Der wiederentdeckte Roman »The Street« von Ann Petry hat alles, was ein Klassiker braucht. Dreißig Jahre vor James Baldwin hat die afroamerikanische Autorin in Literatur gegossen, was es heißt, jung, schwarz und weiblich in einer amerikanischen Großstadt zu sein.
1944 sind die Straße in New York noch nicht völlig verwildert und auf die Polizei ist noch halbwegs Verlass. Und dennoch funktioniert sie, die soziale Schichtung der Klassen, die die Vermögenden in die gut betuchten Stadtteile führt, während es die Abgehängten und Armen in die Gosse spült.
Lutie Johnson hat eigentlich alles getan, um nicht zu den Armen zu gehören, die es nach unten spült, doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihr. Als ihr Mann seine Arbeit verloren, hat sie Verantwortung übernommen, um die Miete für das kleine Häuschen am Rande der Stadt aufzubringen. Doch »während sie das Haus einer anderen Frau geputzt und das Kind einer anderen Frau betreut hatte, war ihre eigene Ehe zu Bruch gegangen, in viele tausend Stücke, sodass sie nicht mehr gekittet, nicht mal zu einem Abklatsch ihrer selbst zusammengeflickt werden konnte.“ Also zieht die junge Mutter mit ihrem Sohn Bubb zurück zu ihren Eltern. Doch dort fällt ihr die Enge auf den Kopf, so dass sie für sich und ihren Sohn eine neue Bleibe sucht. Sie findet sie unter dem Dach eines heruntergekommenen Hauses am Ende einer Straße in Harlem.
»Die Straße unterschied sich für Lucies Empfinden kaum von anderen in den ärmeren Vierteln von New York. War höchstens noch stärker heruntergekommen. Die Fenster der Mietshäuser waren staubiger, und es gab mehr kleine Läden als in anderen Teilen der Stadt. Es spielten hier auch mehr Kinder auf der Straße, und es zogen mehr Leute ziellos herum.« Mit diesen Worten beschreibt die afroamerikanische Schriftstellerin Ann Petry in ihrem 1946 publizierten und 1982 erstmals ins Deutsche übersetzten Debütroman »The Street« die heimliche Hauptfigur ihres Romans. Der handelt von einer jungen Frau, die erlebt, wie diese Straße von ihrem Leben Besitz ergreift, wie sie Diskriminierung erlebt und daran zugrunde geht. Fast drei Jahrzehnte vor James Baldwins »Beale Street« landete sie mit dem Buch einen Sensationserfolg. Über 1,5 Millionen Mal verkaufte sich der Titel allein in den USA und machte sie schlagartig berühmt. Ihre Literatur sollte der Situation der schwarzen Bevölkerung und der Black History verpflichtet bleiben (siehe Video).
Das Haus, in das Lutie und Bubb Johnson einziehen, steht am Ende einer abzweigenden Sackgasse und ist ein Abbild der Gosse. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, auch weil im Stockwerk unter der jungen Mutter die robuste Ms. Hedges ein Privatbordell betreibt. Sehr zum Missfallen des schmierigen Hausmeisters Jones, der seine schäbige Zweizimmerwohnung neben dem Eingang mit seiner Freundin Min teilt. Die will er umso dringender loswerden, seit er Lutie Johnson die Wohnung unter dem Dach gezeigt hat. Sie wird zum Traum der schlaflosen Nächte des notgeilen Hauswarts, der von seiner Lebensgefährtin als »krankes, übergeschnapptes Tier« beschrieben wird. Als solches lässt er keinen Versuch ungenutzt, der jungen Mutter nahezukommen. Die aufmerksame Ms. Hedges durchschaut sein hinterlistiges Treiben und warnt ihn, die Finger von Lutie zu lassen, an der angeblich ein weißer Mann mit Einfluss Interesse haben soll.
Lutie ahnt von all dem nichts. Sie will nur so schnell wie möglich raus aus diesem Haus und dieser Straße. In Juntos Bar stößt sie auf Boots Smith, der mit seiner Jazzband sein Geld verdient und Lutie in Aussicht stellt, als Sängerin bei ihm anzufangen. Für die alleinerziehende Mutter ist dies die Chance, aus ihren lamentablen Lebensverhältnissen herauszukommen. Doch es ist nur der Anfang einer Erzählung, die von Ausbeutung und Sexismus handelt.
