Essay, Sachbuch

Ausgezeichnet dissonant

Was heißt es, in Europa schwarz zu sein. Der britische Essayist und Fotograf Johny Pitts hätte einfach seine eigenen Erfahrungen schildern können. Er hat sich für einen anderen Weg entschieden und ist durch ganz Europa gereist. Für sein Buch »Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa« erhält er nun den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung.

Johny Pitts ist längst angekommen in Europa. Der Autor, Fotograf, Musikjournalist und Fernsehmoderator ist vielfach ausgezeichnet und nichts wäre einfacher, als zufrieden zu sein damit, nicht nur Teil des journalistischen Establishments zu sein, sondern den Erfolg der eigenen Community in Europa abzubilden. Das war zumindest sein Plan, als er das erste Mal darüber nachdachte, die afropäische Identität in Europa zu erkunden.

Vielleicht wäre es dabei auch geblieben, wenn er nicht in den Dschungel gegangen und anders aus ihm zurückgekommen wäre. Der Dschungel ist in dem Fall kein tropischer Urwald, sondern das Hafengebiet von Calais, wo zahlreiche irregulär eingewanderte Flüchtlinge darauf warten, irgendwie nach England zu kommen. Dort traf er auf den jungen Somalier Hisham, der alles verloren hatte und nun in einer zugigen Bretterbude im französischen Nirgendwo darauf wartete, dass es das Leben noch einmal gut mit ihm meinte. Nachdenklich verließ Pitts das von Sicherheitskräften beobachtet Areal. Auf seinem Weg zurück nach England wurde er von französischen Polizeikräften verfolgt, festgehalten und befragt, weil sie ihn für einen illegal Eingewanderten hielten. »Meine Haut hatte mein Europäischsein verborgen, ‚europäisch’ war immer noch ein Synonym für ‚weiß‘«, schreibt er zu Beginn seines lesenswerten Reiseberichts durch das schwarze Europa.

Durch ein knappes Dutzend Städte ist Pitts gereist, acht Städten widmet er in seinem Buch ein eigenes Kapitel: in Paris erinnert er an James Baldwin und trifft er sich mit Akademikern aus der Karibik sowie Aktivisten aus Schwarzafrika, die gemeinsam gegen die rassistische Diskriminierung mobil machen. In Brüssel und Amsterdam wühlt er sich durch die dunklen Schatten der Kolonialgeschichte der Länder und erfährt von einer schwarzen kommunistischen Bewegung. In Berlin gerät er in eine antirassistische Demonstration, bei der ihm auffällt, dass die Protestierenden in großer Überzahl weiß sind und wenig versöhnlich auftreten. In Stockholm trifft er auf eine junge schwarze Frau, in deren Auftreten er sich erst selbst wiedererkennt, die ihn dann aber mit einer Polemik über die Wehleidigkeit vieler Schwarzer irritiert. Von dort geht es weiter nach Moskau und St. Petersburg, wo er über Puschkins afrikanisches Erbe nachdenkt, bevor er auf ein paar von Rechtsextremen eingeschüchterte Aktivisten trifft. Aus Osteuropa reist er weiter nach Südeuropa, an die Côte d’Azur, wo er sich angesichts des entspannten Miteinanders von Menschen unterschiedlicher Herkunft erstmals gut aufgehoben fühlt. Von dort reist er schließlich mit dem »Nachtzug nach Lissabon«, wo er Menschen in der Vorstand Cova da Moura trifft, die er über die von ihm ins Leben gerufene Website afropean.com aufgespürt und kontaktiert hat.

Johny Pitts: Afropisch. Eine Reise durch das schwarze Europa. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm. Suhrkamp Verlag 2021. 461 Seiten. 26,00 Euro. Hier bestellen.

Spannend sind diese Berichte vor allem, weil Pitts nicht urteilt oder erklärend einordnet, sondern die menschen, auf die er trifft, für sich sprechen lässt. So entsteht ein vielstimmiger Chor afropäischer Stimmen, der – so viel Ehrlichkeit muss sein – aber keine Harmonie findet, sondern dissonant bleibt. Das mag auch daran liegen, dass sich die Suche zum einen auf die kosmopolitisch offeneren Großstädte beschränkt (was Pitts selbst bedauert) und zum anderen die große Mitte zwischen den etablierten Intellektuellen und Civil-Rights-Aktivisten einerseits und den irregulären Einwandernden, Neuankömmlingen und Putzfrauen in den heruntergekommen Vorstädten andererseits fehlt. Gerade mit Blick auf diese Dissonanzen wird deutlich, dass Fragen von Klasse, sozialem Status und Chancengleichheit bei einer Untersuchung des afropäischen Lebens nicht ausgelassen werden dürfen, um ein rundes Bild zu erhalten. Ein vollständiges Bild will Pitts aber auch gar nicht zeichnen. Der Untertitel des englischen Originals »Notes from Black Europe« macht dies deutlicher als die literarischere Übersetzung der von Helmut Dierlamm übersetzten deutschen Ausgabe.

