Allgemein, Klassiker, Literatur, Roman

Übersetzte Klassiker und gehobene Schätze

Der Autor des »Dschungelbuchs« Rudyard Kipling wäre in diesem Herbst 150 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass erscheinen gleich sechs seiner klassischen Werke in neuem Gewand. Mit Hochspannung erwartet werden die Übertragungen der Erstlinge von Harper Lee und Truman Capote sowie Neu- und Erstübersetzungen der Schlüsselwerke von Laurence Sterne, Henry David Thoreau, Henry James und Charlotte Brontë. Arno-Schmidt-Liebhaber können sich auf seine Übersetzung von Edward George Bulwer-Lyttons Porträt des viktorianischen Londons freuen.

Suhrkamp Verlag. 1.400 Seiten. 48,- Euro.
Suhrkamp Verlag. 1.400 Seiten. 48,- Euro.

Nennt man heute den Namen Edward George Bulwer-Lytton, dann ist dieser nur noch Wenigen ein Begriff. Dabei hat der Freund von Charles Dickens, der als Politiker im britischen Unter- und Oberhaus und zeitweise sogar als Kolonialminister aktiv war, mit seinem Roman Die letzten Tage von Pompeji die Grundlagen für das Science-Fiction-Genre gelegt.

Auch in Deutschland wurde Bulwer-Lytton viel gelesen, Richard Wagner vertonte seinen Roman Rienzi. Weniger bekannt, aber offenbar eine Wohltat für gestresste Intellektuellenseelen ist sein voluminöses Porträt der viktorianischen Gesellschaft in London. Die insgesamt sechs Bände seines quasidokumentarischen Romans Was wird er damit machen? – Nachrichten aus dem Leben eines Lords wurden von keinem Geringeren als Arno Schmidt aus dem Englischen übertragen und erscheinen nun in Halbleinen in einem edlen Schuber.

Mit den Finstermännern aus Londons Unterwelt, den verlorenen Söhnen und verzeihenden Vätern, den halbgelehrten Handwerkern, stotternden Predigern, Wanderschauspielern, den zarten Kindsbräuten und verliebten Ladys, von denen Bulwer-Lytton schreibt, soll sich Schmidt von seinem Monumentalwerk Zettel’s Traum erholt haben, wie es in der Verlagsankündigung heißt. Darin geht es um den vermögenden Lord Darrell und die von ihm geliebte Lady Montfort, die ebenso Opfer hinterhältiger Intrigen werden wie die arme Schauspielerin Sophie und ihr Anbeter Lionel Haughton. Sie alle verzweifeln an dem hinterhältigen Tun des gewissenlosen Diebs und Erpressers Jasper Losely. »Hinter der rasanten Handlung steht für den zeitlebens politisch engagierten Autor die Frage, welche Handlungsmöglichkeiten den Menschen im gesellschaftlichen Gefüge des 19. Jahrhunderts überhaupt bleiben. Die Armen, die Reichen, die Findigen und die Demütigen – was werden sie aus ihrem Leben machen?«

Die Neuedition von Arno Schmidts Übersetzung dieses epochalen Romans – zuvor als Taschenbuchausgabe im S. Fischer-Verlag erschienen – berücksichtigt erstmals bislang unveröffentlichte Randglossen des Übersetzers, die in die Tiefe des Werks und seiner Übertragung führen.


Verlag Galiani Berlin. 850 Seiten. 24,99 Euro.
Verlag Galiani Berlin. 850 Seiten. 24,99 Euro.

Bleiben wir bei Arno Schmidt, zumindest ein wenig. Laurence Sternes Aufklärungsroman Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman soll er als eines der zehn größten Bücher gelobt haben, die jemals in englischer Sprache geschrieben worden sind. Mit dieser Ansicht ist Schmidt bei weitem nicht allein. Lessing beklagte nach Sternes Tuberkulosetod im Alter von nur 55 Jahren, dass er ihm gern fünf Jahre seines Lebens abtreten würde, »mit der Bedingung, dass er hätte schreiben müssen, gleich was, Leben und Ansichten, oder Predigten oder Reisen«.