Ann Petrys vor über 60 Jahren geschriebener Roman hat alles, was ein Klassiker braucht, da er von einer frappierenden Universalität ist. Der Alltagsrassismus gegenüber der schwarzen Bevölkerung, der Masochismus der Nachkriegsgesellschaft und die Folgen der Klassengesellschaft hat Ann Petry in eine Literatur gegossen, die gleichermaßen konkret wie allgemeingültig ist. Aus den Köpfen ihrer Figuren heraus beschreibt sie deren Wahrnehmungen und Motive. So schafft sie ein Bild dieser sozial elendigen Welt, in der sich Lutie Johnson bewegt, fernab der typischen Klischees. in der »ja doch alle gleich« sind. Nein, ganz im Gegenteil, die vorwiegend schwarzen Charaktere in »The Street« sind höchst unterschiedlich, wobei jeder auf seine eigene Weise mit Benachteiligung und Diskriminierung zu kämpfen hat.
Zugleich gelingt es Petry, die Perspektive zu drehen und zu zeigen, wie die Abwertung von Menschen psychologisch funktioniert. Als Lutie einen Zeitungsbericht über den angeblichen Überfall auf eine Bäckerei liest, stößt sie auf eine Formulierung, die den schwarzen Verdächtigen als »kräftigen Neger« beschreibt. Auf dem Bild zum Artikel war jedoch zu sehen, dass es sich bei dem Festgenommenen um einen abgemagerten Mann handelte. »Wer das Ganze aus der Warte eines satten Wochenlohns betrachtete und Farbige für von Natur aus kriminell hielt, der sag den einzelnen Schwarzen ja gar nicht«, denkt Lutie in dem Moment. »Und zwar deshalb nicht, weil ein Schwarzer für ihn kein Individuum war. Der war eine Bedrohung, ein Tier, ein Fluch, eine Plage oder ein Witz.«
Uda Strätling, die Klassiker-Autoren wie Emily Dickinson, Henry David Thoreau oder Aldous Huxley ins Deutsche übersetzt hat, hat diesen Roman wunderbar flüssig übersetzt. So wie Lutie immer tiefer in das Elend der Straße gesogen wird, zieht Strätlings Übersetzung den Leser tief in die Handlung hinein. Die führt mit jedem Wort tiefer ins Verhängnis, Erlösung kann ein solcher Roman nicht liefern. »Denn »an einer solchen Straße wohnt niemand sehr lang und bleibt anständig. Früher oder später schafft sie jeden, denn sie saugt den Leuten die Menschlichkeit aus, langsam, sicher, unausweichlich.«
Das gilt nicht nur für die Figuren dieses Romans, sondern ganz grundsätzlich, wie Petry auch deutlich macht. Ja, es war eine schlechte Straße, in der Lutie neu anfangen wollte. Aber »es war nicht nur diese eine schlecht, sondern jede einzelne Straße, in der die Menschen eingepfercht würden wie Sardinen in der Büchse. Und es war nicht nur diese Stadt schlecht. Sondern jede Stadt, wo es diese Trennung gab und die Leute sagten: Schwarze hierhin, Weiße dorthin, und wo Schwarze so zusammen gezwängt wurden – auf engsten Raum gepackt und gedrückt, bis ihnen alles Licht und alle Luft genommen war.«
»Als Meisterin des Noir blickt Petry in den Abgrund, ohne zu stürzen. Ihre Geschichte ist düster, aber nicht deprimierend«, schreibt Tayari Jones, Autorin der black american family history »An American Marriage«, in ihrem Nachwort. »The Street« ist ein überwältigender Roman, der gegen solche Verhältnisse, wie es sie heute noch gibt, anschreibt. Fast 30 Jahre vor James Baldwins antirassistischem Kampf zeigt Ann Petry in ihrem suggestiven, vielstimmigen und erschütternden Roman, was es heißt, in einer amerikanischen Großstadt jung, weiblich und schwarz zu sein. Seine Wiederentdeckung in der sehr gelungenen Neuübersetzung von Uda Strätling ist ein Geschenk. Man kann nur hoffen, dass sie nach diesem Roman auch Ann Petrys Opus Magnum »The Narrows« neu ins Deutsche überträgt.
[…] Lutie Johnson hat eigentlich alles getan, um nicht zu den Armen zu gehören, die es nach unten spült, doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihr. Sie wird Opfer des Alltagsrassismus gegenüber der schwarzen Bevölkerung, des Masochismus der Nachkriegsgesellschaft und der Folgen der Klassengesellschaft. Lutie Johnson kämpft, doch kann sie auch gewinnen? Petrys vor über 60 Jahren geschriebener Roman hat alles, was ein Klassiker braucht, da er von einer frappierenden Universalität ist. Uda Strätling hat dieses bahnbrechende Werk neu ins Deutsche übertragen. Dreißig Jahre vor James Baldwin hat die afroamerikanische Autorin in Literatur gegossen, was es heißt, jung, schwarz und weiblich in einer amerikanischen Großstadt zu sein. Hier gehts zur ausführlichen Besprechung. […]
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