Vielleicht ist das größte Verdienst von Pitts’ Suche nach einer kollektiven afropäischen Identität, dass sich eine solche gar nicht finden will. Im Interview mit der Wochenzeitung der freitag räumte Pitts dies auch ein: »Nur weil Menschen die gleiche Hautfarbe haben, heißt das noch nicht, dass sie miteinander klarkommen. Es geht um ein Konzept der Blackness als politisches Projekt. Vergleichbar mit der Idee der Intersektionalität, bei der Feministinnen, Queere und vielleicht auch Schwarze sagen: Hey, wir haben gemeinsame Feinde und oder Dinge, die wir bekämpfen, vielleicht kommen wir ja als Gruppe weiter. Und darum geht es auch in meinem Buch: Ich versuche nicht eine monolithische Identität zu konstruieren, die alle Schwarzen in Europa im selben Club vereint. Es geht mir darum, zu zeigen, wie schwarze Communities miteinander ins Gespräch kommen und ihr Wissen teilen können, weil sie vieles gemeinsam haben.«

Der Begriff »afropäisch« bzw. »afropean« stammt aus der Popmusik der 90er Jahre, aus dem Umfeld von den Talking Heads. Deren ehemaliger Frontmann David Byrne und die belgisch-kongolesische Sängerin der Band Zap Mama sollen ihn eingeführt haben, erfährt man in der Einleitung von Pitts Buch. Er bezog sich auf Fragen von Mode und Musik, wo es möglicherweise einfacher ist, eine Gemeinsamkeit festzumachen. Dass bei der kulturellen Vielfalt afrikanischer Kulturen – die hier weder mit dem die Karibik einschließenden »Negritude«-Ansatz übereinstimmen noch auf den afrikanischen Kontinent als Herkunftsregion beschränkt bleiben – dies dennoch ein recht grober Klotz ist, räumt auch Pitts ein. Das, was anfangs eine recht utopische Idee war, ist nach seiner Reise ein grenzenloser Ort der Möglichkeiten. »Ein Ort des Kampfes und der Hoffnung, der großen Dramen und stillen Nuancen, der Schlussfolgerungen und der Mehrdeutigkeiten, der Verbindungen und der Gegensätze.«

»Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa« lässt uns diesen Ort lesend bereisen – in einer Zeit, in der Reisen selbst etwas Utopisches innewohnt. Nicht zuletzt dieser Umstand macht dieses Buch zu einer der passendsten Lektüren dieser Tage. Am Mittwoch erhält Johny Pitts dafür den diesjährigen Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung.

Johny Pitts ist ein Bricoleur, ein erleuchteter, menschenfreundlicher Bastler im Lévi-Strauss‘schen Sinne, einer, dessen Wahrnehmung nicht von Auftrag und Ideologie geprägt ist, einer, der im besten Sinne kontinuierlich an seinem Weltbild bastelt. Mit wenig Geld und einem Interrail-Ticket hat er sich aus den industriellen Brachen Nordenglands auf den Weg gemacht, um in den Metropolen Europas jener Lebenserfahrung nachzuspüren, die er gleichsam versuchsweise als ‘afropäisch’ bezeichnet. Es ist eine Reise in die schwarze Diaspora, eine Reise ins ‘inoffizielle’ Europa, unter Menschen, deren unsicherer, harter Alltag meist unbemerkt bleibt. Selbst Sohn einer weißen Arbeiterin aus Sheffield und eines schwarzen Soul-Sängers aus New York, dessen Mutter noch auf den Baumwollfeldern South Carolinas arbeitete, lässt er seine nachdenkliche, einfühlsame Reportage auch zu einer Suche nach der eigenen Identität werden. Die afropäische Erfahrung ist nicht monolithisch, sie ist vielfältig, widersprüchlich und schwer zu greifen, sie ist stets unsichtbar und unklar, ein notdürftig mit Bindestrichen zusammengehaltenes postkoloniales Phänomen. Johny Pitts Versuch, aus dem Disparaten ein kohärentes Bild zusammenzusetzen, ist eine von Hoffnung und Melancholie getragene Bricolage. Der Blick, mit dem er die Menschen und ihre Lebensgeschichten aufnimmt, macht sie sichtbar und schenkt ihnen Würde. ‘Afropäisch’ ist ein großes, auf fruchtbare Weise unfertiges Werk, das sein Autor, so ist es zu hoffen, fortsetzen wird. Es wäre uns allen, und Europa, zu wünschen.

Begründung der Jury des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung 2021

Das Titelbild ist der Website von Johny Pitts www.johnypitts.com/ entnommen. Die Bildrechte liegen bei Johny Pitts.