Friedrich Nietzsche bezeichnete nach der Lektüre des Romans seinen Autor als den »freiesten Schriftsteller aller Zeiten« und Thomas Mann frohlockte angesichts der »humoristischen Großartigkeit«. Die wohl eindrucksvollste, weil sprach- und literaturwissenschaftlich sowie rhetorisch fundierteste Lobeshymne schrieb aber Christoph Martin Wieland, der folgende Frage stellte: »Wo ist der Mann von Verstand und Geschmack, dessen Seele einen Sinn für die Launen des Genies, für Witz und Ironie, für attisches, britisches, Cervantisches, Rabelais’sches, und (was feiner und pikanter ist als alle vier übrigen Arten) für Yoricksches Salz hat; wo ist, sag ich, ein solcher Mann, in dessen Händen Tristram Shandy nicht schon wäre, der nicht lieber alle seine übrigen Bücher, und seinen Mantel und Kragen im Notfall dazu, verkaufen wollte, um dieses in seiner Art einzige, dieses mit allen seines Verfassers Wunderlichkeiten und Unarten dennoch unschätzbare Buch anzuschaffen, von Stund an zu seinem Leibbuch zu machen, und solange darin zu lesen, bis alle Seiten davon so abgegriffen und abgenutzt sind, dass er sich – zum größten Vergnügen des Verlegers – ein neues anschaffen muss?«

Nun erscheint dieser »Ur-Roman der Moderne« (Galiani Verlag) in der lange Zeit vergriffenen Übersetzung von Michael Walter, in der dieser die »genialisch-kniffligen Feinheiten und hochverzwickten Zweideutigkeiten« aus dem Original hervorholt. Paul-Celan-Preisträger und Joyce-Übersetzer Friedhelm Rathjen rühmte Walters Übertragung als »absoluten Meilenstein der deutschen Übersetzungsgeschichte«. Parallel zur Neuerscheinung wird der Bayerische Rundfunk den Roman in einem neunteiligen Hörspiel präsentieren, das vom Hörverlag in einer neunbändigen Edition veröffentlicht wird.


Nord-Süd-Verlag. 240 Seiten. 33,90 Euro / Edition Büchergilde. 300 Seiten. 25,00 Euro / Mare Verlag. 768 Seiten. 48,00 Euro / C.H.Beck Verlag. 104 Seiten. 14,95 Euro / Hanser Verlag. 512 Seiten. 29,90 Euro / S. Fischer. 464 Seiten. 19,99 Euro.

Rudyard Kiplings 150. Geburtstag wird eines der großen Literaturereignisse des Bücherherbsts werden. Seine beiden Dschungelbücher gehören zu den weltweit bekanntesten Kinderbüchern weltweit. Die Mowgli-Geschichten aus dem Dschungelbuch erscheinen nun ungekürzt, illustriert von Aljoscha Blau und in der Übertragung von Wolf Harranth in einer wunderschönen Leinenausgabe im kleinen Nord-Süd-Verlag, mit der der Kinderliteraturverlag (gemeinsam mit Saids Sindbad und L. Frank Baums Der Zauberer von Oz) eine neue, reich illustrierte Klassikerreihe startet.

Jubiläen wie Kiplings werden immer gern genutzt, um dem Gesamtwerk eines Autors mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dies ist auch bei Kipling der Fall. So erscheint bereits im Frühjahr sein Indienroman Kim in der vibrierenden Übersetzung von Andreas Nohl, der zuletzt Robert Louis Stevensons Schatzinsel in famoser Manier die Seefahrersprache zurückgegeben hat. Kim ist jahrzehntelang als Kinderbuch gelesen worden, Nohls Übersetzung präsentiert ihn nun als Schlüsseltext der Weltliteratur. Salman Rushdie soll nach der Lektüre dieses großen Textes gesagt haben, dass kein anderer westlicher Schriftsteller Indien jemals so tief verstanden habe wie Kipling.

