Klassiker, Literatur, Roman

Es war einmal Amerika

Foto: Thomas Hummitzsch

John Dos Passos beschreibt in einer epischen Roman-Trilogie, wie Amerika zu dem Land wurde, das wir heute kennen. Mit der Neuübersetzung von Dirk van Gunsteren und Nicolaus Stingl liegt ein Gründungsdokument der modernen amerikanischen Kultur nun in neuem Glanz vor.

»Das 20. Jahrhundert wird ein amerikanisches sein. Amerikanische Gedanken werden es gestalten. Amerikanischer Fortschritt wird ihm Farbe und Richtung geben. Amerikanische Taten werden ihm Glanz verleihen.« Und ein amerikanischer Roman wird diesen Prozess beschreiben. Das steht da zwar nicht, kann es aber auch gar nicht, da das Zitat von Senator Albert J. Beveridge genau diesem Roman entnommen ist.

Bei diesem Roman handelt es sich eigentlich um drei Romane, die der Amerikaner John Dos Passos in seinem vierten Lebensjahrzehnt geschrieben hat. »Die USA-Trilogie« ist kein Alterswerk, das nun in einer neuen, zeitgemäßen Übersetzung von Dirk van Gunsterem – der schon den Großstadtroman »Manhattan Transfer« neu übertragen hat – und Nicolaus Stingl vorliegt, sondern die Energieleistung eines rastlosen, relativ jungen Autors. Einer, der noch die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs mit eigenen Augen gesehen hat und deshalb weiß, dass der Krieg »absolut verdammter Blödsinn [ist], ein riesiges Krebsgeschwür, das von Lügen genährt wird«, wie er an seinen Freund Rumsey Marvin schreibt. Einer, der noch vor vielen anderen im Orient-Express bis Bagdad gefahren und die Zerwürfnisse der einziehenden Moderne an vielen Ecken der Welt erlebt hat. Einer, der den Aufstieg der USA als imperiale Weltmacht begleitet und die Ablösung politischer Ideale durch den Götzen Geld reisend durch seine Heimat protokolliert hat. All diese Erfahrungen sind eingeflossen in die 1.600 Seiten, die auch formal zu ihrem Zeitpunkt der Veröffentlichung neue Maßstäbe gesetzt haben.

Denn Dos Passos montiert darin vier verschiedene Textsorten zu dem Porträt einer Gesellschaft im permanenten Wandel. Die Erzählung folgt einem guten Dutzend Figuren, die alle sozialen Schichten repräsentieren, darunter einfache Arbeiter und Bürogehilfinnen, Kriegsveteranen, Funktionäre, Glückssucher, Showgirls, Möchtegernstarlets und Großkapitalisten. Die Kapitel sind nach den jeweiligen Figuren benannt und springen zwischen ihnen hin und her, so dass hier schnell ein Chor der Stimmen erklingt, der dieser Gesellschaft um Umbruch Gestalt gibt. Die USA, so heißt es schon in seinem Vorwort, sei vor allem »das gesprochene Wort der Menschen«.

John Dos Passos. Die USA-Trilogie. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren und Nicolaus Stingl. Rowohlt Verlag 2020. 1.648 Seiten. 50,00 Euro. Hier bestellen.

Dazwischen geschaltet sind klassische Porträts von herausragenden Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft, die auch John Dos Passos Haltung durchblicken lassen, etwa wenn er Woodrow Wilson als »fröhlichen Krieger«, präsentiert und den Gewerkschaftspionier Eugene Debbs unter dem Titel »Freund der Menschheit« vorstellt. Der »Elektromagier« Thomas Edison, der Eisenbahner Minor C. Keith als »Kaiser der Karibik«, die Tänzerin Isadora Duncan (als eine der wenigen Frauen, die in diesem Buch insgesamt eher schlecht wegkommen) oder den »Playboy« Jack Reed, bei dem es sich mutmaßlich um den Journalisten Kommunisten John Reed handelt, sind nur einige dieser Persönlichkeiten, die hier vorgestellt werden.

Bei der dritten Textform, die die laufende Erzählung ergänzt, handelt es sich um so genannte Wochenschauen, in denen Presseschnipsel zu Realitätsausschnitten neu arrangiert werden – ein Verfahren, das er schon in »Manhattan Transfer« einsetzte und das die Beat-Generation später als Cut-Up radikalisierte. Und zuletzt erlaubt sich Dos Passos, sein USA-Porträt selbst zu kommentieren. »Das Auge der Kamera« nennt er diese subjektiven Einsprengsel, auf die man an der ein oder anderen Stelle auch gut verzichten könnte. Vielleicht machen die diese Romantrilogie aber auch besonders, weil sie das Anliegen der politischen Kommentierung der nachgebildeten Wirklichkeit des Autors transparent macht.

