»Hey guten Morgen, wie geht es Dir?« von Martina Hefter ist der deutsche Roman des Jahres. Zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse wurde die in Leipzig lebende Autorin im Frankfurter Römer ausgezeichnet. Hefter wird im November auch mit dem Großen Preis des deutschen Literaturfonds 2024 ausgezeichnet.
Mit Leipzig hatten viele gerechnet, aber die wenigsten mit Martina Hefter. Und doch wurde zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse ihr Roman »Hey guten Morgen, wie geht es Dir?« und nicht Clemens Meyers »Die Projektoren« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Ihr Roman über die Liebe in Zeiten des Internets verbinde auf faszinierende Weise den »zermürbenden Alltag mit mythologischen Figuren und kosmischen Dimensionen, er navigiert zwischen Melancholie und Euphorie, reflektiert über Vertrauen und Täuschung«, urteilte die Jury über diesen »klug choreografierten Roman, der eine ganz eigene Anziehungskraft ausübt«. Hefter folgt damit Tonio Schachinger, der im Vorjahr für seinen Internats- und Gamerroman »Echtzeitalter« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.
In ihrer Dankesrede wies Hefter darauf hin, dass sie viele Menschen begleitet haben, die »nach dem Willen einer Partei, deren Name ich hier nicht nennen will, nicht dazugehören sollen«. Einer dieser Menschen dürfte ihr Mann Jan Kuhlbrodt sein, der an Multipler Sklerose leidet und seine Krankheit in dem mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichneten Roman »Krüppelpassion oder vom Gehen« verarbeitet hat. Hefter appellierte im Frankfurter Römer daran, dass »wir wachsam sind, laut sein und einschreiten dürfen«, wenn Menschen anderen ihr Menschsein absprechen.
Die in Leipzig lebende Autorin setzte sich unter anderem gegen Clemens Meyer durch, dessen überwältigendes Textgebirge »Die Projektoren« in der Branche seit Wochen als Favorit gehandelt wurde. Mit der Entscheidung gegen Meyers großes Gewaltpanorama und für Hefters perfekt konstruierte Geschichte hat sich die Jury für den gefälligeren Titel entschieden. Während Meyers sperriges und stilistisch konsequentes Epos seine Leser:innen permanent fordert, unterhält Hefters Roman mit leichtfüßiger Poesie.
Skeptiker könnten angesichts dieser Entscheidung an der Unabhängigkeit der Jury zweifeln, die der Aufgabe, den Deutschen Buchpreis als Verkaufspreis zu fördern, damit bestmöglich nachgekommen sein sollte. Hefters verspielter Roman lässt sich zweifellos einfacher an die Leser:innen bringen als Meyers bildgewaltiger, von den Verheerungen von Faschismus und Kolonialismus erzählender Solitär. Meyer stand bereits 2013 mit seinem Roman »Im Stein« auf der Shortlist, seine erneute Nicht-Berücksichtigung ist noch weniger nachzuvollziehen als die damalige. Das ästhetische Programm, das er in seinem Karl-May-, Kriegs- und Gewaltepos auffährt, ist einmalig in der deutschen Literatur.
Die Jury hat sich aber für Martina Hefter entschieden. Sie erzählt in ihrem Roman von der Performancekünstlerin Juno Isabella Flock, die mit ihrem an Multipler Sklerose leidenden Ehemann in Leipzig lebt. Mit Mitte fünfzig steht ihre Existenz auf wackeligen Beinen, jeder Tag ist ein trotziger Kampf mit den alltäglichen Sorgen. Nachts chattet sie mit Männern, die ihr online die große Liebe vorspielen. Love-Scammer nennt man die Jimmys, Phils und Owens, die mit pseudo-interessierten Anfragen an das Vermögen einsamer Damen gelangen wollen. Aber Juno ist viel zu clever, um dem auf den Leim zu gehen. Das echte Leben ist zu präsent, als dass sie sich irgendeiner Internetversprechung hingeben könnte.
Junos Ausflüge ins Digitale könnte man angesichts der Herausforderungen, die sich ihr im Alltag stellen, dennoch als Form von Weltflucht betrachten. Sie aber dreht den Spieß und und macht ein Spiel daraus. So nach dem Motto: wenn schon das Gegenüber unverhohlen lügt, warum nicht einfach zurücklügen und sich als promiskuitive MILF geben, die von Affäre zu Affäre schwebt und das Leben genießt? Die zwischen ihren Bettgeschichten von der Schwermut gepackt wird und von Lars von Triers Weltuntergangsvision »Melancolia« schwärmt?
