Ein Mann muss aus seinem Haus ausziehen und weiß nicht, wohin mit seiner über 20.000 Titel umfassenden Bibliothek. Er beschließt, aus seinen Büchern ein Haus zu bauen. Er richtet sich inmitten von Weltliteratur ein. Als eine ehemalige Geliebte ein Buch zurückfordert, gerät die Wirklichkeit auf eine schiefe Bahn. Carlos María Domínguez’ Novelle »Das Papierhaus« ist ein Kleinod des magischen Realismus.
Es ist nicht verbrieft, wie viele Seelen die amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson auf dem Gewissen hat, die junge Literaturdozentin Bluma Lennon gehört aber zweifelsfrei dazu. Als sie, in einen Gedichtband von Dickinson vertieft, eine Straße überquert, wird sie von einem Auto erfasst und stirbt an den Folgen des Aufpralls. Ein paar Wochen später erreicht ihren Nachfolger – der Ich-Erzähler in Das Papierhaus – ein stark verschmutztes Exemplar von Joseph Conrads Roman Die Schattenlinie, zu dem er nie einen echten Zugang gefunden hat. Hinter dem Buchdeckel findet er, wie einen Liebesgruß aus dem Jenseits, eine handschriftliche Widmung von seiner gerade verstorbenen Freundin. Er ist jedoch nicht für ihn bestimmt, sondern »für Carlos als Andenken an die verrückten Tage in Monterrey«.
Der argentinische Literat Carlos María Domínguez ist der Verfasser dieser ganz in der Tradition des magischen Realismus verankerten Erzählung. Seit Juan Rulfo 1955 seinen Roman Pedro Páramo veröffentlicht und damit den Beginn der modernen lateinamerikanischen Literatur markiert hat, gibt es keine Erzähltradition, die stärker mit der Literatur zwischen Argentinien und Mexiko verbunden wird. Im Kern der Literatur von Jorge Luis Borges, Ernesto Sábato, Adolfo Bioy Casares, Roberto Bolaño oder Gabriel García Márquez steckt ein »irrealer Realismus«, der – wie Daniel Kehlmann in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen Kommt, Geister schreibt – in Frage stellt, »wie sich die Kausalität des Menschenlebens und die Kausalität des Erzählens zueinander verhalten«.
In Domínguez schmaler, aber umso faszinierender Erzählung geht es genau um dieses Aufeinanderprallen von Realität und Fiktion. Das, was mit dem menschlichen Verstand allein zu greifen ist, hilft hier nicht, will man den Zauber dieser Novelle verstehen.
Als Leitmotiv dient die Suche des Erzählers nach dem Absender des verschmutzten Buches, denn er will es ihm zurückgeben. Der einzige Anhaltspunkt für die Herkunft dieser Ausgabe von Die Schattenlinie liegt in den uruguayischen Briefmarken und der Ortsangabe Monterrey in der Widmung. In der mexikanischen Stadt hat die Verstorbene vor Jahren an einer Literaturtagung teilgenommen. Über Umwege findet der Erzähler heraus, dass an dieser Tagung auch ein Carlos Brauer teilgenommen hat, dem die gerade Verstorbene nahe gekommen sein soll. Als der Erzähler seine argentinische Heimat besucht, hat er das Buch im Gepäck, um es Brauer zurückzugeben. Er reist den wenigen Spuren nach, die dieser hinterlassen hat. Dabei begegnet er dem Antiquar Jorge Dinarli, der ihn wiederum an Brauers langjährigen Freund Agustín Delgado verweist.
Er trifft auf einen veritablen Liebhaber des gedruckten Buches, der von sich selbst behauptet, »ich vögele mit jedem Buch«. In ihm findet der Erzähler einen kompetenten Gesprächspartner, um über die mehr oder weniger seltsamen Berührungspunkte von Literatur und Leben zu diskutieren. So werden in diesem Roman die Fragen erörtert, die sich jede lesende Person irgendwann einmal gestellt hat: Warum hebt man Bücher auf, die man nie wieder liest? Wie sortiert und wie aktualisiert man seine Büchersammlung, ohne die »reale Ordnung der Gefühle« – gemeint sind Streitigkeiten zwischen Autoren oder gegenseitige Werkbezüge – zu ignorieren? Woran erkennt man ein erzählerisch gutes Buch und worauf kommt es bei einer gelungenen Buchseite an?
»Wer sich eine Bibliothek aufbaut, der baut sich ein ganzes Leben auf. Sie ist nämlich nie die Summe ihrer einzelnen Exemplare«, heißt es in Domínguez schmalen Buch. Kaum einer weiß das besser, als eben jener Carlos Brauer, dessen Geschichte Delgado dem Erzähler übermittelt. Als Freund des gedruckten Buches hatte er sich über Jahre ein Familienleben inmitten seiner Bücher aufgebaut, dass nach der Begegnung mit Bluma Lennon Stück für Stück zusammenbrach. Irgendwann war seine Ehe am Ende, aber niemals seine Bibliophilie. Allerdings stand er, nachdem ihn seine Frau vor die Tür gesetzt hatte, vor dem Problem, nicht mehr zu wissen, wohin mit all seinen Büchern. Zumal bei einem Brand seine Kartei verlorengegangen ist, anhand er sich inmitten seiner Bücher orientieren konnte. Was machte also dieser Büchernarr? Er warf die alte Ordnung über den Haufen und verband seine Wohnungssuche mit dem Problem des Platzmangels für seine Bibliothek. Deshalb zog er mit seinen Büchern an die Küste und ließ »seine Bücher als Ziegelsteine« zu einem Papierhaus verzementieren.
Und plötzlich scheinen sich die vielen losen Enden im Kopf des Erzählers zu einer gemeinsamen Linie zu verbinden. Dem Papierhaus an einem südamerikanischen Strand war es gelungen, »mich für diese Schattenlinie empfänglich zu machen: eine unbekannte Dimension, die Inhalt und Medium des gedruckten Wortes in einem merkwürdigen Spiel vereint.«
Doch dann tauchte plötzlich Bluma Lennon auf und forderte ihr Exemplar von Joseph Conrads Schattenlinie zurück. Auf der Suche nach dem Buch zertrümmerte Brauer Stück für Stück sein Papierhaus. Mit jedem herausgeschlagenen Buchstein geriet das Haus mehr ins Wanken. »Das Ganze wurde wackelig, bauchig und war nicht mehr in Ordnung zu bringen.« Als er das Buch findet, schickt er es ihr, leidlich gereinigt, zurück. »Das Buch im Regen kam zu spät, um Bluma zu überraschen, und machte für sie auch nichts besser. Aber ein Mann hatte mit seiner Brutalität, mit seiner Verzweiflung und seiner Gewissheit ihre Schattenlinie überschritten.«
Carlos María Domínguez schmaler, aber umso zauberhafteres Werk Das Papierhaus ist ein magisches Stück Literatur, dessen Hauptanliegen das Feiern des Buches und des Lesens ist. In Zeiten, in denen das eBook neben das gedruckte Exemplar tritt und am Markt als gleichwertig behandelt wird, liest und schwelgt man dankbar in diesem rundum magischen Kleinod des Buchdrucks und der Literatur, das, nachdem es jahrelang vergriffen war, nun endlich wieder im Buchhandel erhältlich ist.
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