Clemens Meyer hat ein Epos über die Brutalität des 20. Jahrhunderts geschrieben. In »Die Projektoren« verdichtet er die grausame Wirklichkeit mit Witz und Fantasie – und bändigt so das Chaos der Welt. Auch ohne Deutschen Buchpreis ist dieser Roman ein Solitär.
Am Fuß des Tulove Grede, der das kroatische Velebit-Gebirge dominiert, leben ein alter Schäfer und seine schöne Frau Negosava. Eines Tages taucht ein seltsamer Mann mit selbstgeschnitztem Quirl am Gürtel und kariertem Halstuch auf, den die Menschen in der Gegend nur Cowboy nennen werden. Als Kind hat er beim Überfall der ungarischen Faschisten auf das serbische Novi Sad seine Eltern verloren. Den Pfeilkreuzlern musste er als Meldegänger dienen, nach dem Krieg wurde er zur sozialistischen Umerziehung auf eine Insel verbannt.
Im Velebit kann er von vorn anfangen und nutzt seine Chance. Bald spielt er als Komparse in den legendären Karl-May-Verfilmungen mit, die hier gedreht werden, dann schlägt er sich als Verfasser von Groschenromanen durch. Doch am Horizont ziehen andere Zeiten auf. Das multinationale Jugoslawien zerfällt mit dem Ende des Kalten Krieges und versinkt in Dunkelheit. Und da, wo einst der Wilde Westen inszeniert wurde, stehen sich 1991 kroatische und serbische Nationalisten gegenüber.
Der Cowboy ist eine der vielen mysteriösen Figuren, die Clemens Meyers fulminanten Montage- und Kolportageroman bevölkern. Eine andere ist ein gewisser »Dr. May«, der von Sachsen aus die Welt bereist und ein Sammelsurium an Geschichten verfasst hat, über deren literarische Qualität sich streiten lässt. In Meyers Roman hinterlässt dieser Märchenerzähler und Hochstapler seine Spuren nicht nur in der Leipziger Heilanstalt von Dr. Güntz, wo er sich von den traumatischen Bildern der Indianerkriege in Amerika erholt, sondern fliegt wie eine graue Eminenz durch die weit verzweigte Geschichte.
Clemens Meyers prosaisches Werk
Meyers Alter Ego Kara Ben Nemsi, der Fremdenführer Quimbo und der rätselhafte Hadschi – sie alle reisen durch Raum und Zeit und greifen in das komplexe Geschehen dieses kühn mit Wirklichkeit und Fiktion jonglierenden Romans ein, indem sie sich der Dinge bemächtigen, die im Vor- oder Rückgriff in ihnen schlummern.
Clemens Meyer ist einer der besten deutschsprachigen Erzähler. Seine Geschichten kommen stets gewichtig daher und verändern nachhaltig den Blick auf die Verhältnisse. In Milieuromanen wie »Im Stein« oder »Als wir träumten« oder in seinen realismusgesättigten und vielfach verfilmten Erzählungen (»Die stillen Trabanten«, »In den Gängen«) hat er längst vergessene und verdrängte Welten wieder auferstehen lassen. Ähnlich verhält es sich mit »Die Projektoren«. Karl Mays Werk spielt vielleicht noch in identitätspolitischen Debatten eine Rolle, ansonsten ist es aber aus der Wahrnehmung verschwunden.
Der Leipziger Autor holt es aus der Mottenkiste, um es in seinem bilderstürmenden Roman in völlig neue Zusammenhänge zu rücken. Dabei zoomt er wie ein Kameramann in die Geschichten seiner Figuren hinein, die in Summe das Panorama des 20. Jahrhunderts bieten. Dessen Brutalität steht im Mittelpunkt dieses rasant erzählten Romans, in dem das Kino als Fluchtpunkt und Sehnsuchtsort dient, in dem aber auch unzählige Bilder und Themen aneinandergereiht werden.
Man könnte den komplexen Text allzu schnell als sperrig bezeichnen. Treffender aber ist wohl, dass er sich nur der schnellen Lektüre versperrt. Es gilt sich einzulassen auf diesen wild mäandernden, düster funkelnden, ironisch spottenden Trip, der in der amerikanischen Wildnis wurzelt und von Sachsen über den Balkan bis auf die arabische Halbinsel führt. Wer in dieser Bewegung von West nach Ost einen eindimensionalen Verlauf mutmaßt, ist ebenso auf dem Holzweg wie jene, die Zeit nur linear betrachten. Das Zeit-Raum-Kontinuum mag hier nicht völlig aufgelöst sein, aber zerstückelt und neu zusammengesetzt ist es allemal.
Motive für dieses raumgreifende, sich überlagernde und sich ineinander verschiebende Schreiben lassen sich in Meyers essayistischen (mitunter augenzwinkernden) Schriften finden. Sein Interesse für die Brutalität der Welt schlägt sich auch in seinem Tagebuch »Gewalten« nieder, die Begeisterung für das Kino kennt man aus der schrägen B-Movie-Erkundung, die er mit Claudius Niessen in »Zwei Himmelhunde« festgehalten hat. Das vielschichtige und assoziative Zusammenführen von Themen, Handlungssträngen, Figuren, Zeiten und Orten, das »Die Projektoren« prägt, findet man auch in den Frankfurter Poetikvorlesungen.