Indien war Kiplings Zuhause, wie in seinen Reisebriefen und Reportagen, die nun erstmals vollständig in der Übersetzung von Alexander Pechmann unter dem Titel Von Ozean zu Ozean erscheinen, deutlich wird. Auf seinen Reisen zwischen den Handelszentren im Indischen Ozean und dem Herz des Wilden Westens in den Jahren 1887 bis 1889 wird er immer wieder von Heimweh eingeholt: »Ich will nach Hause! Ich will zurück nach Indien! Mir ist elend zumute«, schreibt er da. Mit spitzer Feder kehrt er das Groteske und Unerwartete aus seinen Alltagsbeobachtungen heraus und stellt seine eigenen kulturellen Vorurteile beherzt an den Pranger. Kipling wird uns hier als einer der »außergewöhnlichsten Reiseschriftsteller seiner Zeit« vorgestellt, der »seinem großen Vorbild Mark Twain in nichts nachsteht«.

Seine Erfahrungen auf See hat Kipling in seinem »Dschungelbuch der Meere«, dem fulminanten Roman Über Bord, aufgegriffen. Er erzählt hier die Geschichte des Millionenerben Harvey Cheyne, der eines Tages von Bord eines Passagierdampfers und damit aus der verwöhnten Welt der Privilegierten fällt. Er findet sich auf einem Kabeljaufischerboot vor Neufundland wieder und taucht ein in das ihm bislang verborgen gebliebene Universum der Seefahrt, des Fischfangs und müder Knochen Arbeit. In der Edition Büchergilde erscheint Kiplings Gesellschafts- und Seefahrerroman in einer edlen, an ein Logbuch erinnernden Leinenausgabe, übersetzt von Gisbert Haefs und reich illustriert von Christian Schneider.

Der Übersetzer von Sir Arthur Conan Doyle, Gisbert Haefs, hat für Kiplings Jubiläum noch eine weitere Übertragung beigesteuert. Schon im Frühjahr sind Die späten Erzählungen des britischen Journalisten und Nobelpreisträgers in seiner Übersetzung erschienen. Darin verarbeitet Kipling den Tod seines Sohnes und lässt, durch die eigenen Schmerzen mäandernd, eine Welt der Erinnerung entstehen, um einen Umgang mit dem schweren Verlust zu finden.

Dabei blickt er auch auf die Kindertage seines Sohnes John und dessen beiden Schwestern Josephine und Elsie zurück, denen er Geschichten zum Einschlafen vorgelesen hat. Einige davon, die Tierfabeln Wie der Leopard zu seinen Flecken kam – in denen er originell und mit Witz kindliche Fragen, wie etwa das Kamel zu seinem Höcker kam, warum der Elefant so einen langen Rüssel hat und wie das Alphabet entstand, beantwortet – erscheinen in der ursprünglichen Übersetzung von Sebastian Harms in der Klassikerreihe bei C. H. Beck.


Hanser Verlag. 704 Seiten. 39,90 Euro. / Manesse Verlag. 300 Seiten. 24,95 Euro.
Hanser Verlag. 704 Seiten. 39,90 Euro. / Manesse Verlag. 300 Seiten. 24,95 Euro.

