Die für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Titel in der Kategorie Übersetzung sind alle auf ihre Art bemerkenswert. Zudem gibt es spannende Querverbindungen zum International Booker Prize, zum Internationalen Literaturpreis sowie zu den nominierten Belletristik-Titeln.
Es ist bemerkenswert, wie schmal vier der fünf für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Titel in der Kategorie Übersetzung sind. In nicht wenigen Jahrgängen zuvor stapelten sich hier die Wälzer der Saison, so dass der Übersetzungspreis mitunter schon fast abschätzig zum Fleißpreis abgestempelt wurde. Wenngleich bei dieser Einordnung die Fehleinschätzung erfolgt, dass sich der Aufwand einer guten Übersetzung an der Seitenzahl ablesen lasse.
Dass dies mitnichten der Fall ist, beweisen nicht nur die nominierten Titel – wenngleich die von Nicolaus Stingl und Dirk van Gunsteren vorgelegte Übersetzung der »USA-Trilogie« von John Dos Passos mit über 1.600 Seiten epische Ausmaße hat – sondern, wenn man den Blick einmal weitet, auch die Shortlist des International Booker Prize 2021. Auf dieser ist die von Sasha Dugdale ins Englische übersetzte Ausgabe von Maria Stepanovas »Nach dem Gedächtnis« (die deutsche Ausgabe hat Olga Radetzkaja vorgelegt) mit knapp 500 Seiten mit Abstand die voluminöseste. Auch auf der Shortlist des Internationalen Literaturpreis 2021 sind es eher schmale Bände als dicke Wälzer, die die Jury in diesem Jahr überzeugt haben. Der von von Michael Kahn-Ackermann aus dem Chinesischen übersetzte Roman »Weiches Begräbnis« von Fang Fang ist mit etwas mehr als 400 Seiten der umfangreichste.
Aber zurück zur Leipziger Liste, auf der fünf bemerkenswerte Titel stehen. Da ist zum einen die Übertragung von Tarjei Vesaas Roman »Die Vögel«, die Hinrich Schmidt-Henkel für den Guggolz Verlag vorgenommen hat. Es ist das magisch schwebende Porträt eines besonderen Mannes, der mit der Welt, die ihn umgibt, in einer unmittelbaren Beziehung steht. Seinen Mitmenschen gilt Mattis als »Dussel«, die Leser:innen begegnen in ihm einem einfachen, aber besonders sensiblen Menschen, was an Vesaas schlichter Sprache liegt, mit der er seine Figur sein Erleben der Welt beschreiben lässt. Berührende Beobachtungen prallen hier auf direkte Dialoge, die in ihrer Lakonie Mattis gegenüber ein ums andere Mal sprachlos machen. Er habe für diesen Autor ganz tief in seinen Instrumentenkasten greifen müssen, räumte Schmidt-Henkel im Gespräch ein. Er verzichtet auf »scharfkantige« Wörter wie auch auf die Komplexität der deutschen Syntax, bleibt bei der einfachen, aber eindringlichen Sprache. Kein Wort ist hier zu viel, keines zu wenig, die Gestalt dieser Übersetzung ist einfach perfekt.
Der schmalste Roman unter den Nominierten ist Louis-Karl Picard-Siouis »Stories aus Kitchike – Der große Absturz«. Auf gerade einmal 180 Seiten setzt der franko-kanadische Autor das Panorama einer Kleinstadt zusammen, die das Zentrum eines Reservats für die indigene Bevölkerung ist, indem er dessen Bewohner sprechen lässt. Nur selten tun sie dies im direkten Dialog, meist sprechen sie für sich. In jedem Kapitel werden die vergangenen und gegenwärtigen Ereignisse aus der Perspektive eines anderen Charakters erzählt. Sonja Finck und Frank Heibert haben den Figuren ganz individuelle Stimmen gegeben. Allein das ist eine bemerkenswerte Leistung, gleiten andere Übersetzungen an der Stelle doch oftmals in einen angenommenen Einheitston, um die – hier indigene – Minderheiten-Markierung deutlich zu machen. Dazu kommt, dass sie konstant die Binnenperspektive der First Nations wahren, sei es auf sprachlicher oder motivischer Ebene, weshalb man diesen als Gesamtkunstwerk aufgemachten Roman wie einen authentischen Bericht aus dem Reservat liest.
