Literatur, Roman

Berichte aus der Prärie

Mit ihrer Erzählung »Vom Aufstehen« gewann Helga Schubert im vergangenen Jahr achtzigjährig den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nun legt sie unter gleichnamigem Titel 29 bewundernswerte Erzählungen vor, die »Ein Leben in Geschichten« vorbeiziehen lassen. Es ist eine triumphale Rückkehr auf die Bühne der Literatur.

»Ich bin ein Kriegskind, ein Flüchtlingskind, ein Kind der deutschen Teilung«, gesteht Helga Schubert gleich zu Beginn der sechsten von ingesamt 29 Erzählungen, die sie in ihrem Post-Bachmann-Triumph-Band, dem ersten Buch seit fast zwanzig Jahren, versammelt hat.
Dass Helga Schubert ein Kind der deutschen Teilung ist, wissen ostdeutsch sozialisierte Lesende schon immer, denn in der DDR war Helga Schubert eine der ganz großen Autorinnen. Westsozialisierte Literaturinteressierte könnten es seit 1980 wissen, als sie zwar zum Bachmann-Wettbewerb eingeladen wurde, ihr die DDR-Führung aber keine Ausreisegenehmigung erteilte. Die Episode dieser, aber auch der darauf folgenden politischen Intervention rund um den Hans-Fallada-Preis 1993 – den sie exakt zehn Jahre später im wiedervereinigten Deutschland dann bekam – arbeitet Helga Schubert in ihren Geschichten auf.

Dass Helga Schubert vor allem auch ein Kriegs- und Flüchtlingskind ist, wird in ihren neuen Erzählungen besonders deutlich. Sie schildert ihre Erinnerungen der Flucht aus Pommern, genauer gesagt aus Hinterpommern, wo ihr Großvater seine Wurzeln hatte. Dahin trieb es die Tochter dieses Großvaters im Krieg zurück, nachdem ihr Mann – der Vater der Autorin – beim Russlandfeldzug sein Leben verlor. Beinahe wäre damit das Schicksal der Familie besiegelt gewesen, denn als die Russen vorrückten, verließ die Familie im Morgengrauen den Hof, ohne die Mutter der Autorin und ihr damals fünfjähriges Kind zu informieren. Zufällig wurden sie wach, flohen auf einem Pferd bis in die nächste Stadt, dann auf dem Lkw eines deutschen Soldaten weiter über Swinemünde auf die deutsche Seite der Ostseeküste und von dort bis zu den Schwiegereltern nach Greifswald. Dort angekommen erkrankte Helga schwer, die Russen übernehmen Greifswald und dennoch schaffen es Mutter und Tochter, durch die Zeit zu kommen.

»Ich habe drei Heldentaten vollbracht, die dich betrafen«, wird Helga Schubert später von ihrer Mutter hören. »Erstens: Ich habe dich nicht abgetrieben, obwohl dein Vater das wollte. …Zweitens: Ich habe dich bei der Flucht aus Hinterpommern bis zur Erschöpfung in einem dreirädrigen Kinderwagen im Treck bis Greifswald geschoben, und drittens: Ich habe dich nicht vergiftet oder erschossen, als die Russen in Greifswald einmarschierten.« Das ist das heroische Vermächtnis einer Mutter, die auf ewig Kriegswitwe blieb, an ihrem Schicksal nicht verzweifelte, aber verbitterte und bis zum Ende ihre Tochter nie so richtig liebte. Dass Helga Schubert, die eigentlich den bürgerlichen Namen Helga Helm trägt, in den Sechzigern Psychologie studierte und bis in die Achtziger hinein als Psychotherapeutin aktiv war, ist sicherlich auch auf diese herausfordernde Mutter-Tochter-Beziehung zurückzuführen.

Helga Schubert: Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten. dtv Verlag 2021. 224 Seiten. 22,00 Euro. Hier bestellen.