Eben jener Michael Walter, der Tristram Shandy so grandios übersetzt hat, ist auch für die Neuübersetzung von Henry James Die Gesandten verantwortlich. Das Werk des Amerikaners, Zeitgenosse von Autoren wie Henri David Thoreau, Ralph Waldo Emerson und Nathaniel Hawthorne, steht im Licht der Reflektion des Konflikts zwischen Europa und Amerika, zwischen Tradition und Moderne, zwischen der Macht der Gefühle und der Macht der Pflicht. Vertiefend studieren kann man James komparativen Blick auf Die Europäer in der gleichnamigen Komödie, die in einer Übersetzung von Andrea Ott im Manesse-Verlag erscheint. Darin lässt er Männer und Frauen vom alten und neuen Kontinent aufeinanderprallen, sich aneinander reiben und schließlich miteinander ehelichen. In diesem Frühwerk greift er sein Lebensthema erstmals auf, bevor er seine Beobachtungen im nun neu übertragenen Entwicklungsroman Die Gesandten auf dem Höhepunkt seines Schaffens in einem verwinkelten Meisterwerk kulminieren lässt. In diesem Klassiker der amerikanischen Literatur geht es um den Amerikaner Chad Newsome, der nach einigen Jahren in Paris nach Massachusetts zurückkehren soll. Sein Vertrauter Lambert Strether wird geschickt, doch Chad hat keine Ambitionen zurückzukehren. Er hat sich in die französische Hauptstadt der Belle Epoque sowie in die zauberhafte Madame de Vionnet verliebt. Den Chad, den Strether holen soll, gibt es nicht mehr, und der Freund beginnt sich zu fragen, ob er diesen zum kultivierten Europäer gewandelten Landsmann nicht ins Unglück stürzt, wenn er seinen Auftrag ausführt. Bevor sich Henry James Todestag im kommenden Februar zum einhundertsten Mal jährt, kann man mit diesen beiden Neuübersetzungen einen der wichtigsten Autoren der amerikanischen Vormoderne wiederentdecken. Parallel dazu erscheint James schmaler Roman Die Drehung der Schraube in einer neuen Taschenbuchausgabe.


Suhrkamp Verlag. 608 Seiten / 592 Seiten. je 52,- Euro.
Suhrkamp Verlag. 608 Seiten / 592 Seiten. je 52,- Euro.

Mit den Späten Romanen und Sämtlichen Erzählungen wird der Suhrkamp-Verlag die Werkausgabe des uruguayischen Nationalautoren Juan Carlos Onetti im Herbst abschließen. Onetti, der neben Jorge Luis Borges und Adolfo Bioy Casares zu den bedeutendsten südamerikanischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gehört, hat neben seinen insgesamt zwölf Romanen immer auch Erzählungen geschrieben. Bislang sind nur eine Handvoll davon ins Deutsche übertragen worden. Der die Werkausgabe abschließende Band 5 versammelt nun erstmals Sämtliche Erzählungen in deutscher Übersetzung (Aus dem Spanischen von Svenja Becker, Anneliese Botond, Jürgen Dormagen, Wilhelm Muster, Gerhard Pobbenberg und René Strien), aus denen die an William Faulkners Literatur geschulte »atmosphärische Präsenz« hervorsteige. »Mit wenigen Strichen eine Gestalt in ihrer widersprüchlichen persönlichen Wahrheit hervortreten zu lassen, die Konstellation zweier Menschen wie eingeätzt zu umreißen, herausgelöst aus allen vorgegebenen Mustern«. Thematisch sind die Erzählungen der dunklen Seite der menschlichen Existenz abgewonnen, selbst dann, wenn es um Liebe und Sexualität geht. Die Erzählungen erscheinen zeitgleich mit den späten Romanen Der Tod und das Mädchen, Lassen wir den Wind sprechen, Wenn damals und Wenn es nicht mehr wichtig ist, die den 1994 verstorbenen Autor noch einmal in seiner ganzen Kompromisslosigkeit sichtbar machen. Sie werfen den Leser noch einmal mitten hinein in Onettis halbfiktives Südamerika, das im 20. Jahrhundert einen langsamen Tango mit dem Tod aufführt. Vom »kleinen Meisterwerk der Weltliteratur«, das mit der Intensität einer Kammermusik eine rätselhaft unergründliche Geschichte erzählt, bis zum lakonischen Bogenschlag zum Erstlingsroman Der Schacht, der als erster moderner Roman Südamerikas gilt, versammelt Band 4 das reife Spätwerk Onettis, das im Gegensatz zu vielen anderen Alterswerken nicht in Eintönigkeit ertrinkt, sondern vielstimmig von den Träumen und Tragödien Südamerikas erzählt.


