngleich nicht unverdient. Der in Neu Delhi geborene und in Wien lebende Autor stand bereits 2019 mit seinem ersten Roman »Nicht wie wir« auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, damals gewann Saša Stanišić mit seinem Roman »Herkunft« den Preis. Sein neuer Roman ist übergreifend positiv aufgenommen worden.
In diesem Jahr waren Büchner-Preisträgerin Terézia Mora mit ihrem Roman »Mona oder Die Hälfte des Lebens« sowie Necati Öziri mit seinem Erinnerungsroman »Vatermal« favorisiert. Öziri hatte mit einem Auszug aus seinem Debüt bei den Bachmann-Tagen 2021 sowohl den Kelag- als auch den Publikumspreis gewonnen. Mora, die bereits 2013 mit dem Deutschen Buchpreis für »Das Ungeheuer« ausgezeichnet wurde, stand bei den Kritiker:innen mit ihrer Geschichte einer toxischen Beziehung hoch im Kurs. Außerdem waren Sylvie Schenck mit ihrem Memoir »Maman«, Anne Rabe mit ihrem Wenderoman »Die Möglichkeit von Glück« und Ulrike Sterblich mit ihrem surrealen Freundschaftsroman »Drifter« im Finale um den Roman des Jahres.
Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023
Für den Rowohlt Verlag, in dem Schachingers neuer Roman erscheint, ist es nach der Auszeichnung von Inger-Maria Mahlke 2018 der zweite Erfolg beim Deutschen Buchpreis. Überhaupt hat der Verlag gerade viel zu feiern. Das Werk des neuen Literatur-Nobelpreisträgers Jon Fosse erscheint ebenso bei Rowohlt wie der neue und viel diskutierte Roman von Daniel Kehlmann »Lichtspiel«.
Die Verleihung des Deutschen Buchpreis stand unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse in Nahost. Der 31-jährige Tonio Schachinger machte in seiner kurzen Dankesrede deutlich, dass es ein Dilemma sei, weil man nicht Nichts sagen könne und es zugleich völlig unerheblich sei, was er sage. Und doch machte er einen Punkt, indem er sagte, dass es auch schwer sei, darüber zu sprechen, wenn man nicht betroffen ist, es aber auch schwer unerträglich sei, dass jetzt auch noch diejenigen von den Geschehnissen sprechen müssten, die davon betroffen sind.
Schachinger setzt die Reihe der relativ jungen Buchpreis-Träger fort. Im vergangenen Jahr wurde der autofiktionale Roman »Blutbuche« von Kim de L’Horizon mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, der von der Identitätssuche der nonbinären Schweizer Autor:in handelt. 2021 erhielt Antje Rávik Strubels osteuropäische MeToo-Erzählung »Blaue Frau« den Deutschen Buchpreis.
Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, drückte vor der Preisverleihung ihre Sorge über die Situation der Literatur in der Gegenwart aus. »Mir macht es Sorge, dass namhafte Autor:innen heute davon ausgehen, dass so ein Buch wie „Die Satanischen Verse“ von Salman Rushdie heute keinen Verlag mehr finden würde. Mir macht es Sorge, dass Bücher mit queeren Themen aus amerikanischen Bibliotheken verbannt werden«, sagte Schmidt-Friderichs und erinnerte daran, dass die Freiheit des Wortes und Publizierens die »Grundlage der Demokratie« sei. Lesen sei »Empathie-Training und Toleranzschule«, das beste Mittel gegen Schwarz-Weiß-Denken. Daran erinnere auch der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der am Sonntag an Salman Rushdie vergeben wird.
Das dies nicht für alle und nicht uneingeschränkt gilt, macht die Absage der Verleihung des LiBeraturpreises an Adania Shibli deutlich. Der Litprom e.V. wollte den eindrucksvollen Roman »Eine Nebensache« der palästinensischen Schriftstellerin ursprünglich auf der Messe auszeichnen, vor dem Hintergrund des Terrors der Hamas in Israel haben Verein und Buchmesse die Preisvergabe verschoben. Die Autorin wurde nicht gefragt, stattdessen beließ man es bei einer kleinlauten Erklärung, die den vollkommen unberechtigten Vorwürfen einiger Kritiker:innen, der Roman bediene antiisraelische und antisemitische Muster, nichts entgegensetzten. Nicht nur der PEN Berlin kritisierte das Vorgehen deutlich, inzwischen haben sich über 600 Autor:innen gegen das Vorgehen ausgesprochen. Eine Farce, die alle beschädigt zurücklässt, wie ich im Freitag kommentiert habe.
Ina Hartwig, Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt, äußerte sich ebenfalls besorgt, nahm aber einen anderen Vorgang zum Anlass. Sie mahnte in ihrer Eingangsrede, dass wir »die Literaturgeschichte einmotten« könnten, wenn zum Maßstab wird, dass nur noch erzählt werden dürfe, was man erlebt habe. Eine Anspielung an den DDR-Roman »Gittersee« von Charlotte Gneuß, für den Ingo Schulze eine Mängelliste verfasst und damit eine Kontroverse um die Frage, wer darf worüber schreiben, ausgelöst hatte. Denn Gneuß ist 1992 in Ludwigsburg geboren, erhielt ihre DDR-Sozialisation über ihre Eltern, die DDR hat sie selbst nicht erlebt. Die literarische Qualität des Romans spricht für sich. »Gittersee« stand nicht nur auf Longlist des Deutschen Buchpreises, sondern ist in den vergangenen Wochen mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und dem aspekte-Literaturpreis für den besten Debütroman ausgezeichnet worden.
[…] Tonio Schachinger gewinnt den Deutschen Buchpreis 2023 […]
[…] Mit Leipzig hatten viele gerechnet, aber die wenigsten mit Martina Hefter. Und doch wurde zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse ihr Roman »Hey guten Morgen, wie geht es Dir?« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Ihr Roman über die Liebe in Zeiten des Internets verbinde auf faszinierende Weise den »zermürbenden Alltag mit mythologischen Figuren und kosmischen Dimensionen, er navigiert zwischen Melancholie und Euphorie, reflektiert über Vertrauen und Täuschung«, urteilte die Jury über diesen »klug choreografierten Roman, der eine ganz eigene Anziehungskraft ausübt«. Hefter folgt damit Tonio Schachinger, der im Vorjahr für seinen Internats- und Gamerroman »Echtzeitalter« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wu…. […]