John Dos Passos »Dekonstruktion oder Rekonstruktion der Geschichte« – so bezeichnet der Erzähler in Lawrence Ferlinghettis Roman »Little Boy« dieses Verfahren – erfolgt also in drei Teilen. Dabei bewegt sich der erste Teil »Der 42. Breitengrad« (übersetzt von Dirk van Gunsterem) zeitlich vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis hin zum großen Krieg. Es ist das weit greifende Panorama einer Gesellschaft, in der die Idee des American Dream wie ein pulsierendes Herz schlägt. Diese Gesellschaft wird im Ersten Weltkrieg erschüttert, in den hinein der zweite Teil »1919« (übersetzt von Nicolaus Stingl) mit einer Aussage des Kampfpiloten Charley Anderson führt. Sein »Frankreich ist weit im Osten … U-Boote … Krieg« am Ende von »Der 42. Breitengrad« ist eine Art Fingerzeig für die weitere Handlung.

Die steuert im zweiten Teil auf eben jenes Jahr zu, das ihm den Titel gibt. Es ist das Jahr nach dem Krieg, in dem ein Frieden geschlossen wird, der keine zwei Jahrzehnte hält. Dos Passos weiß auch warum. »Der Krieg war vorbei, aber im Spiegelsaal von Versailles hatte man Imperium gelernt«, schreibt er über 1919 im ersten Teil. Daran nicht unwesentlich beteiligt ist J. Ward Moorehouse, ein Werbespezialist, der »Propaganda für die Morgans und Rockefellers« macht und schließlich die PR-Arbeit der Amerikaner rund um die Verhandlungen leitet, und dabei die Interessen des Großkapitals wahrt. Dass zum Imperialismus auch Opfer gehören, muss vorher Joe Williams erfahren. Der Marinesoldat soll die amerikanischen Truppen vom Wasser aus versorgen, kommt bei den Seeschlachten dann aber nur knapp mit dem Leben davon. Dos Passos schreibt diese Passage, als wäre er selbst dabei gewesen – was zu den großen Kunststücken seiner weltgreifenden Literatur gehört.

John Dos Passos: Manhattan Transfer. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag 2018. 544 Seiten. 24,95 Euro. Hier bestellen.

»Wir brauchen Söhne Homers, die das schrille Getöse der Welt in einen menschlichen Rhythmus bringen und uns die Angst nehmen«, schrieb er im Jahr 1921 in sein Notizbuch. Da war er gerade mit dem Orient-Express auf dem Weg nach Istanbul. Er selbst sah sich als einen solchen Sohn, wie sein singender Großstadtroman »Manhattan Transfer« und seine epische »USA-Trilogie« deutlich machen. Die wendet sich schließlich dem neuen Götzen der Moderne zu, der schon im Titel des dritten Teils (übersetzt von Dirk van Gunsteren und Nicolaus Stingl) benannt wird: »Das große Geld«. Dass es Dos Passos, der dem Kommunismus zugeneigt war, dabei nicht nur um das Kapital, sondern ganz im Marx’schen Sinne um die Kapitalisierung des Lebens durch die Eroberung der Arbeitsverhältnisse geht, wird schon deutlich, wenn er gleich zu Beginn des dritten Teils den Arbeitswissenschaftler Frederick Winslow Taylor, der von der Seite der Arbeiter auf die der Betriebsleitung wechselte und von dem es heißt: »Er trödelte nie, und er wollte verdammt sein, wenn irgendwer sonst trödelte. … Er verlor seine Freunde im Betrieb; sie nannten ihn Sklaventreiber.« Seine schonungslose Idee der Unterwerfung der Arbeiter zur Produktivitätssteigerung sollte in den Zwanzigern aufgehen, er selbst hat es nicht mehr erlebt.

Hatte es in »Manhattan Transfer« noch geheißen, dass man in Amerika was auf die Beine stellen kann, ist Dos Passos Blick hier kritischer. Der Aufbruch der amerikanischen Wirtschaft und des Showgeschäfts lässt sich darauf zurückführen. Der Mensch wird auch in Friedenszeiten verbrannt, nur die Zwecke sind anders, so die Quintessenz von diesem Teil, in dem die Arbeiter vergeblich um ihre Rechte kämpfen und im Zweifel an die Fließbänder der Produktion geschossen werden. Kriegsgewinnler und Kriegsverlierer ergötzen sich gleichermaßen an den Starlets, nur dass die einen die Finger an sie anlegen können, während die anderen nur in ihren Träumen ihre Hände nach ihnen strecken.

Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl, zwei Schwergewichte der Übersetzung amerikanischer Literatur, haben die »USA-Trilogie« in einen modernen Text überführt. Und dabei fällt auf, dass so manche Beschreibung auch auf die turbokapitalistische Welt unserer Tage passt. Zugleich ist der Text historisch verankert, die Bezüge werden konkret benannt. In dem Anmerkungsapparat gehen die Übersetzer diesen auf den Grund, entschlüsseln literarische Referenzen und zeigen auf, wie akribisch sich Dos Passos an den Fakten entlang gehangelt hat. Aus dem Funkenflug der Ereignisse seiner Zeit hat er ein Kaleidoskop geschaffen, das diese Zeit entschlüsselt und formell zweifelsohne Autoren wie Thomas Pynchon oder David Foster Wallace inspiriert hat. Das ist in seinem Umfang vielleicht eine Zumutung, in der Form, in der dieses Werk nun vorliegt, aber eine, die ihren ganz eigenen Sog entwickelt und großartig unterhält. Diese Ausgabe ist ein fulminanter Pageturner.