Insel Verlag. 580 Seiten. 26,95 Euro.
Insel Verlag. 580 Seiten. 26,95 Euro.

Ob als Ergänzung zu Bulwer-Lyttons Porträt des viktorianischen Englands oder als Urzeugnis des literarischen Feminismus und Teils der Aufklärung – Charlotte Brontës Lebensgeschichte der Jane Eyre ist und bleibt Weltliteratur. Diese mutmaßlich fiktive Autobiografie nimmt die Leser mit auf eine Reise durch eine düstere Welt, die so fremd und vertraut zugleich ist, dass man sich ihr nicht entziehen kann. Zugleich bekommt man mit eines der aufrüttelndsten Porträts der englischen Literatur zu lesen. Nach einer Kindheit im Waisenhaus tritt Jane Eyre eine Stelle als Gouvernante auf dem entlegenen Landsitz Thornfield Hall an – und verliebt sich unsterblich in den Hausherrn, den düsteren und verschlossenen Edward Rochester. Er erwidert ihre Gefühle, doch er ist verheiratet, und Jane weigert sich, ein Leben als Mätresse zu führen. Erst nach dem dramatischen Tod seiner Frau finden die beiden zusammen. Melanie Walz, die unter anderem Werke von Lily Brett, Virginia Woolf, Salman Rushdie, Lawrence Norfolk und Michael Ondaatje ins Deutsche übertragen und gerade mit dem Übersetzerpreis der Stadt München für ihr übersetzerisches Schaffen ausgezeichnet wurde, hat Charlotte Brontës aufregenden Debütroman erstmals vollständig neu übersetzt. Sie »erweckt diesen Klassiker der viktorianischen Literatur zu neuem Leben und präsentiert ihn in einer frischen und modernen Sprache«, heißt es in der Ankündigung ihres Verlags. Der wird darüber hinaus im Februar 2016 die ungekürzte Fassung des auf Jane Eyre folgenden Romans Shirley im Taschenbuchformat veröffentlichen, in dem Brontë vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Depression Englands zwei Frauen ihr Schicksal am Schopfe packen lässt. 


Rowohlt Verlag. 464 Seiten. 19,95 Euro. / DVA Verlag. 320 Seiten. 19,99 Euro.
Rowohlt Verlag. 464 Seiten. 19,95 Euro. / DVA Verlag. 320 Seiten. 19,99 Euro.