Der Autor des ebenso wilden wie amüsanten, ambitionierten wie versierten, (selbst)ironischen wie eloquenten, zeitgemäßen wie anachronistischen Kommentars »Apropos Casanova« ist der Ungar Miklós Szentkuthy (1908 – 1988). Der ungarische Romancier György Dalos beschreibt ihn in seinem Nachwort als »literarischen Sonderling à la Proust oder Joyce«. Dieser Sonderling ergründet hier die Memoiren des berühmt-berüchtigten venezianischen Schürzenjägers. Man merkt diesem durch Weltliteratur, Kunstgeschichte, Musik und Philosophie fliegenden Gedankengebäude die Lust am intellektuellen Spiel an. Wenngleich er einräumt, dass »eine wirklich intellektuelle Antwort (auf die Welt, A.d.A.) kann nur ein ganzes Leben sein, mit all seinen Ereignisschimmern, endlosen Assoziationsketten, unzähligen Stimmungsvariationen.« Die überaus zeitgemäße Übersetzung der Leipziger Übersetzerin Timea Tankó ist selbst ein ständiges Ereignisschimmern, folgt geradezu meditativ den endlosen Assoziationsketten des Ungarn und bildet dessen Nachdenken über Casanova in unzähligen Stimmungsvariationen nach. Mehr kann man von einer Übersetzung nicht erwarten.
Die Geschichte, von der Rosmarie Waldrops Roman »Pippins Tochter Taschentuch« handelt, hat sich in Kitzingen am Main zugetragen, wo im 8. Jahrhundert das Taschentuch von Pippins namensloser Tochter gelandet ist. Dort heiratet 1926 die Sängerin Frederika Wolgamot den Naturburschen Josef Seifert, obwohl sie sich viel mehr zu dessen Kriegskameraden Franz Huber hingezogen fühlt. Mit dem lebt sie auch ihre Lüste aus, was die Frage aufwirft, ob die Zwillinge Andrea und Doria nicht eher dessen Kinder sind. Zumindest wirft die spätere geborene Lucy ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen die Frage gegenüber Andrea in Briefen auf und versucht, anhand von aufgefundenen Dokumenten und persönlichen Erinnerungen die von Hitler-Deutschland pulverisierte Familiengeschichte zu rekonstruieren. Dies wird überaus lebendig erzählt, dieser Roman klingt, klappert und stöhnt, was das Zeug hält. Und er pulsiert im Rhythmus der immer wieder gebrochenen Erzählung, die so in ihrer Fragilität Gestalt erhält. Mit Ann Cotten hat sich eine Übersetzerin dieses mitreißenden Textes angenommen, die in ihren literarischen Werken selbst immer wieder Prosa, Essayistik und Lyrik miteinander in Beziehung setzt. Davon profitiert ihre atmende Übertragung, die uns diesen aufregenden Roman zugänglich macht.
»Wir brauchen Söhne Homers, die das schrille Getöse der Welt in einen menschlichen Rhythmus bringen und uns die Angst nehmen«, schrieb John Dos Passos 1921 in sein Notizbuch. Mit seinem flirrenden Großstadtroman »Manhattan Transfer«, verfasst mit Ende Zwanzig (!), war ihm das bereits einmal gelungen, seine 1.600 Seiten umfassende »USA-Trilogie«, die er nur zehn Jahre später vorlegte, kommt diesem Programm ebenfalls nach. Sie verfolgt das Schicksal von einem Dutzend Figuren vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Zwanziger Jahre, unterbrochen von den Porträts einzelner prominenter Akteure wie Präsident Wilson oder Elektropionier Edison, von arrangierten Wochenschauen sowie persönlichen Kommentaren. Diese De- und Rekonstruktion der Geschichte lässt nachvollziehen, wie die amerikanische Gesellschaft hoffnungsvoll ins 20. Jahrhundert aufgebrochen und eine ganze Generation desillusioniert aus dem Krieg zurückgekehrt ist, um dann zu erleben, wie der Kapitalismus das Rad der great transformation um Einiges weiter gedreht hat, als es sich viele vorgestellt haben. Dos Passos hat dem Funkenflug der Ereignisse seiner Zeit ein entlarvendes Kaleidoskop geschaffen, das in seinem Umfang als Zumutung scheint, in der zeitgemäßen Übertragung von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl aber als fulminanter Pageturner daherkommt, der einen ganz eigenen Sog entwickelt und großartig unterhält.
