Erzählungen, Literatur

Leuchtende Bernsteine

© Thomas Hummitzsch

Die verblüffenden Erzählungen des ungarischen Autors Dénes Krusovszky macht die Fragilität der Männlichkeit zwischen Fussballstadion und queerer Existenz sichtbar. »Das Land der Jungen« ist eines, in dem Ambivalenz die Eindeutigkeit schlägt.

Mann ein Mann?«, fragte Herbert Grönemeyer männlichkeitstrunken schon Mitte der Achtziger Jahre. Seither ist die Frage weder beantwortet noch hat die Diskussion darum abgenommen, auch weil die Kriege an den Rändern Europas längst überkommen geglaubte Männlichkeitsmuster wiederbelebt haben. Zugleich werden männlich gelesene Promis wie Harry Styles oder Tom Holland in ihrer ambivalenten Inszenierung von Gender-Fluidität und sexueller Identität als Vorreiter einer neuen Männlichkeit gefeiert.

Die neun verblüffenden Geschichten des ungarischen Autors Dénes Krusovszky beweisen, dass man die Frage der Fragilität des Männlichen auch abseits der identitätspolitischen Debatten augenöffnend diskutieren kann. Alles, was es dazu braucht, ist ein genaues Gespür für die traditionellen Rollenmuster und Erwartungshaltungen im Alltag sowie den Mut, hinter die Fassaden solcher Gewissheiten zu schauen, wo Unsicherheit, Empfindsamkeit, Enttäuschungen und Ängste liegen. Selten hat man in einer so klaren wie nüchternen Sprache von der Scham männlichen Versagens, der Sehnsucht nach Zärtlichkeit und der Angst vor der Einsamkeit lesen können.

Dénes Krusovszky: Das Land der Jungen. Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Die Andere Bibliothek 2024. 264 Seiten. 48 Euro. Hier bestellen.

Der autofiktionale Text »Bevor mein Vater zersägt wurde« ist eine der funkelndsten Geschichten in dieser schwer beeindruckenden Sammlung. Der kindliche Erzähler blickt darin auf den Sommer zurück, in dem sein Vater den Job verlor, anfing zu trinken und die Streitereien seiner Eltern ihren Anfang nahmen. Teilweise wurde es so laut in der Küche, dass sein kleiner Bruder vor lauter Angst in Tränen ausbrach. Er erinnert sich, wie der Vater eines Morgens nicht mehr auf dem Sofa lag, wie seine Mutter vergaß, ihn von der Schule abzuholen und er sie daraufhin in ihrem Büro in den Armen eines anderen Mannes erwischte.

Der Vater aber will nicht aufgeben, weder den Alkohol noch seine Ehe und schon gar nicht seine Kinder. Er besucht mit ihnen einen Zirkus, wo er sich im Übermut der Trunkenheit als Freiwilliger für den Trick der zersägten Jungfrau meldet. In dem Moment werden der Erzähler und sein Bruder von ihrem Großvater abgeholt. Die Geschichte endet mit einem letzten Blick zurück zu dem betrunkenen Vater, der in der Mitte der Manege zur Belustigung der Menge herhalten muss. »Der Kerl in Schwarz fing da gerade an, meinen Vater zu zersägen, der, eingeschlossen in die Kiste, tobend seinen Kopf schüttelte und schäumend, tierische Laute von sich gebend brüllte, und die Zuschauer johlten und kreischten immer mehr, weil sie dachten, er spielte einfach nur so gut, dass es ihm wehtat.«

Schrecken und Verletzlichkeit, Verbitterung und Sehnsucht, Staunen und Melancholie – das sind die Themen, um die sich Krusovszkys Erzählungen drehen. Das klingt nach Weltflucht, ist jedoch das komplette Gegenteil. Der 1982 geborene und vielfach ausgezeichnete Autor geht in alltäglichen Szenen den Erschütterungen der Männlichkeit nach, die Landeier in der ungarischen Pampa ebenso trifft wie Hipster in Manhattan. Da ist der junge Mann, der in einer Hundestation arbeitet und plötzlich einen Wurf Kätzchen loswerden muss. Die Skrupellosigkeit, die das verlangt, kann er nicht aufbringen, lieber will er den flauschigen Jungkatzen »einzeln über den Rücken streicheln, den Bauch kraulen, etwas sagen«.