»Die Sensation, die Medien, Fans und Buchhändler auf der ganzen Welt hyperventilieren lässt: Ein Manuskript ist aufgetaucht«, schrieb die Neue Züricher Zeitung Anfang 2015, nachdem ein bislang unbekanntes Romanmanuskript von Harper Lee aufgetaucht ist. Nun erscheint Gehe hin, und stelle einen Wächter, das Frühwerk der Kultautorin, in der Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann zeitgleich zur amerikanischen Ausgabe. Lee ist, das man darf sagen, bislang das in der Literaturgeschichte erfolgreichste One-Hit-Wonder ever, ihr 1960 erschienener und im Jahr darauf mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneter Kultroman Wer die Nachtigall stört… ist ein veritabler Klassiker der Weltliteratur (in dem sie ganz nebenbei noch das wohl gelungenste Porträt von ihrem Sandkastenkameraden Truman Capote geschrieben hat). Dieser erscheint zeitgleich zum Erstlingswerk in der von Nikolaus Stingl vollständig überarbeiteten Übersetzung von Claire Malignon. Harper Lee hat darin ein ergreifendes Sittengemälde ihrer Zeit verfasst, indem sie, ausgehend von den Verhältnissen im Süden der USA der 1930er Jahre, ein packendes Plädoyer gegen den sie umgebenden Rassismus und für die Gleichheit aller Menschen hält. Im Mittelpunkt stehen dabei die Geschwister Scout und Jem, die in der äußerlich idyllischen Welt des kleinen Örtchens Maycomb bei ihrem Vater, dem Rechtsanwalt Atticus Finch aufwachsen. Sie haben alles, was sie brauchen, doch mitten durch die bürgerlich-weiße Idylle beginnen sich tiefe Risse zu ziehen: zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Arm und Reich. Als ihr Vater das Mandat zur Vereidigung des schwarzen Landarbeiters Tom Robinson annimmt, der angeblich ein weißes Mädchen vergewaltigt haben soll, erfährt die achtjährige Scout, dass die Welt viel komplizierter ist, als sie angenommen hat. Der Einsatz ihres Vaters für einen Schwarzen führt dazu, dass sie selbst in Gefahr gerät und nur dank des engagierten Eingreifens des menschenscheuen Nachbarn Arthur Radley der Wut des Vaters des Opfers entkommt. Aus dieser Szene speist sich auch der Titel des Romans. In dem zuvor entstandenen aber nie veröffentlichten Roman kehrt Jean Louise Finch alias Scout als junge Frau aus New York zurück nach Alabama, um dort ihren in die jahre gekommenen Vater bei der Arbeit zu unterstützen. Im Spezial zum Mitte Juli erscheinenden Roman wird erklärt, warum Gehe hin, und stelle einen Wächter damals nicht veröffentlicht wurde. Der Roman war ihren Agenten schlichtweg zu gegenwartsnah, »denn 1957, zum Zeitpunkt der Manuskriptabgabe, kämpfte der Kongress gerade mit dem Bürgerrechtsgesetz, das Präsident Dwight D. Eisenhower im Herbst unterzeichnen würde; der Busboykott im nahen Montgomery lag erst ein Jahr zurück. Man schlug vor, die Handlung in die Zeit von Scouts Kindheit in den 1930ern zurückzuversetzen.« Zwei Jahre später dann gab Harper Lee das Manuskript für To kill a Mockingbird ab, im Jahr darauf erschien der Roman, ein Jahr darauf erhielt sie den Pulitzerpreis und ein weiteres Jahr später erscheint Wer die Nachtigall stört… in Deutschland. Nun kann man beide Romane nebeneinanderlegen, Parallelen und Unterschiede suchen, und sich doppelt davontragen lassen in diese ferne und – angesichts des beschämenden Rechtsrucks in diesem Land – doch so nahe Welt.


Verlag Kein & Aber. 250 Seiten. 23,- Euro.

Es ist geradezu ein Treppenwitz der Literaturgeschichte, dass im selben Jahr, in dem der verschollene Erstling von Harper Lee auftaucht, auch eine der frühesten Erzählungen ihres Kindheitsfreundes Truman Capote entdeckt wird. Es würde nicht wundern, wenn beide Werke auf derselben Schreibmaschine, nämlich der von Harper Lees Vater, geschrieben worden sind. Schon in früher Kindheit verbachten beide ihre Zeit gemeinsam und übten sich im Handwerk des Schreibens. Capote soll sich, seit er elf Jahre alt war, fast täglich an die Schreibmaschine gesetzt haben. Wie ernsthaft er damals schon geschrieben hat, weiß niemand so genau, aber zu seinem Romanfragment Erhörte Gebete fehlen bis heute einige Kapitel. Die Gerüchte, dass diese in einem Schließfach liegen sollen, ebbten nie ab, so dass sich die Journalistin Anuschka Roshani und ihr Mann, Kein & Aber-Verleger Peter Haag, nach dem Abschluss der Gesamtausgabe noch einmal nach New York begaben, um die verschollenen Teile des Romans aus der Feder des enfant terrible der amerikanischen High Society zu suchen. Ihre Schnipseljagd, die sie im Zeitmagazin gegenüber Christine Meffert offenlegten, sollte von Erfolg gekrönt sein, sie fanden die frühen Short Stories Capotes, in denen er sich sein eigenes fantasievolles Universum schuf. Die von Ulrich Blumenbach übersetzten Erzählungen sind in dem Band Wo die Welt anfängt versammelt, der sich nahtlos in die Werkausgabe einfügt. In den Geschichten schlüpft der damals noch zur Schule gehende Capote kühn in den Kopf des schwarzen Eugene, der seine Angebetete Rosabelle in eine »Samstagnacht« ausführt, er verarbeitet in einer betörenden Souveränität den Tod der alten, geheimnisvollen »Miss Belle Rankin« aus der Nachbarschaft oder er lässt die Mutprobe dreier Jugendlicher in einem unter die Haut gehenden »Grauen im Sumpf« enden (alle drei Geschichten waren im Herbst 2014 im Zeit-Magazin zu lesen). »Durch ihre lebendigen Figuren, eindringlichen Bilder und ihre schnörkellos-glänzende Sprache ist all den Geschichten eine erzählerische Kraft gemein, die man auch vom älteren Truman Capote kennt«, heißt es in der Verlagsankündigung zur Übertragung durch einen der angesehensten Übersetzer Deutschlands.