In einigen ihrer Erzählungen geht Helga Schubert dieser Beziehung in all ihren Dimensionen auf den Grund. Da spürt sie der verworrenen Familiengeschichte in den vorangegangenen und nachfolgenden Generationen nach, ergründet die Bedeutung des frühen Verlusts von Ehemann und Vater und beleuchtet das Familienleben im »Zwergenland« DDR, und im wiedervereinigten Deutschland.

Vor allem widmet sich Schubert den eigenen Geistern und Dämonen, dem Schmerz der fehlenden Mutterliebe, der fehlenden Freiheit und der Suche nach einer neuen inneren Heimat, die sie in der Prärie Mecklenburgs mit all seinen Wasserlöchern und Torfgruben gefunden hat. In einem kleinen Dorf in der Nähe von Wismar, wo sich die Leute aufhängen, wenn sie alles geregelt und genug vom Leben haben. Vielleicht weil diese Melancholie von Landschaft und Leuten am besten ihre eigene Demut im Leben spiegelt. Helga Schuberts schonungsloses Umkreisen der eigenen schwarzen Löcher, die nicht einmal die haltgebende christliche Lehre füllen kann, machen diese Texte so lesenswert.

In der Erzählung »So fallen die Schatten hinter dich« denkt Schubert über die Moral der biblischen Geschichte um Lot und seine Frau nach. Als diese sich bei der Flucht aus Sodom und Gomorrah umdreht, erstarrt sie zur Salzsäule. »Hat sie Furchtbares gesehen und konnte das nicht aushalten – oder war es die Strafe des Herrn für ihren Ungehorsam?«, fragt Schubert, wissend, dass sie sich selbst nicht an Gottes Gebot hält. Und wenn es nur im Zug ist, wo sie immer gegen die Fahrtrichtung sitzt und in die entschwindende Landschaft blickt. »Ich sehe in die Vergangenheit, wende mein Gesicht in Schatten und spüre die Wärme der Sonne in meinem Rücken.«

Aus dieser Vergangenheit hat Helga Schubert 29 Geschichten zu Tage befördert, die zu lesen sich jede einzelne lohnt. Manche sind nur zwei, andere zwanzig Seiten lang. Die einen gehen nur einem Gedanken nach, andere folgen der Linie eines ganzen Lebens. Einem Leben, dem die Wiedervereinigung noch einmal eine neue Wendung gegeben und ein Ankommen an einem Ort möglich gemacht hat, der für eine Zeit von 28 Jahren keine Heimat sein wollte.

»Denn immer müssen sich die Jungen in Deutschland den Irrsinn ihrer Eltern und Großeltern in Museen und Gedenkstätten ansehen und sollen daraus für dich etwas lernen, für ihre eigene Urteilskraft, ihre Lebensbewältigung, ihr Verständnis, ihre Toleranz, ihre Wertvorstellungen«, heißt es in der Erzählung »Das eingelöste Versprechen«. Ihre Erzählungssammlung umfasst ihr lebenslanges Ringen mit der eigenen Biografie, dem frühen Verlust des Vaters, den Kämpfen mit ihrer Mutter, den politischen Brüchen und biografischen Wunden. Wer »Vom Aufstehen« liest, kann sich einige Besuche in Museen und Gedenkstätten sparen, weil man dort auch nicht besser lernen kann, welche Verheerungen über der Generation der Autorin und ihrer Eltern liegen und wie man damit seinen Frieden machen kann.

Helga Schubert ist jetzt 80 Jahre alt, diese Rückkehr auf die literarische Bühne ist ein Triumph, der von der Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse gekrönt ist. Sollte sie den Preis – für den auch Friederike Mayröcker, Judith Hermann, Iris Hanika und Christian Kracht nominiert sind – tatsächlich erhalten, wird das der Anfang der späten Neuentdeckung ihres Werkes sein.

In »Vom Aufstehen« schreibt sie am Ende: »Ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht sehr hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz.« Schöner kann ein Nachdenken über das eigene Leben kaum ausklingen. Dass an diesem Schatz dank dieser Erzählungen jede:r Leser:in teilhaben kann, ist ein Geschenk.