Mit dem Unterschied zwischen Streicheln und Schlagen hätte sich auch der Ich-Erzähler in »Tiefere Schichten« auseinandersetzen sollen. Stattdessen muss er sich mit der eigenen Schuld am Missbrauch einer jungen Frau durch seinen Mitbewohner auseinandersetzen. Eine dritte Geschichte folgt zwei halbstarken Jungs, die nach einem Fussballspiel zwischen die Fronten von Hooligans und Polizei geraten. »Die Knie fingen zu zittern an, sie sahen sich an, hier sollten sie nicht sein, das wussten sie.« Der Ausweg, den der Ungar zumindest einem der beiden Jungs offeriert, ist so magisch wie realistisch und erinnert an Großmeister des Genres wie Jorge Luis Borges oder César Aira.

Im Gespräch zum Buch erklärt der Gründer der Dichtergruppe »Telep« und Chefredakteur der Lyrik-Website »Versum« dass ihn die Fragilität der Männlichkeit aus zwei Perspektiven interessiert habe: »einerseits als eine Erwartung, die Männer oft an sich selbst stellen, und als eine Art Konformitätsdruck, der von außen kommt. Zum anderen als Symptom einer Krise. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich die traditionellen sozialen Rollen weitgehend aufgelöst, die alten Schablonen sind leer geworden, aber das spiegelt sich nicht immer auf der individuellen Ebene wider. Heute scheinen viele Menschen eine Krise der männlichen Rolle zu erleben, sie erinnern sich an die alten Formen, aber sie wollen sie nicht leben, die neuen Formen sind aber noch nicht gefunden, oder sie fühlen sich darin nicht sicher.«

Es ist Terézia Mora zu verdanken, dass wir diese aufregenden und unheimlich packenden Erzählungen in der Hand halten. Die Buchpreis- und Büchnerpreis-Trägerin hat den Ungarn für das deutsche Publikum entdeckt und die klingende Übersetzung dieser geschliffenen Prosa beigetragen. Dank ihrem sicherem Gespür für Sprache und Atmosphäre leuchten Krusovszkys Erzählungen wie Bernsteine, in denen verschiedene Gewissheiten von Männlichkeit eingeschlossen sind. Lesend halten wir sie gegen das Licht, drehen und wenden sie, um diese Grundannahmen in all ihren Dimensionen zu betrachten und zu entzaubern. Am Ende bleibt wenig von dem harten Kern übrig, der dem Männlichen unterstellt wird.

In der titelgebenden Geschichte »Das Land der Jungen« sieht der Ich-Erzähler die Sachen aus seinem alten Kinderzimmer noch einmal durch, bevor die Mutter sie spendet. Er bleibt an einer blauen Hose hängen, die er vor Jahren gekauft hat. Sie erinnert ihn an einen Tag, an dem er seine damalige Freundin ins Krankenhaus begleitete. Er erinnert sich daran, wie er sie dort zurückließ und als Alibi für diesen Tripp in die Stadt die Hose kaufte, während sie sich den Unterleib ausschaben ließ. Als er seine kraftlose Freundin abholte, wurde ihm bewusst, dass er von der Härte des Lebens nicht wirklich etwas begreifen kann. »Ich bin ein Mann, jetzt bin ich zu einem geworden und nicht früher, als wir Liebe miteinander machten, sondern jetzt, da ich einsam und dumm auf dem zugigen Flur der Abteilung für Frauenheilkunde stehe.«

Dénes Krusovszkys Land der Jungen und Männer ist eines, in dem Ambivalenz die Eindeutigkeit schlägt. In dem Verletzlichkeit die Gewalt nicht ablöst, sondern neben sie tritt und der Wirklichkeit eine Doppelbödigkeit gibt, die Überzeugungen infrage stellt und Männlichkeit neu denken lässt. Über die Konfrontation mit den Gegebenheiten führt der Ungar seine Figuren und uns Leser:innen auf neues, unbekanntes Terrain.