Hefter gewährt ihrer Figur diese Freiheit und beweist sich als umsichtige Autorin, die es bei der naiven Weltflucht nicht belässt. Ganz im Gegenteil, sie verzichtet auf jede Eindimensionalität, indem sie ihre Heldin selbst zur Kippfigur zwischen Wahrheit und Fiktion werden lässt. Als Juno online den Nigerianer Benu kennenlernt und dessen Scammer-Pläne umgehend auffliegen lässt, entsteht zwischen den beiden eine vertraute Verbindung, in der sie sich nicht nur überraschend nahe kommen, sondern sich auch die Abhängigkeiten ins Gegenteil verkehren. Dieser Dialog überführt all das Offensichtliche und Eindeutige dieser Konstellation ins Ambivalente und Ungefähre, denn unverfänglich ist bald schon gar nichts mehr. Und die Frage, wer hier eigentlich wen benutzt, kommt auf.
»Alles an den Chats und Calls war eigentlich falsch. Eine Verbindung, die nur auf Lügen basierte, oder besser: auf der Unwahrheit. Und aus der Unwahrheit ergab sich wieder nur Ausbeutung. Denn nichts anderes war’s im Grunde: Sie beutete Benu aus, und es war dabei egal, ob er sie vielleicht ebenso noch immer auszubeuten versuchte. Eine Ausbeutung rechtfertigte nicht eine andere.«
Die aktuellen Romane des Schriftstellerpaars Martina Hefter und Jan Kuhlbrodt
Und selbst diese Eindeutigkeit lässt Hefter nicht stehen, sondern treibt über die allwissende Erzählinstanz erneut den Keil des Zweifels in die Verhältnisse, da es auch immer noch möglich scheint, dass der Austausch doch noch Teil einer größeren Love-Scamming-Attacke von Benu ist. Und weil Juno ihrem Jupiter nichts von ihrem heimlichen Austausch erzählt, ist es auch bald im Verhältnis zu ihrem Mann mit der Unschuld vorbei.
Man erkennt in den Figuren Juno und Jupiter unschwer Martina Hefter und Jan Kuhlbrodt wieder, zumal Kuhlbrodts Lesung und Auszeichnung mit dem Alfred-Döblin-Preis bis zum Preisgeld eins zu eins nachgezeichnet wird. Dass Hefter durch die Namensgebung das ganze auf eine mythologische Ebene verschiebt, wird von vielen gelobt, ist letztlich jedoch nicht ausreichend, um den Verdacht der Autofiktion auszuräumen. Dass der in der nachgereichten Danksagung schließlich ganz abgeräumt wird, macht diesen Text eher kleiner als größer.
Die eigene Biografie scheint der Leipziger Autorin aber bei der Konstruktion geholfen zu haben. Geradezu tänzerisch bewegt man sich durch diesen federleichten Text. Die Performancekünstlerin Hefter hat hier die Freiheit ihrer einen Kunst in die einer anderen, der Literatur, übertragen.
Die Shortlist beim Deutschen Buchpreis 2024
Was man weniger dem Roman als vielmehr der Jury vorwerfen muss, ist der Umstand, dass Hefters »Hey guten Morgen, wie geht es Dir?« an keiner Stelle erschüttert. Zwar wirft Hefter in dem ambivalenten Verhältnis zwischen der fürsorgenden Göttin Juno und dem altägyptischen Totengott Benu auch die Frage des Kolonialismus auf, aber eine vertiefte Auseinandersetzung mit dieser spannenden Grundierung der asymmetrischen digitalen Versprechungen findet nicht statt. In einer Gegenwart, in der alle Verhältnisse zu erodieren scheinen, kommt diese Auszeichnung allzu leichtfertig daher.
Jurysprecherin Natascha Freundel hatte bei der Bekanntgabe der Shortlist noch angekündigt, dass die ausgewählten Roman »auf neue Weise Licht und Dunkel unserer jüngeren Geschichte erkunden, die auch erzählerisch Grenzen überwinden und dabei große literarische Abenteuer sind.« Das kann man sicher für die welthaltigen Romane von Clemens Meyer, Ronya Othmann und auch Markus Thielemann behaupten, die Werke von Iris Wolff, Maren Kames und Martina Hefter bewegen sich eher auf sicherem Terrain des Privaten. Während vor allem Meyer und Othmann auch literarisch Wagnisse eingegangen sind, haben Hefter und Kames ganz auf ihre Kunstfertigkeit vertraut. Anzulasten ist ihnen das nicht, ihre Romane sind unbedingt zu empfehlen.
Und doch wiegt das Etikett Roman des Jahres schon schwer auf Hefters Roman. Bestenfalls hat die Jury das Funkeln im Kleinen der Dunkelheit im Großen vorgezogen. Schlimmstenfalls ist Hefters Buch der naheliegende Kompromiss gewesen, den eine Jury braucht, wenn sie keine Einigung erzielen kann. Wenngleich das Hefters Roman nicht annähernd gerecht würde, bestätigte Jurysprecherin Freundel auf der Bühne eher den Verdacht als dass sie ihn ausräumte. Angesichts der Lage der Welt kann man diese Entscheidung selbst als Welt- und Debattenflucht lesen. Eine Konfrontation mit den Abgründen der Wirklichkeit sieht zumindest anders aus.
Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V., sagte zum 20. Jubiläum des Deutschen Buchpreises, dass es gelungen sei, mit dem Preis für den besten Roman des Jahres ein deutsches Pendant zum Booker Prize oder Prix Goncourt zu schaffen. Da kann man durchaus ein Fragezeichen dran machen. Die jährlich wechselnde Buchpreis-Jury hat sich wie schon im Vorjahr nicht für das große literarische Wagnis, sondern für eine Gegenwartsliteratur entschieden, die statt dem großen Ganzen einen handhabbaren Ausschnitt der Wirklichkeit in den Blick nimmt. Das spricht keineswegs gegen Hefters lebendigen Roman, aber eben auch nicht für die Jury.
Der Stuttgarter Klett-Cotta Verlag dominiert den Buchherbst
Die hatte schon bei der Auswahl der Longlist kein glückliches Händchen bewiesen. Nur zwei der zwanzig nominierten Titel wurden in einem unabhängigen Verlag verlegt, alle übrigen kamen aus Konzernverlagen wie Rowohlt, S. Fischer oder Klett-Cotta. Bei Klett-Cotta ist nicht nur der diesjährige Buchpreis-Roman erschienen, sondern auch Iris Wolffs »Lichtungen«, der in diesem Jahr mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet wurde, sowie Julja Linhofs Debüt »Krummes Holz«, der den Aspekte-Literaturpreis zugesprochen bekommen hat. Hefter wird zumdem im November den Großen Preis des deutschen Literaturfonds 2024 erhalten. Ohne auch nur einer der drei Autorinnen ihren Erfolg zu missgönnen, ganz im Gegenteil. Aber diese Dominanz eines einzelnen Verlags muss jedem, dem die Bibliodiversität am Herzen liegt, Sorgen bereiten.
Ruft man die titelgebende Frage von Hefters Roman in den weiten Echoraum der Branche, dann dürfte wenig Begeisterung zurückkommen. Traditionsverlage wie S. Fischer, Rowohlt oder Klett-Cotta wurden schon vor Jahren von Konzernen übernommen, Literatur muss sich da vor allem verkaufen, nicht unbedingt verzaubern, entführen oder verstören. Mit der Übernahme von Suhrkamp durch den Immobilienunternehmer Dirk Möhrle scheint nun auch der traditionsreichste deutsche Verlag ans Ende seiner viel gepriesenen Kultur gelangt zu sein. Suhrkamp sei nicht in Not, ließ Verlagschef Jonathan Landgrebe zuletzt verlauten, um dann salomonisch in der Süddeutschen Zeitung zu erklären, dass sein Haus »keineswegs in einer finanziell desaströsen Lage« sei. Aber wie das so oft mit Negativbewertungen ist, das Gegenteil wirkt eben auch nicht glaubhaft.
Und wenn die Groß- und Publikumsverlage schon stöhnen, wundert es nicht, dass die unabhängigen Verlage so laut ächzen wie noch nie. Zwischen 2010 und 2018 ist die Gesamtzahl der umsatzsteuerpflichtigen Verlage im dreistelligen Bereich gesunken, insbesondere die kleinen Verlage mit einem Jahresumsatz bis zu 100.000 Euro sind besonders betroffen, machte eine Studie der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien kürzlich deutlich. Crowdfundingkampagnen, Hilferufe und Insolvenzen sind leider keine Seltenheit mehr in einer Branche, die doch eigentlich Zuversicht und gute Laune versprühen will.
Die Kurt-Wolff-Stiftung betonte zwei Wochen vor der Frankfurter Buchmesse noch einmal, wie sehr die Buchindustrie unter Druck steht. Diese Verlage kämpfen besonders mit den Strukturveränderungen, so die Stiftung. »Dabei sorgen gerade sie für mutige Entdeckungen neuer Autorinnen und Autoren, indem sie Themen setzen und neue Formate entwickeln für Vielfalt und Dynamik.« Längst fordern die unabhängigen Verlage die Politik auf, die Interessen der kleinen und unabhängigen Verlage zu vertreten und ihre Existenz mit einer institutionellen Förderung abzusichern.
Nicht nur die seit Jahren steigenden Kosten bringen insbesondere die kleinen Verlage an ihre Grenzen, sondern auch die abnehmende Sichtbarkeit. Karin Schmidt-Frederichs verpasste es in ihrer Rede, die Schrumpfungsprozesse hinsichtlich der Reflexion und Präsentation von Literatur in den öffentlich-rechtlichen Medien, aber auch in Tages- und Wochenzeitungen, Zeitschriften und Magazinen deutlicher zu kritisieren. Die Krise der Übersetzungsbranche nicht zu vergessen.
Die Buchbranche befindet sich seit Jahren in einem permanenten Umbruchprozess, der sich immer mehr zuzuspitzen scheint. Schmidt-Frederichs Beteuerung, dass einem um die Zukunft des Buches nicht bange sein müsse, klingt eher nach trotziger Selbstbehauptung als nach innerer Überzeugung. Es bleibt abzuwarten, ob sich das nach der Frankfurter Buchmesse anders darstellt.
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