Matthes & Seitz Berlin. 300 Seiten. 26,90 Euro.
Matthes & Seitz Berlin. 300 Seiten. 26,90 Euro.

Henry David Thoreau wird seit einigen Jahren international wiederentdeckt. Vor wenigen Wochen erst erschien das Dokument seines Experiments auf der Suche nach dem Ich Walden oder Leben in den Wäldern in der Übersetzung von Emma Emmerich und Tatjana Fischer im Schweizer Diogenes-Verlag. Neben dieser Rückkehr zur Natur lehrt uns Thoreau bis heute, die Frage nach dem Sozialen immer wieder neu zu stellen. Sein Essay Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat gehört zur Pflichtlektüre jedes Politik- oder Soziologiestudenten. Das Hauptwerk des amerikanischen Naturmystikers sei aber weder Walden noch der genannte Essay zum zivilen Ungehorsam, sondern das Tagebuch, das er als 20-jähriger begann und bis wenige Tage vor seinem Tod 1861 führte, schreibt Matthes & Seitz Berlin in der Ankündigung des ersten von insgesamt zwölf Tagebuchbänden. »Darin notierte er Beobachtungen, die zu den bedeutendsten Naturschilderungen der Weltliteratur zählen, aber auch Gedanken und Reflexionen, die ihn als ganz eigenständigen philosophischen Kopf erkennen lassen. … Stille, Unabhängigkeit, Antimaterialismus, Armut, Antiprüderie, Askese, Selbstdisziplin und mystische Suche sind neben überwältigend präzisen und gleichzeitig poetischen Beschreibungen des Lebens, der Natur, der großen und kleinen Lebewesen die bestimmenden Themen dieses Werks.« Thoreaus Tagebuchwerk hat in Amerika ganze Generationen von Künstlern und Schriftstellern beeinflusst. John Cage etwa wird zitiert mit den Worten »Bei der Lektüre der Tagebücher Thoreaus komm mir jede wertvolle Idee, die ich je hatte« und Virginia Woolf soll gesagt haben, dass er Eichhörnchen dazu überreden konnte, in seinen Mantel zu kriechen. »Durch seine Tagebücher bekommen wir die Möglichkeit, Thoreau so kennenzulernen, wie man nur wenige Menschen kennenlernt, wohl noch nichtmal seine engsten Freunde.« Mit der Gesamtausgabe wird erstmals das komplette Tagebuchwerk, das sich über 24 Jahre erstreckt, herausgegeben, die Übersetzung erfolgt durch den Paul-Celan-Preisträger Rainer G. Schmidt.

Hier finden Sie gewichtige Übersetzungen von Gegenwartsautorinnen und -autoren aus den Herbstprogrammen sowie die Sumoringer unter den Sachbüchern.

5 Kommentare

Kommentare sind geschlossen.