Clemens Meyers essayistisches Werk
Joseph Conrad und John Dos Passos, Uwe Johnson und Joseph Roth, Wolfgang Hilbig und Brigitte Reimann nannte er in Frankfurt als prägend für sein Schreiben. Zuletzt machte er seine Begeisterung für Christa Wolf öffentlich. In »Über Christa Wolf« legt er nicht nur die Bezüge zwischen seinem Werk und dem der großen Ost-Berliner Autorin offen, sondern vollzieht nichts weniger als eine Ehrenrettung der DDR-Literatur. Die hat er erst nach der Wiedervereinigung entdeckt, ihr hat er erklärtermaßen viel zu verdanken.
Vor allem die Literatur von Wolfgang Hilbig findet man in den »Projektoren« gespiegelt. Der Schönheit des Wortes steht auch bei Meyer die Grausamkeit der Wirklichkeit gegenüber, die elegante lineare Erzählung ist abgelöst von einer disruptiven Struktur, mit der die Brutalität der Verhältnisse eingefangen wird.
In Meyers Jahrhundertroman bricht die Realität mit der Gewalt der Moderne die Erzählung auf. Die Verheerungen von Faschismus und Kolonialismus bilden die Klammer, die auch die Gegenwart einschließt. Meyers Heimat Sachsen kommt dabei eine zentrale Rolle zu. In den Ruinen der Güntz’schen Klinik wird ein junger Thälmann-Pionier in den Achtzigern die Blut- und Bodenideologie von einigen Altnazis aufsaugen, um als kriegsbegeisterter Freischärler im Jugoslawienkrieg geläutert zu werden. Drei andere sächsische Neonazis begeben sich Jahre später in den (Nationalsozialistischen) Untergrund und führen in einen alten Krieg neu auf.
Dass Clemens Meyer für diesen Roman, der ein Solitär in diesem Bücherherbst darstellt und als einer der großen Romane des 21. Jahrhunderts gelten kann, aller anders lautenden Erwartungen zum Trotz nicht den Deutschen Buchpreis erhalten hat, ist literarisch betrachtet kleinmütig. Weiter weg vom um sich greifenden Midcult kann ein Werk nicht sein. »Die Projektoren« steht in einer Reihe mit Walter Kempowskis »Das Echolot«, Uwe Tellkamps »Der Turm« und Frank Witzels »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969«, blickte man ins Ausland, müsste man Vergleiche zu Thomas Pynchon oder Roberto Bolaño ziehen. Ohne Frage ist Meyer mit dem größenwahnsinnigen Allanspruch seines Romans auch ein Wagnis eingegangen, aber wer nicht wagt, kann eben auch nicht gewinnen.
Wie sehr er gewinnen wollte (und aus finanziellen Gründen wohl auch musste), zeigte sich in seinem Wutausbruch, nachdem die Jury seinen Roman übergangen hatte. Natürlich hätte man sich eine souveräneren Umgang gewünscht, aber nicht jede:r kann Niederlagen stoisch (er-)tragen. Oft heißt es in solchen Zusammenhängen, jemand solle Größe im Moment der Niederlage beweisen. Das lässt sich aber leichter behaupten, wenn man selbst nichts zu verlieren hat. Meyer hatte mehr als nur die Nerven zu verlieren, das machte er auch im Spiegel-Interview nach dem Eklat deutlich.
Während die Wesenszüge des Leipzigers bislang als »authentisch« ausgelegt wurden, wird ihm sein Verhalten nun als »peinlich« und »unkollegial« vorgehalten. Mit Wollust machen sich seit Tagen Literaturaffine in den sozialen Medien über den Leipziger her, vielleicht auch, weil er seine Verletzung mit narzisstischer Pose überspielt hat. »Selbstgefällig«, »selber Schuld«, »Macho«, »Chauvinist«, »schlechter Verlierer« und »Alpha-Mann der Literatur« sind noch die harmlosen Formulierungen, die da fielen. Durchaus überraschend, schließlich passt dieser die eigene Position versichernde Furor doch so gar nicht zur großen Empfindsamkeit, die im gleichen Atemzug in Anspruch genommen wird.
Aber zurück zu Meyers großem Montageroman, der auch ohne Deutschen Buchpreis ein dickes Ausrufezeichen in die deutsche Gegenwartsliteratur setzt. »Die Grausamkeit wandert durch die Zeit«, heißt es in diesem bildgewaltigen Epos, in dem Meyer freilegt, wie sich die Geister der Vergangenheit immer wieder der Gegenwart bemächtigen. Kolonialismus, Faschismus, Sozialismus, Liberalismus, Islamismus – die Ismen der Welt werden hier in einer mal verspielten, mal brutalen Prosa demaskiert.
»Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen«, fällt einem beim Lesen Christa Wolfs Eröffnungssatz von »Kindheitsmuster« immer wieder ein. Die Brutalität unsere Zeit hat Vorläufer, Clemens Meyer führt diese mit seinen kühnen Projektoren eindrucksvoll vor Augen.