Auffällig ist, dass drei der fünf nominierten Übersetzungstitel auch als Kunstgegenstand überzeugen. Hier zeigt sich einmal mehr, dass eine gute Übersetzung oft dort entsteht, wo jedes einzelne Buch mehr ist als eine Ansammlung von Seiten zwischen zwei Deckeln. Die Buchgestaltung aus den Verlagen Guggolz, Secession und Die Andere Bibliothek ist mit viel Liebe zum Detail erfolgt, das fängt bei der äußeren Erscheinung an und setzt sich bis zur Ebene des Textsatzes fort. Mit diesen Büchern hat man also auch sensationell schöne Bücher in der Hand – zugegeben keine literarische, aber doch eine buchkulturelle Kategorie, die hier Erwähnung finden soll. Dass aber nur beim Guggolz Verlag sowie bei der Rowohlt-Ausgabe die Übersetzenden auf dem Buchdeckel stehen, zeigt, dass eine schöne Gestaltung allein noch keinen Sommer macht.
Bei Preisen wird oft danach gefragt, welche Leseanregung eine Jury da geben will. Bei der diesjährigen Ausgabe des Preises der Leipziger Buchmesse gibt es spannende Querverbindungen zwischen den nominierten Übersetzungs- und Belletristik-Titeln. Judith Hermann etwa, die mit ihrem Roman »Daheim« im Rennen ist, hat das Nachwort zu Tarjei Vesaas Roman »Die Vögel« geschrieben und Vesaas schwebender Ton findet sich auch in »Daheim« wieder. Viel direkter ist die Verbindung zwischen Iris Hanikas »Echos Kammern« und zu John Dos Passos, auf dessen Roman »Manhattan Transfer« sich die Erzählerin ihres Romans bezieht. Man könnte aber auch Bezüge zu Miklós Szentkuthy ziehen, denn während der sich in seinen Notizen einem der größten Narzissten der Literaturgeschichte widmet, geht Hanika dem Narzissmus als Zivilisationskrankheit über eines seiner berühmtesten Opfer auf den Grund. Es ließen sich auch Linien zwischen Friederike Mayröcker und Rosmarie Waldrop ziehen, deren Texte in ihrer ungewöhnlichen formalen Gestalt auffallen. Liest man Mayröckers »Proeme« aber als Tagebuch, dann wären auch Parallelen zu dem Ungarn nicht abwegig, während Waldrops Aufarbeitung einer Familiengeschichte wiederum mit Christian Krachts »Eurotrash« in Beziehung tritt. Bleiben Helga Schubert und Louis-Karl Picard-Sioui, die sich kaleidoskopisch erzählend ihrem jeweiligen Sujet nähern – Schubert der eigenen Biografie in Erzählungen, Picard-Sioui den Bewohner:innen der Hauptstadt eines Reservats in Kanada.
Man darf gespannt sein, ob sich genreübergreifend ein Programm durchsetzt oder ob die Leipziger Jury auf eine Mischung setzt. In jedem Fall gilt für beide Kategorien, dass die Jury eher nicht auf epische Prosa, sondern auf Stil und Komposition geachtet hat, als sie ihre Nominierungsliste zusammengestellt hat. Das allein zeigt, dass sich das Vorgehen vieler, vor allem unabhängiger Verlage durchgesetzt hat, verlässlich einem Weg zu folgen, statt Trends hinterherzurennen. Das ist schon vor der Preisverleihung ein gutes Zeichen.